Freitag, 30. Juni 2023

Finde deinen Fluss!


Bisher dachte ich, Spiritualität habe etwas mit Ruhe und Abgeschiedenheit zu tun.
Im Alten und Neuen Testament gehen die Protagonisten immer auf einen Berg – oder in die Wüste. Dort meditieren sie. Dort fasten sie. Dort empfangen sie Gesetzestafeln oder diskutieren mit dem Teufel. Dort erleben sie Spiritualität.
Aber auch in anderen Zusammenhängen und in anderen Religionen kennt man die Einsamkeit, die Eremitage, das Abgeschiedensein. Das Rauschen des Windes, das Murmeln eines Baches, der Gesang der Vögel dient doch dem spirituellen Erleben mehr als das Getöse der Stadt? Das Blätterdach und der weite Horizont mehr als Beton? Der Duft des Mooses und der Salzgeruch des Strandes fördert doch das Geistige und Geistliche mehr als Benzingeschmack?

Bisher dachte ich, Spiritualität habe etwas mit Ruhe und Abgeschiedenheit zu tun.
Weit gefehlt.
Ganz weit gefehlt.

Bisher dachte ich, Spirituelles Lernen habe etwas mit einzelnen Persönlichkeiten zu tun.
Im Glasperlenspiel wird das unglaublich schön geschildert, wie die Hauptfigur sich der Technik des I-Ging nähert: Josef Knecht reist zur Hütte des «Älteren Bruders», eines Meisters jener Kunst. Dort wird er zunächst gar nicht willkommen geheissen, aber er wird geduldet, und es braucht eine lange Zeit der Annäherung, bis der «Ältere Bruder» ihm Einblicke in die I-Ging-Technik gibt.
Dieses Schüler-Meister-Verhältnis ist typisch für die asiatische Philosophie und Spiritualität, trifft aber auch auf das normale «westliche» Lernen zu. So dachte ich immer, Spirituelles Lernen ginge nur in einer intensiven Beziehung.

Weit gefehlt.
Ganz weit gefehlt.
Äusserst weit gefehlt.

Bisher dachte ich, Spiritualität sei auch etwas für kleine Geldbeutel.
Was sind die Grundlagen? Der eigene Körper, gut, den haben wir umsonst, wir können ihn rund um die Uhr spüren – ohne Aufpreis. Atmen. Auch die Luft gibt es für null Geld (noch, muss man vielleicht sagen…) Natur. Die Vögel fliegen umsonst und der Bach rauscht umsonst und die Wolken ziehen auch durch den Himmel ohne Money dafür zu verlangen. Jesus bekommt keine Tantiemen mehr für seine Worte und die Mystiker auch nicht. Beten ist gratis und eine Yoga-Matte kriegt man bei der MANOR® für 19,99 – wenn man einfach eine normale Isomatte nimmt.

Bisher dachte, Spiritualität sei etwas für kleine Portemonnaies.
Gefehlt.
Stärkstens gefehlt.
Gefehlt bis zum Horizont.

Ein Basler Festival lehrt mich das Gegenteil:
Es ist das GRÖSSTE in Europa, von Ruhe und Abgeschiedenheit keine Spur, man hat die St. Jakobs-Halle gemietet, also einen Ort, an dem sonst zum Beispiel die Swiss-Indoors stattfinden, also Menge und Hektik pur.
Hier wird es auch nicht um die Begegnung von EINEM Schüler, EINER Schülerin mit EINEM Meister, EINER Meisterin gehen, Vierzig, nein ÜBER vierzig Nasen werden ihre spirituelle Kunde vor einer Riesenmenge anbieten.
Und die Kosten? Gut, die gehen bei der Katzentisch-Kategorie im Frühbuchermodus los, steigern sich aber zu dem Betrag, den man hinlegt, wenn man die VIP-Card will und erst im Herbst zahlt:
1999 Franken.
Dafür können Sie übrigens nach Indien fliegen und im Ganges baden.

Was sagen aber nun die Macher von FINDYOURFLOW? Rechtfertigt das geplante Programm den dreifachen Tausch? Das Eintauschen von spiritueller Ruhe gegen Grösse und Masse? Das Eintauschen von Schüler-Lehrer-Verhältnis gegen die Auswahl von über 40 Workshops? Das Eintauschen von Gratisluft und Gratiswasser gegen eine VIP-Karte von 2000 Franken?
Was sagen Sie nun?

