Dienstag, 30. März 2021

Variatio non delectat

 

Ein Zug, der jede Stunde um z.B. ..30 nach z.B. Zürich fährt, fährt am Bahnhof auch meist auf dem gleichen Gleis ab. Das ist für alle Seiten praktisch.
Der Intercity, der um ..58 vom Bahnhof Basel SBB nach Interlaken Ost fährt, verhält sich nicht so vernünftig: Er fährt um 5.58 von Gleis 8, um 6.58 von Gleis 7, um 7.58 von Gleis 6, um 8.58 von Gleis 7 und variiert dann den Rest des Tages diese Gleise durch. Zudem fährt der 5.58 am Wochenende von Gleis 12.
Da ich werktags um kurz vor 6 fahre, können mir alle Variationen eigentlich schnuppe sein – könnten! Denn seit Neuestem verändert sich auch der Ausgangsort dieses einen Kurses, während der letzten Wochen ist der IC 61 Basel – Interlaken Ost von den Gleisen 4, 5, 7, 8, 10, 11 und 12 gefahren und jeden Morgen muss ich einen wachen Blick zur Abfahrtstafel (also zu der flexiblen, nicht dem gelben Plakat) senden, um zu wissen, zu welchem Perron ich gehen muss.

Variatio delectat, sagt der Lateiner, Abwechslung erfreut. (Der Lateiner war wahrscheinlich Phaedrus) Variatio delectat, ich aber möchte den Lateiner (also wahrscheinlich Phaedrus) packen, schütteln, schlagen, raufen, beissen, treten und ihm ins Gesicht schreien:
VARIATIO NON DELECTAT!
VARIATIO NON DELECTAT!
Der Gleiswechsel eines Zuges ist ein Blödsinn, der mir keinerlei Lustgewinn bringt, aber viel Aufmerksamkeit erfordert. Punkt.

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Haus mit drei Stockwerken plus Keller und drei Treppen. Nun hat die Kellertreppe 17 cm Stufenhöhe, die Treppe zum ersten Stock 19 cm, die zum zweiten 21 cm und die zum Dachboden fünfzehn. Kostet sehr viel Mühe, um nicht ständig auf die Fresse zu fliegen. Wenn Sie sich aber nun noch vorstellen, dass diese Treppen ihre Stufenhöhen jeden Tag rotierend wechseln, dann ist eine Paraplegie fast vorprogrammiert.

Stellen Sie sich vor, Sie müssen Medikamente nehmen, SOLOPRAXIL® gegen Herzflimmern, GOLUPANTOL® gegen Kopfrasen und HUZAMASEL® gegen Aufstossen. Nun ist Medikamente sortieren ja so eine Sache, aber bei Ihnen ist das ganz blöde: Ihr Arzt schickt Ihnen jeden Sonntag einen Plan für die nächste Woche, bei dem keinen Tag die Medikation gleich ist, und natürlich ist keine Woche gleich.
So sieht es z. B. aus:
Montag: SOLOPRAXIL® keines, GOLUPANTOL® drei morgens, HUZAMASEL® eine abends
Dienstag: SOLOPRAXIL® zwei mittags, GOLUPANTOL® keines, HUZAMASEL® zwei mittags
Mittwoch: SOLOPRAXIL® eine morgens, GOLUPANTOL® zwei abends, HUZAMASEL® keine
und so weiter…
und so weiter…
Würden Sie da nicht komplett wahnsinnig werden?

Und erinnern Sie sich, wie wütend Sie werden, wenn Microsoft oder Apple irgendetwas ändern? Das ist dann super, wenn «Speichern» und «Nicht speichern» auf einmal den Platz wechseln – habe ich erlebt, ich konnte gerade noch verhindern, eine Datei (Arbeit 90 Minuten) in den Orkus zu schicken…

Natürlich gibt es Dinge, bei denen eine gewisse Abwechslung Spass macht.
Leugnet niemand.
Man sollte den Speise- oder Menüplan variieren lassen, niemand will jeden Tag Kartoffeln mit Käsesauce essen, nein, man will auch mal Reis oder Teigwaren, und man will auch mal Pesto oder Gemüsesauce.
Man reist gerne einmal in unbekannte Gegenden und in unbekannte Städte, läuft dort durch unbekannte Strassen und sieht unbekannte Gebäude.
Und man trägt ja auch nicht jahraus, jahrein die gleiche Hose und die gleiche Jacke.
Aber:
Hier bringt die Abwechslung einen Lustgewinn.
Und bei den obengenannten Beispielen bringt die Abwechslung nur Frust.
Also muss man manchmal dem Lateiner (also wahrscheinlich Phaedrus) ins Gesicht schreien:
VARIATIO NON DELECTAT!
VARIATIO NON DELECTAT!

Ein Zug, der jede Stunde um z.B. ..30 nach z.B. Zürich fährt, fährt am Bahnhof auch meist auf dem gleichen Gleis ab. Das ist für alle Seiten praktisch.
Der Intercity, der um ..58 vom Bahnhof Basel SBB nach Interlaken Ost fährt, verhält sich nicht so vernünftig.
Und das hat einen Grund, ich habe neulich eine Kontrolleurin gefragt.
Corona

Nein, Quatsch.

Im Bahnhof Basel wird gebaut. 







 

 

Freitag, 26. März 2021

Digital Natives können nicht mit dem PC umgehen

Ich schaue meinem Grossneffen Jason über die Schulter, der an einer Arbeit für die Schule sitzt. «Ich würde da noch eine Fussnote einfügen», sage ich. Er guckt mich an: «Aber dann muss ich ja alle Fussnoten danach neu machen», mault er. Ich starre ihn an: «Ja, hast du denn nicht…?» Von Erstaunen und Entsetzen gepackt schnappe ich mir den Laptop und mache eine kurze Bestandsaufnahme:
Jason hat als Fussnoten einfach (zahl) hinter ein Wort geschrieben und NICHT die automatischen Fussnoten von Word benutzt – so wie ich es in grauer Vorzeit gemacht habe.
Jason hat ein Inhaltsverzeichnis geschrieben, bei dem er die Seitenzahlen alle ändern müsste, wenn er noch was schreibt und NICHT das automatische von Word benutzt – so wie ich es in grauer Vorzeit gemacht habe.
Jason hat alle Bilder links im Text, und bei keinem Bild hat er die Grösse geändert, sodass jetzt winzige bunte Fleckchen und üppigste Riesenaufnahmen sich abwechseln.
Aber es kommt noch besser:
Jason hat bei einer Aufzählung mit zwei Spalten offensichtlich Leerschläge abgezählt und NICHT den Tabulator benutzt, sodass beim Ausdrucken das Zeug niemals übereinanderstehen wird.
«Jason», sage ich und lege ihm die Hand auf die Schulter, «du kommst am Wochenende zu mir, dann koch ich was Schönes, und dann zeige ich dir, wie man mit dem Computer umgeht: Automatische Fussnoten, Inhaltsverzeichnis, Bilder anpassen und einfügen und positionieren und mit dem Tab umgehen…»

