Dienstag, 8. März 2016

Manchmal fühlt man sich wie 20 (und manchmal wie 80)



Es gibt Tage, da fühlt man sich jung und dynamisch. Da spürt man schon beim Aufwachen Kraft und Energie, da tanzt man zur Kaffeemaschine, wo man mit ungeheurem Schwung ein Pad einwirft und dann ins Bad, wo man versucht ist, mit den Seifen zu jonglieren. An Tagen wie diesen fühlt man sich wie 20 und man möchte das Fenster aufreissen und «Credo! Credo!» hinaussingen, überlegt ignorierend, dass man ja, wäre man wirklich keine 30, diese Deo-Reklame aus den 80ern gar nicht kennen könnte. An solchen Tagen möchte man Bäume ausreissen und mit dem Wolf oder Bär steppen, da hat man Lust ein Bild zu malen oder Usbekisch zu lernen, da will man die Welt und die Wale retten, da kommt man auf die wildesten Ideen: Eine Hula-Hoop-Schule gründen, einen Film über das Leben von Leonhard Euler drehen (Arbeitstitel Lost in Addition) oder 2067 Senf-Muffins backen und an Passanten verschenken. An solchen Morgen zieht man sich hip und stylisch an, man verschmäht den Mantel und stürmt mit Basecap und Kapuzenshirt – und NIKE®-Sneaker, natürlich – aus dem Haus, wo die verschreckten Fussgänger nur auf die Seite hüpfen können: «Hoppla, jetzt komm ich! Alle Türen auf, alle Fenster auf und die Strasse frei für mich!» (Auch wieder ignorierend, dass ein Twen diesen Hans Albers-Hit nicht mehr kennen kann.)
An Tagen wie diesen sind dann auch die Reaktionen der Mitmenschen entsprechend: Da bekommt man Komplimente für seine hyperschicke Brille und im Museum Studentenrabatt, da glaubt einem keiner sein Alter und am Görlitzer Bahnhof quatschen einen die jungen farbigen Dealer an, ob man Gras haben möchte. Es kann sogar passieren, dass man im Tram für eine ältere Dame aufstehen muss, aber das nimmt man in Kauf. An solchen Tagen liegt das Leben weit vor einem, und es ist einem völlig schleierhaft, was man in 15 Jahren sein wird. (Rentner, aber diese Antwort ignoriert man.)

Und dann gibt es Tage, da ist es genau umgekehrt: Da wacht man auf und fühlt sich wie 95, da schlurft man in die Küche und löffelt mit zitternder Hand Instantkaffee in eine Tasse, weil man sich der Pad-Maschine geistig nicht gewachsen fühlt, da lässt man das Waschen sein, weil das Wasser zu kalt ist und wählt sorgfältig eine graue Hose und einen braunen Pullunder aus dem Kleiderschrank. An solchen Tagen knacken die Beine und ächzen die Arme, da hätte man gerne einen Rollator, um die notwendigen Einkäufe (Herzpillen, Faltencreme und Klosterfrau Melissengeist) einigermassen in der Zeit zu schaffen. An Tagen wie diesen sieht man im Spiegel – wie Doris Dörrie so schön schreibt – schon den Totenkopf einem entgegengrinsen. An solchen Vormittagen lässt man die Bäume stehen und will weder Sprache lernen noch Firma gründen, an solchen Vormittagen sucht man im Branchenverzeichnis (Internet? Was ist das? Kann man das essen? Ist was für Junge…) nach Betreutem Wohnen und Geschäften, die Stützstrümpfe führen.
An solchen Tagen sind dann auch die Reaktionen der Mitmenschen entsprechend: Da wird einem im Tram sofort ein Platz angeboten, da fragt der Nachbarsjunge, ob er die Einkaufstaschen tragen soll und im Museum wird, ohne zu fragen, der Rentnerpreis verlangt. Da sagt die Frau an der Schwimmbadkasse, wenn man den Eintritt für seine 500m-Runde zahlt: «Wenn Sie zum AquaFit wollen, das hat schon angefangen.» An Tagen wie diesen liegt das Leben weit, weit hinter einem und es ist einem völlig schleierhaft, was man vor 15 Jahren war. (Jung, aber diese Antwort ignoriert man.)

Wenn man sich jung fühlt, behandeln die Leute einen als jung, finden die Sneakers cool und bieten einem Drogen an, wenn man sich alt fühlt, behandeln die Leute einen als Greis und wollen einen zur Wassergymnastik schicken. Könnte man letzteres als Teufelskreis bezeichnen, müsste ersteres wohl ein Engelkreis sein. Wie kommt man aber nun vom Teufels- in den Engelkreis?

Hier setzt nun die Werbung ein. Glaubt man ihr, liegt es nur an der Wahl der richtigen Produkte, ob man als Tattergreis oder als jugendlicher Held in den Tag startet. Erwachen Sie am Morgen müde und zerknautscht, haben Sie vielleicht in der falschen Bettwäsche geschlafen. Hätten Sie TSCHUBI®-Baumwollwäsche aus Tradition (250.- pro Garnitur) genommen, würden Sie wie eine afrikanische Rennschwalbe in den Tag segeln. Oder brauchen Sie ein neues Duschgel? Mit OLVIA® (in den Duftvarianten Minze, Limone und Mango) tanken Sie beim Brausen so viel Energie, dass Sie gar nicht wissen, wohin damit. Wenn Sie dann, aus TSCHUBI® gestiegen und mit OLVIA® geduscht, noch einen RUSTA®-Kaffee trinken, wachsen Ihnen förmlich Flügel. Oder brauchen Sie doch ein Tonikum, vielleicht SANOPROMPT® mit Ginseng und Rosmarin? Das verjüngt um 20 Jahre, sagt die Firma. Möglicherweise kann auch ein wenig Sport am Morgen helfen, aber nur in den richtigen Kleidern und in den richtigen Schuhen, auch hier gibt es genügend Marken, die Ihnen zur Seite stehen.

Natürlich ist das alles Quatsch. Der Mann, der in den 80ern in der Deodorant-Werbung das Fenster aufriss und «Credo-Credo» rausbrüllte (Ein Wunder, dass die Firma nie wegen Blasphemie drankam), also dieser Mann WAR jung, WAR dynamisch, WAR ausgeschlafen und frisch, genauso wie die CK-Models auch alle jung, fit, waschbrettbäuchig und durchtrainiert sind, genauso wie OLVIA®-Vorduscher, die RUSTA®-Trinker und die TSCHUBI®-Schläfer. Alle diese Figuren haben genau das Problem, sich jung und fit zu fühlen, nicht, denn sie sind jung und fit.

Was hilft nun?
Die Antwort ist so einfach wie kurz: Gar nix.
Man muss einfach akzeptieren, dass es solche und solche Tage gibt. Manchmal fühlt man sich jung und manchmal alt.
Und:
Sie können ja immer noch reagieren. Sie müssen den angebotenen Sitzplatz nicht nehmen, und Sie müssen nicht ins Aquafit. Umgekehrt müssen Sie die angebotenen Drogen auch nicht kaufen.



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