Dieser Flow wird dich verändern. Er wird dir zeigen, dass das Leben ein fliessender Strom ist und dass jede Biegung aus einem bestimmten Grund geschieht. Dieser Flow hilft dir, dein Leben zu verstehen. Herausforderungen werden immer noch Herausforderungen sein. Aber dein neuer Flow wird dir zeigen, wie du ihnen begegnen kannst & wie du sie meistern & an ihnen wachsen kannst.

Ach so. Das ist natürlich etwas anderes. Es geht um den Flow, das Gefühl des Fliessens, des Strömens. Und ich werde lernen, dass das Leben ein solcher Strom ist. Gut, denn bisher habe ich immer gedacht, das Leben sei ein tiefer, ruhiger See, nein, das ist natürlich falsch, ich bin ja Schwimmer, für mich war das Leben eine 50 Meter-Bahn, auf der man hin und her schwamm. Aber nun werde ich begreifen, dass das Leben ein Flow ist.
Und die Hindernisse werden nicht verschwinden – das wäre doch eigentlich mal ein schönes Ziel von so einer Veranstaltung – nein, ich werde sie meistern. Meistern. Habe ich aber jetzt auch schon gemacht, auch ohne Flow. Ich wäre sonst gar nicht mehr da. Fragen Sie meine Leber.
Aber ich werde «an ihnen wachsen» – das ist auch so ein Schwachsinn. Ich weiss nicht, wer das aufgebracht hat, dass man an Krisen und Hindernissen wächst und reift, dass man «gestärkt aus den Schwierigkeiten» hervorkommt. Meistens muss man froh sein, wenn alles so ist, wie es vorher war.

Bisher habe ich gedacht, Spiritualität habe etwas mit Ruhe und mit einem Schüler-Meister-Verhältnis zu tun. Aber nun werde ich mich eines Besseren belehren lassen.
Denn ich werde natürlich hingehen.
So einen Unsinn muss man live sehen.

Natürlich mit der VIP-Karte für 1999,--
Drunter mache ich es nicht.

Dienstag, 27. Juni 2023

Es geht kein Post bei der Hitze

Ich wollte eigentlich einen Post über die Hitze schreiben.
Aber es war zu heiss dafür.

Ich weiss, dass dies jetzt völlig unsinnig klingt, aber es war wirklich so:
Ich stand um 7.00 auf, machte mir einen Kaffee und setzte mich an meinen Laptop. Dort stellte ich fest, dass es schon zu warm war. Ich erhob mich wieder und lüftete die Wohnung noch einmal durch – es war noch früh und die frischen Morgenwinde taten ihre Pflicht. Nachdem ich dachte, jetzt sei es besser, nahm ich noch einmal einen Anlauf. Immerhin kam ich bis zum Anlegen einer Datei; dann ging ich zum Kühlschrank und machte mir einen kühlen Mixdrink. Als ich den getrunken hatte, war es 10.00 und die Temperaturen erreichten schon 28 Grad.
Also erst einmal zum Schwimmen, ein bisschen kühles Nass – so dachte ich – wird meine grauen Zellen schon auf Vordermann bringen. Der Aufenthalt im Gartenbad St. Jakob war wundervoll, das Wasser kalt und die Badi noch leer. Allerdings: Als ich um 12.30 wieder vor meinem Screen sass, funktionierten die Zellen nicht besser.
Ich stellte einen Ventilator auf – der nichts half.
Ich trank noch viel kaltes Wasser.
Schliesslich machte ich mir ein Fussbad aus Eiswasser, aber auch diese Massnahme brachte keinen Text zustande.

Ich wollte eigentlich einen Post über die Hitze schreiben.
Aber es war zu heiss dafür.

Ein wenig wurde ich an das berühmte Faulheitsgedicht von Lessing erinnert:

Faulheit, itzo will ich dir
Auch ein kleines Loblied bringen.
O – – wie – – sau – – er – – wird es mir, – –
Dich – – nach Würden – – zu besingen!
Doch, ich will mein Bestes tun,
Nach der Arbeit ist gut ruhn.