Sie glauben mir die Geschichte nicht?
Gut, sie ist auch erfunden, erstens heisst mein Grossneffe nicht Jason und zweitens gibt es ihn gar nicht.
Aber die Geschichte könnte stimmen. Glauben Sie auch nicht? Sie denken, dass Jason als «Digital Native», als mit dem PC Aufgewachsener, als Kind des 21. Jahrhunderts, als Computergeborener alle diese Dinge doch wissen müsste und ich als «Digital Non-Native», als nicht mit dem PC Aufgewachsener, als Kind des 20. Jahrhunderts, als Computerungeborener eben diese Dinge nicht wissen kann. Stimmt aber so nicht. Gerade die Digital Native können vieles nicht, sie können zwar
chatten – gamen – chatten – YouTube gucken – noch mehr gamen – SMS senden – Foto machen – noch mehr gamen…
aber all das ist mehr Konsum als die Herstellung einer richtigen Sache.

Wenn ich aber nun ganz ehrlich mit mir bin, ist das gar nicht so ungewöhnlich, gar nicht so seltsam. Auch für mich gibt es Dinge, die es zu meiner Zeit schon gab, die ich aber auch nicht wirklich verstehe.
Nehmen wir nur das Auto:
Das Automobil wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfunden und in meiner Jugendzeit gab es in Stuttgart schon eine Menge Autos, das heisst ich bin – im Gegensatz zu früheren Generationen – ein «Car Native». Aber was weiss ich vom PKW und was kann ich? Nicht viel. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ein Auto funktioniert, ich kenne zwar Begriffe wie Vergaser, Kurbelwelle, Getriebe und Scheibenbremse, aber ich habe keine Ahnung, was Vergaser, Kurbelwelle, Getriebe und Scheibenbremse machen und ich könnte niemals Vergaser, Kurbelwelle, Getriebe und Scheibenbremse reparieren. Ich kann auch nicht einparken, weder vorwärts noch rückwärts, und wenn Sie sich jetzt fragen, wie ich meine Fahrprüfung geschafft habe, dann muss ich erzählen, wie das war: Ich konnte an einem einzigen Tag einparken, vorwärts und rückwärts, und dieser Tag war der 25. März 1991, und dieses Datum steht auf meinem Führerschein, es war der Tag meiner Prüfung. (vor fast genau 30 Jahren)
Ich weiss und kann also wenig rundum das Auto, obwohl ich ein «Car Native» bin.

Aber gehen wir mal zu Ihnen: Wissen Sie, wie eine Batterie funktioniert? Und wie eine Klospülung? Und wissen Sie, wie ein Reissverschluss arbeitet? Gut, dann versuchen Sie mal das zu erklären. Schriftlich. Sie werden scheitern, garantiert. Darauf weist Rolf Dobelli in seiner Kunst des guten Lebens hin.
Sie könnten nicht wirklich erklären, wie diese Sachen aufgebaut sind, und das obwohl Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit Battery-Natives, Skip-Natives und WC-Natives sind. (Sehr alte Menschen könnten noch aus Zeiten und vor allem Gegenden mit Schnürung, Abtritt und stromlos kommen, aber das werden die wenigsten sein.)

Ich schaue meinem Grossneffen Jason über die Schulter, der an einer Arbeit für die Schule sitzt. «Ich würde da noch eine Fussnote einfügen», sage ich. Er guckt mich an: «Aber dann muss ich ja alle Fussnoten danach neu machen», mault er. Ich starre ihn an: «Ja, hast du denn nicht…?»
Seien wir ein wenig milde mit ihm, auch wir haben viele Dinge, die wir seit 50 Jahren kennen, aber wir wissen nicht, wie sie funktionieren.

Und wenn wir sie benutzen, dann nie mit allen Möglichkeiten, die sie uns bieten.





Dienstag, 23. März 2021

Der Schuss ging nach hinten los

Ich habe im Oktober über die Bettler am Bahnhof geschrieben. Damals schrieb ich:

Was mir so wichtig ist: Ich möchte selbst entscheiden können, wem ich etwas gebe und wem nicht. Ich möchte nicht, dass der Staat eingreift, ich möchte kein Verbot, ich bin selbst mündig und habe ein wenig Verstand. Ich möchte, dass Jimmy – und die vielen anderen, die höflich und nett sind – sein Geld bekommt und nehme deshalb die Berufsbettler in Kauf. Wenn niemand diesen Horden Knete gibt, dann werden sie sicher irgendwann verschwinden.

Wenn ich mir nun die Situation anschaue, muss ich mir eingestehen, dass ich mich gründlich getäuscht habe. Basel ist überschwemmt von ca. 500 osteuropäischen Bettlern, sie sitzen vor jedem Supermarkt und jedem Shop, an jeder Strassenecke und jeder Kreuzung. Und dafür sind die einheimischen Bettler verschwunden.
Man hat kein Bettelverbot, um den einheimischen Bettlern nicht zu schaden, und jetzt haben die Bettler, die man angezogen hat, die Basler Bettler vertrieben.
Der Schuss ging nach hinten los.

Schuss nach hinten, so sagt man doch, gell?
Der Schuss, der nach hinten losgeht.
Es ist sehr interessant, dass so viele unserer Redensarten von der Jagd und vom Militär kommen. Ich habe darüber sogar mal einen Post geschrieben («Die ganze Schiesserei» vom September 2014), indem ich alles sprachliche Geballere und Geknallere angehäuft habe. Witzigerweise kam dort aber gerade der Schuss, der nach hinten losgeht, nicht vor.
Wenn man nun aber wirklich an die Jagd oder das Militär denkt, dann sieht man, wie unangenehm das ist: Früher konnte mangels wirklich guter Technik nämlich wirklich ein Schuss aus einer Kanone oder einem Gewehr nach hinten losgehen.

In einem meiner Lieblingsfilme, der Tennessee Williams-Adaption Blue Jasmin von Woody Allen (mit der von mir angebeteten, vergötterten und in den Himmel gehobenen Cate Blanchett) gibt es eines der schönsten Beispiele:
In Rückblenden, Selbstgesprächen und Tagträumen erfährt man nach und nach Jasmines Vorgeschichte. Sie führte offenbar ein unbeschwertes Luxusleben. Ihr gutaussehender Ehemann Hal hatte mit zweifelhaften Geschäften viel Geld verdient und Jasmine lebte in den Tag hinein…Später fand sie heraus, dass Hal sie jahrelang mit anderen Frauen betrogen hatte. Hal wurde wegen seiner illegalen Geschäfte verhaftet und beging im Gefängnis Selbstmord…erfährt man, dass sie selbst dem FBI telefonisch den entscheidenden Tipp gegeben hatte, als Hal sie wegen einer anderen Frau verlassen wollte. Demzufolge war ihr die Rechtswidrigkeit seiner Geschäfte durchaus bewusst.
(so Wikipedia)
Die Aktion, die ihn strafen sollte, strafte sie selbst am meisten: Er war zwar im Gefängnis, aber ihr Geld und ihr Luxus war futsch.

Aber wir müssen gar nicht in die Fiktion, in die Literatur oder das Kino gehen, wir müssen uns nicht mit Theaterstücken oder Romanen beschäftigen, die Geschichte und die Politik liefern uns so schöne Nachhintenschüsse, die uns die Fiktion, die Literatur oder das Kino, Theaterstücke oder Romane niemals liefern können.

Einer der ganz schönen Nachhintenschüsse war die UDSSR, die Sowjetunion für die Deutschen. Wer immer über die «Russen», die «Sowjets» oder die «Iwans» klagte, musste daran erinnert werden, dass dieser Staat nur mit deutscher Hilfe zustande kam: Die Deutschen liessen Lenin im plombierten Wagen durch das Deutsche Reich fahren, in der Hoffnung, ein durch Revolution geschwächtes Russland würde den Deutschen weniger Schwierigkeiten machen, was zunächst auch der Fall war. Aber nur zunächst! Nur zunächst!
Ein Schuss, der nach hinten losging.

Wunderbare Nachhintenschüsse haben aber auch immer wieder die Amis geliefert. Da stört einen der Machthaber XY in irgendeinem Land, und weil man XY loswerden will, hilft man irgendwelchen Rebellen, Rebellen, die nur ein Ziel haben: XY abzusetzen – so denkt man! In Wirklichkeit haben diese Rebellen natürlich noch ganz andere Ziele, Ziele die die Amis regelmässig übersehen. Und dann ist auf einmal mit USA-Hilfe ein islamistischer Staat entstanden, ein Staat, der den USA die grösste mühe bereitet.
Der Schuss ging nach hinten los.

Und dann sind da noch die vielen, vielen, vielen Politiker, die ständig vor der Frage stehen:
Wenn ich meinen Parteikollegen, meine Parteikollegin verpfeife, anzeige, anschwärze, begreift der Wähler dann, dass eben diese oder dieser ein böser Mensch ist, oder wird das Fehlverhalten auf die ganze Partei übertragen. Das wäre ein böser Nachhintenschuss, denn dann schade ich meiner politischen Laufbahn natürlich ungeheuer, weil die Leute mich dann ja nicht wählen, weil ja ALLE in meiner Partei Dreck am Stecken haben müssen.
Viele Schüsse, die nach hinten gehen.

Und vielleicht wird man auch einst viele der Coronamassnahmen als solche Schüsse beurteilen. Denn Isolation und Depression schwächen das Immunsystem…



Freitag, 19. März 2021

Wiederholungen in den Posts

Ich habe entdeckt, dass ich über die deutsche Gebietsreform schon geschrieben habe. Ja, ich habe sogar den wunderbaren Ort Thaleischweiler-Fröschen schon einmal erwähnt. Dass bei 10 Jahren Bloggen (werden es im September) und über 900 Posts es Wiederholungen gibt, dass ich Sachen schon erwähnt, beschrieben, dass ich sie behandelt und über sie gehandelt habe, das ist sicher normal. Aber ist es normal, dass ich nicht mehr weiss, dass ich Sachen schon erwähnt, beschrieben, dass ich sie behandelt und über sie gehandelt habe? Das müsste hier die Frage sein.

Mein Erzengel las mir neulich Passagen aus Posts von mir vor. Einfach zufällig ausgewählt. Fazit war:
Ich hatte (meist) keine Ahnung, dass diese Texte von mir waren.
Ich hatte (meist) keine Ahnung, in welches Thema die Sätze gehörten.
Ich hatte (meist) keine Ahnung, in welchem Post die Passagen steckten.
Normal?

Ich bin jetzt 56 Jahre alt, also noch kein Alter, in dem man zu vergreisen beginnt und senil wird. Mein Kopf funktioniert eigentlich noch ganz gut und mein Hirn ist OK, ich weiss noch die europäischen Hauptstädte und was «entdecken» aus Englisch heisst, ich weiss, wann meine Freunde Geburtstag haben und wie man Omelette macht, warum habe ich bestimmte Stellen aus meinen Posts vergessen? Aus meinen eigenen Texten? Warum habe ich sogar vergessen, dass ich diese Texte geschrieben habe?

Es gibt nur zwei Möglichkeiten:
Es ist nicht normal.
Dann stimmt mit mir irgendwas nicht, ich bin gaga und verrückt, ich bin irgendwie neben der Spur, auf dem falschen Gleis, irgendwas ist mit mir nicht in Ordnung.
Oder:
Es ist normal.
Dann aber müsste die ganze Kulturgeschichte neu geschrieben werden.