Höchstes Gut! wer dich nur hat,
Dessen ungestörtes Leben – –
Ach! – – ich – – gähn – – ich – – werde matt – –
Nun – – so – – magst du – – mirs vergeben,
Daß ich dich nicht singen kann;
Du verhinderst mich ja dran.

Hier also das gleiche Problem: Das Thema, das Sujet eines Textes kann in immensem Widerspruch zum Erstellen eines Textes stehen:
Wir haben wenig Erfahrungsberichte von Menschen mit starken Depressionen – weil man während einer Depression nicht in der Lage ist zu schreiben.
Wir haben keinerlei Aufzeichnung von den Dingen, die wir während des Schlafens erleben – wer schläft, schreibt nicht.
Wir haben wenig Texte zum Thema Schludrigkeit – weil die Autoren es nicht schaffen, eine Deadline einzuhalten.
usw.
usw.

Man könnte nun also die jeweils «gegenteiligen» Autoren fragen, also den Workaholic zum Thema Faulheit, den Sanguiniker zum Thema Depression und den Wachen zum Thema Schlaf – und den Afrikaner, für den unsere 30 Grad fast kalt sind, zum Thema «Hitze in Mitteleuropa».
Macht aber genauso keinen Sinn.

Ich wollte eigentlich einen Post über die Hitze schreiben.
Aber es war zu heiss dafür.
Was grade noch ging, war kopieren:

It's too darn hot
It's too darn hot
I'd like to sup with my baby tonight
Refill the cup with my baby tonight
I'd like to sup with my baby tonight
Refill the cup with my baby tonight
But I ain't up to my baby tonight
'Cause it's too darn hot

Das singt der völlig erschlaffte und erhitzte und verschwitzte Theaterchor (der Theaterchor spielt hier einen Theaterchor!) am Beginn des 2. Aktes von Kiss me Kate.
Und man kann sich ihm nur anschliessen.

Es ist viel zu heiss.
Es ist viel zu heiss.

Ich wollte eigentlich einen Post über die Hitze schreiben.
Aber es war zu heiss dafür.
Aber irgendwie ging es ja doch…





   

Freitag, 23. Juni 2023

Waren Sie an der ART?

Ach ja.
Wir haben ja gar nicht über die ART geredet. Und die ist auch schon wieder eine Woche her.
Waren Sie an der ART?

Wir waren – und es war toll. Nein, wirklich, es ist wundervoll, durch die Stände zu schlendern und einfach einen Haufen wunderbare Kunst zu sehen. Da stehen Sie vor einem Rothko bei Medusian (New York) und erblicken im Augenwinkel einen Picasso bei Tre Pinie (Rom) und während Sie aber dort hinpilgern werden Sie noch durch eine Agnes Martin bei Stiffler (London) und einen Klee bei Selbst Kunst (Berlin) abgelenkt und wissen gar nicht, wo Sie zuerst hinsollen. Ja, und während Sie vom Rothko bei Medusian über den Picasso bei Tre Pinie zu Martin und Klee eilen, sind Sie noch x-mal über Carl Andre drübergelaufen – der macht nämlich Bodenplatten…

Wir haben gar nicht über die ART geredet – und die ist auch schon wieder eine Woche her. Wir haben in alle den Jahren überhaupt nicht viel über die ART geschrieben, ganze drei Posts (von über 1000) haben sich mit der Kunstmesse beschäftigt.

Eine hauptsächliche Kritik an der ART Basel ist ja ihre Grösse, ihre Gigantomanie und ihre Kommerzialität. Immer wieder werden hier kleinere, intimere und schnuckeligere Messen als Vergleich herangezogen.
Und das ist Quatsch. Aus verschiedenen Gründen.

Erstens:
Basel ist eine Stadt der Superlative.
Wir haben die glücklichsten (und die reichsten) Menschen, wir haben das höchste Bauwerk und der Rhein ist nirgendwo in der Schweiz so tief und so breit. (Glauben Sie nicht? Schauen Sie mal auf die Karte, nach uns verlässt er die Eidgenossenschaft.) Wir haben die schönste Kirche und die schönste Altstadt der Schweiz; und wir haben mit «Find Your Flow!» das grösste spirituelle Festival Europas. (Wird sicher noch irgendwann einen Post wert sein…)
Warum sollten wir dann nicht auch die grösste Kunstmesse haben?