Immer wieder lesen wir, dass ein Maler ein Motiv bewusst aus einer neuen Perspektive neu malt, dass ein Literat ein Thema wieder aufgreift, oder dass ein Komponist z. B. eine Liedmelodie sinfonisch verarbeitet oder zur Grundlage eines Variationensatzes macht. Was aber, wenn dem nicht so ist, wenn diese Künstler so tickten wie ich, wenn sie schlicht und einfach VERGESSEN hatten, dass sie etwas schon gemacht hatten?

Kann es nicht sein, dass Alfons Schindler (1796–1856), der 1815 «Baum im Morgenlicht» in Öl malt und 1835 den gleichen Baum als «Baum im Abendrot», hier nicht ein Motiv bewusst wiederaufnimmt, sondern jenen Baum nicht in seinem Hirn gespeichert hatte und ihn 1835 wie neu entdeckt und auch beim Malen nicht merkt, dass dieser Baum ihm bekannt vorkommen müsste?

Kann es nicht sein, dass die Lyrikerin Emma von Schöning (1907–1986), bei der man sowohl den Schmetterling als auch die Mohrrübe als immer wieder erscheinendes Motto zu erkennen glaubt, einfach vergessen hatte, dass der Schmetterling im «Abend» auch schon in «Verpflichtung» und «Weisser Grund» und dass die Mohrrübe in «Vernichtung» auch schon in «Salat» und «Peinlicher Vorfall» erschienen war?

Kann es nicht sein, dass Gustav Blumberg (1799–1845) in seinem 2. Streichquartett nicht bewusst die Melodie seines Liedes «Ich tanzte schön im Sommer» in 12 Variationen variiert, sondern dass er dachte, hier eine völlig neue Weise komponiert zu haben?

Wie aber käme es zu solchen Gedächtnislücken?
Die Antwort ist einfach: Wein. Schnaps. Bier. Absinth. Alkohol und Drogen jeder Art. Da viele der Grossen der Kunst auch grosse Säufer und Drogenkonsumenten waren, sind hier wahrscheinlich die entsprechenden Hirnzellen einfach verschwunden.
Von Franz Schubert, der ja viele Lieder mit über 2 Promille im Blut komponierte, gibt es eine nette Anekdote: Er hatte ein solches 2 Promille-Lied einem Freund mitgegeben, der es ihm zwei Wochen später vorsang. Schubert meinte: «Das Lied ist nit uneben, von wem is das?»
Vielleicht müsste hier auch das Forellen-Quintett umbenannt werden, eventuell greift der Meister hier gar nicht das Lied auf, sondern dachte, es sei eine neue Melodie…

Mein Erzengel las mir neulich Passagen aus Posts von mir vor. Einfach zufällig ausgewählt. Fazit war:
Ich hatte (meist) keine Ahnung, dass diese Texte von mir waren.
Ich hatte (meist) keine Ahnung, in welches Thema die Sätze gehörten.
Ich hatte (meist) keine Ahnung, in welchem Post die Passagen steckten.

Ich werde keinen Alkohol mehr trinken.





Dienstag, 16. März 2021

Gastroskopie

 „Gastroskopie“, sagt die beste Hausärztin von allen, als ich wegen eines üblen Refluxes bei ihr vorspreche, „Gastroskopie, das machen Sie bei Herrn Dr. Lamen, dann wissen wir mehr.“ Das sagt die beste Hausärztin von allen und lächelt mich an. Ich aber starre, japse und stammele: „Gastroskopie?“ Aber die beste Hausärztin von allen lächelt weiter.

Eine Gastroskopie, da habe ich bisher nur schreckliche Dinge davon gehört, so den Schlauch in die Nase oder den Rachen gestopft, das macht weh, höllisch weh, dazu Panik, das Gefühl zu ersticken, zu sterben, von vielen Freunden habe ich das gehört, eine Freundin sagte sogar, dass sie lieber noch mal DREI Geburten mitmachen würde wie EINE Magenspiegelung.

Aber die beste Hausärztin von allen lächelt weiter: „Das macht heute so, dass Sie schlafen, man versetzt Sie ins Reich der Träume, legt Sie Morpheus in die Arme und wenn Sie aus dem Reich der Träume wieder zurück sind und Morpheus´ Arme verlassen haben, dann sind Sie wunderbar ausgeruht und Dr. Lamen hat seinen Befund…

Beim weiteren Reden kommen wir darauf, warum das früher nicht möglich war, warum generell so viele Behandlungen schmerzhaft und eklig waren. Und damit meinten wir gar nicht nur die Operationen, bei denen man nicht mehr aufschneidet, sondern irgendwo durch ein Löchlein in den Körper witscht und ein paar Stents legt oder ein wenig Blinddarm herausnimmt, sondern so simple Sachen wie Zahnarzt.

Zahnarzt.
Das Horror- und Schreckensbild meiner Jugend – ich habe neulich schon darüber geschrieben – denn vor 50 Jahren wurden alle Kariesbehandlungen grundsätzlich ohne Betäubung gemacht. Das Fragen nach einer Spritze, vor allem wenn es von einem Jungen kam, galt als verweichlicht, unmännlich, unehrenhaft, unindianerhaft und schwul. Und weil man ja nicht als verweichlicht, unmännlich, unehrenhaft, unindianerhaft und schwul gelten wollte, ertrug man die Schmerzen beim Bohren, auch wenn einem die Tränen die Wangen hinuntertropften und hinunterliefen, man war hart, männlich, ehrenhaft, indianerhaft und nicht-schwul.

Aber selbst beim Friseur, das erzähle ich der besten Hausärztin von allen, und während ich es erzähle, müssen die beste Hausärztin von allen und ich herzhaft lachen, selbst beim Friseur wartete das Grauen, denn man kannte noch nicht diese Krepppapierabdichtungen um den Hals, die abgeschnittenen Haare purzelten in den Halsausschnitt, blieben dort und juckten den ganzen Tag…

Warum war früher alles so schmerzhaft und kompliziert?
Ja, liebe Leserinnen und Leser, so war es nämlich. Früher war NICHT alles besser, wie Sie immer behaupten.
Sie sagen, früher war mehr Salz in der Wurst und mehr Milch in der Sahne.
Sie sagen, früher waren die Winter noch richtig kalt und die Sommer warm.
Sie sagen, früher…
Dabei können Sie das gar nicht belegen, für viele Angaben gibt es überhaupt keine Statistiken, und selbst wenn:
Vielleicht will man gar nicht so viel Salz in der Wurst und vielleicht vertragen die Knochen und Gelenke die kalten Winter gar nicht.
(„Früher war mehr Lametta“, sagt Opa Hoppenstedt bei Loriot und für mich ist das ein klarer Fortschritt, denn ich finde Lametta grässlich.)