Zweitens:
Die ART Köln und die ART Karlsruhe und die vielen anderen kleinen Messlein haben eben keine 6 Rothkos, 15 Picassos, 20 Martins, 12 Klees und 40 Andres. Diese Menge an Kunst bekommt man nur hier. Natürlich sind 67 Franken für die Tageskarte ein stolzer Preis; er relativiert sich aber, wenn man bedenkt, dass die Fondation Beyeler auch schon über 30 Franken verlangt, und dort bekommt man dann EINE Ausstellung, allein von der Grösse entspricht die ART ca. 20 Kunstausstellungen.

Drittens und das ist jetzt wahrscheinlich das Wichtigste:
Gehen Sie in ein Sternerestaurant und speisen ein 3-Gang-Menü und trinken den besten Wein und wundern sich dann darüber, dass der Wirt Geld verlangt? Wahrscheinlich nicht. Genauso wenig gehen Sie zum Zahnarzt, zum Notar, zum Architekten. Alle diese Leute wollen Geld. Ja, sie tun keinen Mucks, tun keinen Fingerschnips ohne Knete. Aber beim Zahnarzt, beim Notar und beim Architekten halten wir das für normal.
Und bei der ART ist es eben genauso: Es ist eine Messe, und auf Messen geht es darum, Geschäfte zu machen. Wenn Sie den Geld-Aspekt völlig weghaben wollen, dann müssen Sie auf die documenta – dort haben Sie allerdings keinen Rothko und keinen Warhol und keinen Klee, das ist klar.

Ach ja.
Wir haben ja gar nicht über die ART geredet. Und die ist auch schon wieder eine Woche her.
Waren Sie an der ART?

Ach so, jetzt möchten Sie natürlich auch etwas über die aktuelle Kunst erfahren. Gut, da sah man solches und solches. Viel Schrott natürlich auch. Viel Mittelmässiges. Aber wenn Sie jetzt sagen, dass dies eben mit der Modernen Kunst so sei, ja, dann muss ich Ihnen widersprechen. Das war immer so. Von den alten Zeiten ist ja nur das Beste übriggeblieben. Das Mittelmässige und Schlechte vergangener Epochen ist im Zeitenstrom untergegangen.
Aber wenn Sie noch einen Trend wollen: Wir sahen viel Figürliches, viel Öl, viel Farbe, viel Buntes und viel Kitsch. Da sind die grässliches Hasen-, Hund- und Vogel-Objekte von Jeff Koons nur ein Beispiel…

Sind Sie an der ART gewesen?

Nein, gekauft haben wir nichts.
Ich wollte eigentlich die Spinne von der Louise, aber das ging dann doch ein wenig über meine Mittel. Ich rief zwar noch meinen Fonds-Manager an, ob wir etwas jonglieren können, ich erwog sogar meine 40% Anteile an einer isländischen Moosfarm zu verkaufen oder sogar mein Anwesen in Miami zu veräussern, aber so schnell war da nichts zu wollen.
So hat die Spinne jemand anders bekommen.
Jemand, für den die 22,5 Millionen kein Problem waren.

Und nun freuen wir uns schon auf die ART Basel 2024.
Die wird sicher wieder spannend.





 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

    

Dienstag, 20. Juni 2023

Die rührenden Schilder und Anzeigen

Es ist selten, dass mich Schilder oder andere Anzeigen rühren. Also «rühren» nicht im Sinne von «Suppe umrühren», sondern im Sinne von «emotional berühren», dass solche Schilder oder Anzeigen mir einen tiefen Seufzer entlocken und ich «ach…» murmele. Aber letzte Woche ist das zweimal passiert.

Ich sass im Zug von Olten nach Basel, als mein Blick auf die Anzeige auf Bildschirm oben im Gang fiel. Hier waren die Bahnhöfe, die geplanten Zeiten und die tatsächlichen Zeiten aufgelistet. Ich gebe hier nur einen Teil wieder:

Liestal / 16.50 / 16.50
Basel SBB / 17.07 / 17.07
Basel Bad. Bf. / 17.15 / 17.15
Freiburg i. Br. / 17.48 / 17.48
Offenburg / / 18.20
Baden-Baden / 18.32 / 18.37
Karlsruhe / 18.51 / 18.56
Mannheim / 19.16 / 19.21
Frankfurt a. M. / 19.58 / 19.58
usw.
usw.
usw.

Zur Erklärung: Es war schon am Bahnsteig in Olten angesagt worden, dass der Zug ausserplanmässig in Offenburg halten würde. Die dadurch entstehende Verspätung würde also bis Mannheim bleiben und zwischen Mannheim und Frankfurt aufgeholt.

Diese Anzeige erfüllte mich mit einer tiefen Rührung. Es war die Rührung, die man empfindet, wenn man Kindern zuschaut. Zum Beispiel Kindern, die versuchen, eine Taube einzufangen, und die immer wieder losrennen, losspurten und immer wieder die Taube auffliegen sehen. Oder Kindern, die versuchen, einen grossen Turm aus 40 Bauklötzen zu bauen, einen Turm, der nie zustande kommt, weil bei 25 Klötzen das Ganze kippt.
Diese Rührung empfand ich: Die Bahn plant, eine Verspätung von fünf Minuten durch einen Zusatzhalt bis zum überüberübernächsten Bahnhof aufgeholt zu haben. Ach, wie süss! Und sie tut das auch jetzt schon allen Fahrgästen kund. Goldig! Realität wird doch sein: Schon den Badischen Bahnhof wird der Zug mit 10 Minuten Verspätung verlassen haben, und diese zehn Minuten werden bis Frankfurt durch «Störungen im Betriebsablauf», «Störungen an der Bahnanlage», «Abwarten anderer Züge» und «Kühe auf den Gleisen» sich zu satten 60 Minuten addiert haben. Oder etwas weniger. Oder mehr.
Richtig wäre doch wohl die folgende Anzeige:

Liestal / 16.50 / 16.50
Basel SBB / 17.07 / 17.07
Basel Bad. Bf. / 17.15 / 17.15
Freiburg i. Br. / 17.48 / unbekannt, auf jeden Fall nach 17.48
Offenburg / / unbekannt, auf jeden Fall nach 18.20
Baden-Baden / 18.32 / unbekannt, auf jeden Fall nach 18.32
Karlsruhe / 18.51 / unbekannt, auf jeden Fall nach 18.51
usw. usw. usw.

Es ist selten, dass mich Schilder oder andere Anzeigen rühren. Also «rühren» nicht im Sinne von «Suppe umrühren», sondern im Sinne von «emotional berühren», dass solche Schilder oder Anzeigen mir einen tiefen Seufzer entlocken und ich «ach…» murmele. Aber letzte Woche ist das zweimal passiert.

Das andere Schild ist ein Schild, das am Zwingli-Haus in Basel an der Eingangstüre hängt. (Das Zwingli-Haus im Quartier Gundeldingen, ist ein Gemeindehaus-Kirchen-Bau aus den 30er Jahren.):

BITTE DEN SEITENEINGANG BENÜTZEN
(GUNDELDINGERRAIN)

Das Schild ist laminiert und vergilbt, hat eine Wollschnur zum Aufhängen und hängt dort schon gefühlte 20 Jahre. Nein, man denkt sogar, dass es seit der Einweihung 1932 an der Innenseite der Türe baumelt, aber das ist wohl nicht so, man konnte ja da nicht einfach drucken und laminieren. Aber alt ist es schon.

Und völlig überflüssig. Denn: Wie viele Menschen versuchen uneingeladen die grosse Türe im Bauhausstil (das ganze Gebäude von Kehlstadt ist Bauhaus…) zu öffnen? An den Gottesdiensten und Versammlungen und Altennachmittagen sind natürlich die Türen offen. Zu sonstigen Terminen mit Pfarrer oder Hausverwaltung geht man, wenn man abgemacht hat, und dann könnte man demder Besuchergendergapin auch sagen, dass man die Seitentüre benutzen soll.

Das Schild rührt mich, wie wenn ein Kind seinen Namen in Krakelschrift an seine Tür pinnt, damit jeder weiss «Hier wohne ich» - als ob das nicht jedermann wüsste…

Es ist selten, dass mich solche Dinge rühren. Aber letzte Woche ist das zweimal passiert.