Warum war früher alles so schmerzhaft und kompliziert?
Bei den Stents- und Blinddarmoperationen kann ich es verstehen, da war man technisch nicht so weit, man konnte nicht irgendwo durch ein Löchlein in den Körper, aber warum gab es keine Spritze beim Zahnarzt? Doch, die örtliche Betäubung gab es, beim Zähneziehen gab es sie, beim Kieferorthopäden gab es sie, bei den Weisheitszähnen gab es sie, nur nicht beim Bohren, da galt sie als unehrenhaft, unindianerhaft und schwul. Und, ganz ehrlich gesprochen, es gab in den 60er Jahren schon dehnbares Krepppapier, die 1000000000 Haare in meinem Nacken, kratzend und juckend, juckend und kratzend, waren unendlich unnötig.

Nein.
Ich glaube, der Schmerz und die Plage beim Arzt waren gewollt.
Denn:
Sie entlasteten das Gesundheitssystem.
Und deshalb sollten wir sie wieder einführen.
Früher war klar, wenn du zum Doktor gehst, wird es weh machen, wird es schmerzen, wird es sehr, sehr, sehr, sehr unangenehm sein.
Magenprobleme? Kannst gerne zum Gastroenterologen, aber es wird bös, so den Schlauch in die Nase oder den Rachen gestopft, das macht weh, höllisch weh, dazu Panik, das Gefühl zu ersticken, zu sterben.
Schmerzen in der Leistengegend? Kannst gerne kommen, aber wir schneiden dich auf, lange OP, grosse Narbe und du wirst lange im Spital und in der Reha verweilen.
Und dann ging man eben nicht. Punkt. Deshalb: Führen wir doch dieses System wieder ein, die Krankenkassen werden es uns danken.

„Gastroskopie“, sagt die beste Hausärztin von allen, als ich wegen eines üblen Refluxes bei ihr vorspreche.
„Gastroskopie?“
Aber die beste Hausärztin von allen lächelt.



















Freitag, 12. März 2021

Die Orte mit den drei Namen

Ich habe im letzten Post über Hellschen-Heringsand-Unterschaar und Rehm-Flehde-Bargen geschrieben.
Ich bin auf diese Gemeinden gestossen, weil ich Orte mit lustigen Namen suchte, gerne diese Mehrfachnamen. Thaleischweiler-Fröschen kannte ich, denn eine Studienkollegin kam daher; und sie musste immer damit kämpfen, dass andere bei der Nennung ihrer Herkunft immer Lachkrämpfe bekamen: «Ich komme aus Thaleischweiler-Fröschen.» «Woher?» «Aus Thaleischweiler-Fröschen.» «Huuuuuuuuuuuuuuuuuaaaaaaaaaaaaaaaaa.» Wanne-Eickel kannte man stets. Und man kannte es noch besser, seitdem einst Frau Heidenreich ihre Kunstfigur Else Stratmann dort ansiedelte, denn die Else war ja Metzgersgattin aus Wanne-Eickel.
Und jetzt suchte ich im Internet noch ein bisschen nach Doppelnamenstädte, deren es in der BRD immerhin fast 400 gibt, und ich stiess auf…
Genau, auf Tripelnamenstädte, davon gibt es nämlich nur zwei: Hellschen-Heringsand-Unterschaar und Rehm-Flehde-Bargen.

Hellschen-Heringsand-Unterschaar und Rehm-Flehde-Bargen liegen in dem Bundesland, über das ich 2014 geschrieben habe, und zwar dort geschrieben habe, sie liegen in Schleswig-Holstein, und während ein paar Tage in Kiel habe ich dort über Deutschlands nördlichsten Teil gelästert. Ich habe Schlehol – wie ich es damals abkürzte – als Appenzell der BRD bezeichnet, weil alles so klein und putzig ist, ich habe als deutsche Basilikata bezeichnet, weil Schlehol das Armenhaus ist, ständig klamm, ständig pleite, ständig Ebbe und ständig ohne Geld, und ich nannte es das Panama Deutschlands, weil eine der wichtigsten Funktionen dieses Landes ist, durch es hindurchzufahren, nämlich durch den Nord-Ostsee-Kanal.
Nebenbei gesagt, ich habe in Kiel auch den einzigen Post verfasst, bei dessen Erstellung ich keine Kleider trug, um herauszufinden, ob man nackt anders schreibt, aber das ist eine andere Geschichte…

Was schreibt Wikipedia über Hellschen-Heringsand-Unterschaar und Rehm-Flehde-Bargen? Nun, wenn Hellschen-Heringsand-Unterschaar und Rehm-Flehde-Bargen Personen wären, dann wäre ihr Eintrag (Max Normalbürger, irgendwann geboren, Schulausbildung, Lehre, 30 Jahre als Verkäufer gearbeitet, seit zwei Jahren pensioniert, geschieden, eine Tochter, zurzeit Single…) schon längst gelöscht, denn hier wird kein Relevanzkriterium erfüllt. Aber, und das lerne ich jetzt und hier, scheinbar erfüllen Städte und Gemeinden, Orte und Dörfer immer das Relevanzkriterium, einfach weil es sie gibt…
Hellschen-Heringsand-Unterschaar und Rehm-Flehde-Bargen, beide im Kreis Dithmarschen, sind wohl mit die uninteressantesten Gemeinden, die der norddeutsche Raum zu bieten hat. Das einzige spannende sind die Namen, Hellschen-Heringsand-Unterschaar ist übrigens generell der längste aller deutschen Ortsnamen.
Von Hellschen-Heringsand-Unterschaar finde ich drei Bilder:
- Kohlernte
- Windräder prägen die Landschaft
- Gemüseanbau und Bauernhöfe
Von Rehm-Flehde-Bargen finde ich keine.
Hier ist die Welt zu Ende, hier sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht, hier ist tote Hose und – wie die Italiener sagen – das Haus des Teufels, hier ist wirklich Pampa.

Andererseits, und das ist merkwürdig, strahlt diese Gegend, wo die Welt fertig ist, sich die Tiere gute Nacht sagen, wo man im Kraut ist (so sagen die Schweizer), wo tote Hose ist und das Teufelshaus und die ewige Pampa, einen bittersüssen paradoxen Reiz aus. Stellt man sich vor, wie man dort stünde und in die Ferne und Weite sähe, unter einem wolkendurchzogenen weiten Himmel, dann will man dort sein, will die Luft schmecken und atmen, aber man weiss, dass wenn man diesen Sehnsuchtsort erreicht hätte, man sofort wieder wegwollte.
Man möchte im Herzen nach Hellschen-Heringsand-Unterschaar und Rehm-Flehde-Bargen ziehen und fahren, aber wenn man dort ist, was macht man da?

Es ist dieses Doppelnamen- und Tripelnamenzeug, das sei als Letztes noch erwähnt, übrigens eine BRD-Geschichte. Österreich und die Schweiz haben da viel weniger. Die meisten der fast 400 Namen sind Früchte der Gebietsreformen in den 70er Jahren. Diese Gebietsreformen waren wohl der grösste Schwachsinn, den die Bundesrepublik nach dem Krieg fabriziert hat. Bis heute verweigern sich viele Städte dem Gefühl einer Einheit. Bis heute sagt einer aus Villingen-Schwenningen «Ich bin Villinger» oder «Ich bin Schwenninger», er sagt niemals «Ich bin Villingen-Schwenninger», denn eine Konstruktion über die Europäische Wasserscheide hinweg, die eine schwäbische und evangelische und eine badische und katholische Stadt vereinen will, das geht einfach nicht.

Fahre ich jetzt mal nach Hellschen-Heringsand-Unterschaar und Rehm-Flehde-Bargen oder doch eher nicht?
Wohl eher nicht. Vielleicht nach Wanne-Eickel?
Das es übrigens gar nicht mehr gibt, schon Else Stratmann war eigentlich eine Bürgerin der Stadt Herne.
Die Gebietsreform eben.





 

 

 

Dienstag, 9. März 2021

Menschen (und Maschinen) sind Gewohnheitstiere

Peter hat im November mit dem Rauchen aufgehört. Da er zweieinhalb Päckchen pro Tag geraucht hatte, ergibt das eine relativ eine grosse Summe, die er spart; 20 Franken am Tag, 600 Franken im Monat, 7200 Franken im Jahr. Peter hat nun praktisch einen 14. Monatslohn. Dazu kommt, dass er zu den Corona-Gewinnern gehört, er hatte 2020 sein normales Gehalt, hatte aber keine Möglichkeit es auszugeben. Weder konnte er nach New York oder Shanghai reisen, noch konnte er seinen 30. Geburtstag mit einer grossen Fete feiern.
Also hat sich Peter einige grosse Projekte vorgenommen:
- Umgestaltung des Gartens
- Erwerb einiger Kunstwerke
- Neue Kaffeemaschine
- Neues Mountainbike
- Neugestaltung der Unterhosen-Schublade
Alle diese Projekte, die Peter mit Rauchstopp-Geld und Corona-Gewinn finanziert, haben irgendwie ein «statt» in der Bedeutung. So könnte man die Liste auch so schreiben:
- Rhododendron und Rosen statt nur Wiese
- Signierte Drucke statt Plakate
- Aroma-Vollautomat statt 1990-Modell
- Hightech-Karbon statt Drahtesel
- HOM® statt H&M®
Die Entsorgung der «Altlasten» ist dann eine spezielle Sache. Beim Garten gibt es keine, die (immerhin schön gerahmten) Plakate kommen in den Speicher, die alte Kaffeemaschine und das alte Rad kommen in den Sperrmüll. Und bei den Unterhosen?
Nun, HOM® statt H&M® – und ich kann wirklich nichts für das blöde Wortspiel – findet sukzessive statt, da Peter seine HennesundMauritzpants neulich noch gewaschen hat, liegen 30 HennesundMauritzpants in seiner Schublade, und er wird diese HennesundMauritzpants einzeln noch einmal tragen. Dann, dann, dann ja dann wird Peter diese Pants aber nicht in den Wäschekorb tun, sondern sie im Mülleimer entsorgen.

Und eben dieser Vorgang stellt Peter vor unendliche Mühe: Jeden Morgen kehrt er, wenn er eigentlich schon auf dem Weg zur Garage ist, zum Badezimmer zurück, er fischt die HennesundMauritzhose aus dem Wäschekorb und tut sie in den Mülleimer. Denn er handelt aus Gewohnheit.
Für die Zeit nach H&M® hat er sich nun ein Schild gebastelt:

KEINE HOM-UNTERHOSEN IN DEN MÜLLEIMER SCHMEISSEN! DIE WAREN TEUER!

Warum er so vorsorgt? Weil er natürlich Angst hat, dass er nach einem Monat Unterhosen-Entsorgen sich eben dieses Unterhosen-Entsorgen zur Gewohnheit gemacht hat, und nun die nigelnagelnegelnugelneuen HOM®-Pants einfach wegschmeisst.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