  

 

 

 

Freitag, 16. Juni 2023

Das Entklebern meiner Bücher

Ich sitze an meinem Schreibtisch und entklebere meine neuesten Bücher.

Es ist spannend, dass ich hier eine rote Linie bekomme (die Sie natürlich nicht sehen, logisch). Es ist aber auch spannend, dass das Wort «entklebern» dem WORD®-Fundus und dem Netz unbekannt ist, das Wort «entkleben» dem WORD®-Fundus zwar auch, dem Internet aber nicht. Laut dem World Wide Web ist das letztere ein Wort, das die Verleimung von Bauteilen und Materialien löst, das erstere aber ein (von mir erfundenes) Wort meint, das das Entfernen von Klebern aller Art meint.

Der Stapel beinhaltet übrigens:

Ferdinand von Schirach: Nachmittage
Anna Kim: Geschichte eines Kindes
Kübra Gümüşay: Sprache und Sein
Joseph Haslinger: Opernball
Robert Seethaler: Das Café ohne Namen

Ich habe diesen Stapel (zusammen mit einem Vogelstimmenberuhiger und einem Kohledünger) von meinem wunderbaren Treffen mit meinen Freiburger Freunden mitgebracht – die meisten haben mir Bücher geschenkt, was bei einer Leseratte wie mir auch ein sinnvolles Präsent ist.

Nun bin ich also dran, die Kleber von den Büchern zu pulen.
Die Kleber sind vor allem an zwei Stellen: Der eine Kleber verdeckt den Preis, meist ist er auch noch mit einer Werbung verbunden, also einer Angabe der Buchhandlung, der Buchhandlung, in der der Roman oder das Sachbuch erworben wurde, der andere Kleber preist den Artikel mit Worten wie «Spiegel Bestenliste Nr. 1» oder «Deutscher Buchpreis» oder «Meistgekauftes Buch 2022».

Warum überkleben wir den Preis eines Buches? Warum überkleben wir überhaupt den Preis einer Sache? Klar, damit der Beschenkte nicht sieht, wie wenig wir ausgegeben haben. Das ist aus zwei Gründen völlig idiotisch:
Wenn ich wirklich wissen will, was Heinz oder Klaus oder Monika oder Brigitte für ein Präsent ausgegeben haben, dann kann ich es googeln. Früher – und die Sitte kommt ja von früher – konnte man in ein Geschäft gehen oder in ein Schaufenster schauen. Man bekam es heraus.
Aber ich will es ja gar nicht herausbekommen. Wenn Heinz oder Klaus oder Monika oder Brigitte ein Buch sehen, das wie für mich gemacht ist, und das Buch kostet aus irgendeinem unerfindlichen Grund nur 11.--, à la Bonheur! Heinz oder Klaus oder Monika oder Brigitte sollen das kaufen, auch wenn es in ihren Augen zu günstig ist.
Ach, Sie meinen, das ist umgekehrt? Das Geschenk ist zu teuer? Gut, wenn Heinz oder Klaus oder Monika oder Brigitte mir etwas für 100 Stutz schenken wollen, sollen sie auch das tun, ich denke, es muss dann gerade sein – und sie haben auch gerade das Geld.
Was mit Menschen ist, die aus taktischen Gründen schenken?
Mit solchen muss ich nicht verkehren. Ich muss keine Partys oder Einladungen machen, weil mein Arbeitgeber das will, ich muss keine Leute treffen, die zwar Riesenarschlöcher (s.v.v.), aber doch potentielle Kunden sind – das ist eines der Privilegien meines Jobs.

Die andere Sorte Kleber ist heikler, und man muss sie auch – so glaube ich – ein wenig differenzieren. Der Hinweis auf einen Buchpreis, auf den Deutschen Buchpreis, auf den Schweizer Buchpreis, auf den Preis der Leipziger Buchmesse, aber auch auf eine Auszeichnung, die der Autor bekommen hat, Büchner, Nobel, Paulskirche usw. kann ja ganz hilfreich sein. Man geht ja irgendwie davon aus, dass hier Menschen entschieden haben, die etwas von der Sache verstehen, also dass der Deutsche Buchpreis, der Schweizer Buchpreis, aber auch der Prix Goncourt, der Pulitzer Prize von Leuten vergeben wird, die Literaturfachleut*innen sind. Vielleicht ist das naiv gedacht, aber in dubio pro reo.