Wir alle kennen das. Jede und jeder kann hier Storys und Legenden, kann Geschichten und Mären, kann Anekdoten und Fabeln erzählen.
Hier kommt noch eine ganz, ganz schöne:
Als ich Kind war, hatten wir unseren Zahnarzt in Stuttgart-Zuffenhausen. In der Strassenbahn der Linie 15 in eben diesen Stadtteil schwiegen meine Mutter und ich. Wir schwiegen aus Angst und Bedenken, aus Furcht und Sorgen, denn Angst und Bedenken, Furcht und Sorgen waren berechtigt, immerhin bohrte der Dentist früher ohne örtliche Narkose.
Auf dem Heimweg dann allerdings ging es fröhlich zu, wir schwatzten und plauderten, alberten und lachten. Und wir schwatzten, alberten und lachten, weil wir noch einmal davongekommen waren, er hatte nicht gebohrt und es hatte keine Schmerzen gegeben, für ein Jahr war die Welt wieder in Ordnung.
Nun wechselten wir irgendwann den Zahnarzt und mussten nicht mehr nach Zuffenhausen, witzigerweise zogen aber Freunde meiner Eltern dorthin. Wenn ich jetzt mit meiner Mutter zu diesen Freunden fuhr, dann vollzogen wir in der Linie 15 das gleiche Ritual: Auf der Hinfahrt schwiegen wir bedrückt und auf der Heimfahrt schwatzten wir und plauderten, alberten und lachten. Und das, obwohl es überhaupt keinen Grund mehr gab, und uns diese Absurdität auch völlig klar war.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

Die verrückte Sache ist nun, dass auch Maschinen Gewohnheitstiere sind.
Warum schreibt mir booking.com ständig, ob ich an die Orte X, Y und Z möchte, nur weil ich oft an die Orte X, Y und Z fahre? Es wäre doch viel lustiger, wenn booking.com mir per Zufallsgenerator Vorschläge machen würde und Orte nennen, an die ich sonst nie kommen würde:
Rolf, warum nicht mal nach Thaleischweiler-Fröschen?
Rolf, warst du schon mal in Wanne-Eickel? Nein? Dann nichts wie hin…
Rolf, es gibt keinen Grund nach Hellschen-Heringsand-Unterschaar zu fahren, aber wir haben Angebote.
Rolf, auf nach Rehm-Flehde-Bargen…
Auch mein Word® müsste sich doch nicht ständig anpassen. Da es die rote Linie zeichnet, wenn es ein Wort nicht kennt, muss man ja nur ständig ein Wort falsch schreiben und irgendwann wird es Word® kennen. Hat man 40-mal «aufhöhren» geschrieben und schreibt es weitere 40-mal, dann erkennt es das Programm als richtig an…

Nein, die Maschinen könnten doch unsere Gewohnheiten durchbrechen und viel zufälliger, witziger und spontaner sein.
Das wäre eine schöne Sache.

P.S.
Die Ortsnamen gibt es alle wirklich.







Freitag, 5. März 2021

Wie war M. Voss?

Wie war M. Voss?
Guten Tag Rolf Herter,
Sie standen am 16. Feb. 2021 per Telefon mit M. Voss, einem Mitarbeiter unseres Kundenservices, in Kontakt. Wir würden uns sehr über Feedback zu Ihrer Erfahrung freuen.

Dies schreibt mir booking.com – eine Seite, die ich ja schon ein paar Male aufs Korn genommen habe – und dieser Passus ist jetzt wirklich echt. Hintergrund: Wir hatten eigentlich eine Reise nach Leukerbad geplant, und zwar aus dem einen Grund, weil das Hotel De France einem auch den Besuch in der Alpentherme ermöglichte – ich bin Schwimmer, you remember? Nun musste das Hotel De France uns wegen Überbuchung absagen, sie mussten ein Zimmer sperren, weil Gäste nach ihrem Aufenthalt positiv getestet worden waren und dann passt bei einem Hotel, das nur zu 30% belegen darf, natürlich nichts mehr. Ja, und dann schickt booking.com ein tolles Angebot: Statt Zimmer im De France eine Suite im Quellenhof, und das Ganze noch 100 Franken günstiger!!! Aber leider ohne Wasser, nicht einmal hoteleigene Wellness. Das ist so ein häufiges Missverständnis, wenn man «Besseres» anbietet, aber die Kriterien nicht kennt. Stellen Sie sich vor, Sie schicken jemand zu einer Auktion, um für 1500.-- einen Druck von Miró zu erwerben und derjenige kommt und sagt: «Es gab etwas viel Besseres für 1500.--, nämlich ein Ölbild, ein ganz grosses.» Der Ölschinken ist dann ein Machwerk eines örtlich bekannten Meisters des späten 19. Jahrhunderts…
Nun war also klar: Stornieren, wenn geht.

Wie war M. Voss?
Guten Tag Rolf Herter,
Sie standen am 16. Feb. 2021 per Telefon mit M. Voss, einem Mitarbeiter unseres Kundenservices, in Kontakt. Wir würden uns sehr über Feedback zu Ihrer Erfahrung freuen.

Herr Voss war sehr nett und kompetent, natürlich MÜSSE ich das Angebot nicht annehmen, schliesslich habe das Hotel gecancelt, wenn ich also nicht in den Quellenhof wolle, dann würde er sofort stornieren, und NATÜRLICH sei die Stornierung in diesem Falle kostenlos. Man muss also sagen, dass Herr Voss richtig und freundlich gehandelt hat, was aber in diesem Falle auch nicht schwer war, wenn er mir hätte mitteilen dürfen, ich müsse in den Quellenhof, Geld bekäme ich keines zurück, hätte das sicher zu einem handfesten Konflikt geführt…

Wie war M. Voss?
Guten Tag Rolf Herter,
Sie standen am 16. Feb. 2021 per Telefon mit M. Voss, einem Mitarbeiter unseres Kundenservices, in Kontakt. Wir würden uns sehr über Feedback zu Ihrer Erfahrung freuen.

Wie war XY?
Die Frage hat ja immer etwas Obszönes, Schmutziges. Die Frage stellen Männer nach dem Sex und wenn sie über jemand anders gefragt wird, dann hat das etwas Zuhälterhaftes. Wie war Lulu? Wie war Gigi? Wie war Babylon? Das Lustige ist, dass ich M. Voss durchaus attraktiv fand, also nicht ihn, sondern das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte.
Wir alle stellen uns ja immer ein Bild vor Augen, wenn wir telefonieren – und meistens ist dieses Bild total und völlig und absolut Quatsch. Als ich meine deutsche Steuerberaterin meine letzte Steuererklärung gemacht hatte und noch Unterlagen da waren, da schlug ich ihr vor, diese persönlich bei ihr abzuholen und endlich uns endlich einmal zu sehen; wir hatten bis dato nur telefoniert und gemailt und geschrieben und wussten nicht, wie der bzw. die andere aussieht. Und die Überraschung war gross: Frau Lupsane war nicht gross und blond, wie ich sie «gehört» hatte, sondern klein und schwarzhaarig. Und sie hatte mich 20 Zentimeter grösser und 20 Kilo schwerer «gehört».
M. Voss «hörte» ich schlank und muskulös und mit einem unglaublich erotischen Dreitagesbart. Und mit blauen Augen. Und kurz stelle ich mir vor, M. Voss und ich hätten wirklich… Aber das ist ja alles Quatsch.

Wie war M. Voss?
Guten Tag Rolf Herter,
Sie standen am 16. Feb. 2021 per Telefon mit M. Voss, einem Mitarbeiter unseres Kundenservices, in Kontakt. Wir würden uns sehr über Feedback zu Ihrer Erfahrung freuen.

Was heisst eigentlich M.? Matthias? Michael? Marco? Oder etwas Exotisches wie Milmao oder Mulidin? Mogryl oder Mjaso?
Egal.
Ich gehe jetzt doch ans Bewerten. Und da hat man natürlich keine Wörter mehr, sondern nur diese bescheuerten Emojis. Ich kann Kompetenz und die Freundlichkeit von Matthias, Michael, Marco oder Milmao, von Mulidin, Mogryl oder Mjaso mit
Mundwinkel tief nach unten – Mundwinkel halb nach unten – Mundwinkel in der Mitte – Mundwinkel halb nach oben – Mundwinkel weit nach oben beurteilen.
Er bekommt das Letztere.

Wie war M. Voss?
Guten Tag Rolf Herter,
Sie standen am 16. Feb. 2021 per Telefon mit M. Voss, einem Mitarbeiter unseres Kundenservices, in Kontakt. Wir würden uns sehr über Feedback zu Ihrer Erfahrung freuen.





 

 

 

Dienstag, 2. März 2021

Ich will immer alles - so sagt man

Ich wolle zu viel.
Sagt man mir.
Ich wolle zu viel, ich wolle immer alles, ich wolle immer a UND b UND c UND d, ich wolle stets den Batzen und die Wurst, den Foifer und `s Weggli, ich wolle – wie die Engländer sagen – the speaking horse, das sprechende Pferd.
Ich wolle zu viel. So sagt man mir.

Nun bin ich jemand, dem gerade solche Leute, die immer beides wollen, auf die Nerven gehen, dem solche Leute ein Gräuel sind, und nun soll ich selbst einer sein?
Ich habe immer betont, gesagt, und auch geschrieben, dass hochwertig UND billig nicht geht, dass man eben für ein gutes Stück Fleisch auch einen guten Preis zahlen muss und dass man für 499.— keine zwei Wochen Ferien bekommt und nun soll ich selber so ein Tönnifleischesser und Billigtürkeiflieger sein?
Also sage ich: Bringt mir Beispiele. Beispiele, wo ich alles will.

Also, sagt man mir, du meckerst ständig an den Zügen herum. Du willst von der SBB Züge mit funktionierender Heizung UND funktionierenden WCs (und zwar alle) UND funktionierenden Türen (und zwar alle) UND dann sollen diese Züge auch noch pünktlich sein…
Ebenso,
so sagt man mir:
Ich wolle im Restaurant Speisen, die korrekt gesalzen sind UND auch noch mit anderen leckeren Gewürzen versehen, die Speisen müssten heiss sein UND durchgegart UND auch noch schön arrangiert.
Ich wolle immer alles.
Schuhe müssten chic aussehen UND auch noch passen.
Hemden müssten chic aussehen UND auch noch passen.
Hosen müssten chic aussehen UND auch noch passen.
Und ganz schlimm sei es bei der Musik, da wolle ich richtige Töne UND richtiges Tempo UND auch noch Ausdruck und Begeisterung.
Und bei…

Stopp mal.
Rufe ich.
Stopp mal. Alles mal auf Anfang. Zurück auf los.
Reset. Delete. Neustart.

Hier werden doch, so sage ich dem – ja wem denn eigentlich, wenn «man» mir sagt. Kann man sagen: «Ich sage man, dass…»? Nein, wohl eher nicht, es muss wohl heissen: «den Leuten». Also, ich sage den Leuten, dass man das doch nicht vergleichen kann.
Ich meine, billiges Fleisch und gutes Fleisch, das ist ein Widerspruch, ein Paradoxon, eine Contradictio in Adjecto, genauso wie schöne und luxuriöse Ferien für einen Spottpreis ein Widerspruch, eine Contradictio in Adiecto, ein Blödsinn und eine Absurdität sind.
Aber bei der SBB?
Da ist es eben kein Widerspruch, kein Paradoxon. Türen, die nicht das Schild «TÜR DEFEKT» dran haben sind kein Gegensatz zur Pünktlichkeit und eine Heizung, die heizt, steht nicht im Widerspruch zu funktionierenden Klos.
Und beim Essen?
Genauso. Warmes Essen und nicht versalzenes Essen sind keine Contradictio in Adiecto.
Beim Zugfahren und beim Restaurant würde alles gehen.

Gut, sagt man mir.
Gut.
Es sei halt aber auch schwierig. Ein Zug, bei dem diese ganzen Dinge klappen, das sei halt schon sehr perfektionistisch, das klappt halt schon selten.
Ich entgegne:
Früher hat es mal geklappt. Hat es fast immer geklappt. Es ist MÖGLICH.

Ich wolle zu viel.
Sagt man mir.
Ich wolle zu viel, ich wolle immer alles, ich wolle immer a UND b UND c UND d, ich wolle stets den Batzen und die Wurst, den Foifer und `s Weggli, ich wolle – wie die Engländer sagen – the speaking horse, das sprechende Pferd.
Ich wolle zu viel. So sagt man mir.

Und ich bin stolz darauf.
Und ich bleibe dabei.

Er könne – und diese Story ist wirklich wahr – so sagte mir ein Organist, entweder auf mich und die Noten oder auf die Noten und die Tasten oder auf mich und die Tasten schauen, spiele also entweder nicht genau den Haydn oder treffe daneben oder sei nicht im Takt.
Alles ginge nicht.

Ich habe ihn sofort nach Hause geschickt.

Ich will eben alles.