Anders ist das mit den «Meistgekauft»-Klebern, mit den «Bestseller»-Bebbern, mit den «Spiegel Bestenliste»-Sticks. Denn diese «Meistgekauft»-Klebern, mit den «Bestseller»-Bebbern, mit den «Spiegel Bestenliste»-Sticks besagen ja eines: Andere Menschen haben diese Bücher gekauft, also müssen sie gut sein. Dann hätten viele Autoren, die wir heute zur Weltliteratur zählen, einen solchen Kleber nie bekommen, andere hätten es, werden aber heute eher belächelt.

In der Sponti-Szene der 80er gab es dazu einen Klospruch:

ESST SCHEISSE, LEUTE! – MILLIONEN FLIEGEN KÖNNEN SICH NICHT IRREN.

Treffender kann man es nicht ausdrücken.

Ich habe nun meine Bücher entklebert:
Den Schirach, das Buch von Frau Kim, «Sprache und Sein», den «Opernball» und den Seethaler.
Wenn ich über die Oberfläche streiche, dann fühlt es sich wunderbar glatt und sauber an.

Nun muss (darf!) ich die Bücher nur noch lesen. Und dann wird es mir egal sein, ob sie 20 oder 30 Franken gekostet haben, ob sie den Österreichischen Buchpreis (den gibt es nämlich auch!) bekommen oder verfehlt haben und ob andere Menschen das Werk toll fanden.



Dienstag, 13. Juni 2023

Das vor der Nase

Martin Suter beschreibt in einem seiner ersten Bücher eine Szene in einem Bistrot: Der Kellner bringt einem der Habitués ungefragt ein Glas Rotwein – einfach, weil dieser immer ein Glas Rotwein bestellt. Der Gast meckert, er habe das nicht geordert; der Kellner fragt nach, ob jener Gast denn keinen Rotwein wolle. Doch, natürlich, antwortet der Habitué, aber er wolle den Rotwein, den er bestellt habe.

Ein Freund von mir wohnt am Stadtrand nahe bei einer naturbelassenen Wiese. (Ja, das gibt es noch, aber nur noch 10 in Europa, und neben einer von diesen zehn wohnt eben mein Kumpel.)
Nun gäbe es ja nichts Schöneres als im Sommer auf die grosse, grüne Wiese zu schlendern und einen grossen Sommerstrauss zu pflücken: Margariten, Kornblumen, Huflattich, Günsel und Knabenkraut und allerlei mehr.
Aber genau das tut mein Freund nicht. Er geht lieber in den Blumenladen, dort kann er lange Zeit zubringen und kauft dann für viel Geld einen Blumenstrauss, am liebsten einen frischen, lustigen Sommerstrauss, am liebsten mit Wiesenblumen, Margariten, Kornblumen, Huflattich, Günsel und Knabenkraut und allerlei mehr, er soll aussehen wie frisch gepflückt…

Für eine Freundin im Ausland möchte ich auch eine Übersetzung des heutigen Posts ins Englische fabrizieren. Mit Google-Translater? Nie im Leben, das ist unter meiner Würde. Also hirne ich eine halbe Stunde und bringe dieses zu Papier (oder eigentlich zu Bildschirm):
In one of his first books, Martin Suter describes a scene in a bistro: the waiter brings one of the habitués a glass of red wine without being asked – simply because he always orders a glass of red wine…
Das ist – wie ich später feststelle – genau das, was Google-Translater mit drei Klicks fertigbrächte.

Warum handeln wir so? Warum ist die einfache Lösung, das Praktische, das, was wir vor der Nase haben, so schlecht?

Man könnte natürlich hier allerlei verschiedenste psychologische Motive anführen:
Der Habitué Ralph möchte in «Lila, Lila» – um dieses Buch geht es nämlich – sich die Option offenhalten, einmal keinen Rotwein zu wollen, und das, obwohl er seit vier Jahren in die gleiche Beiz geht und immer den gleichen Rotwein trinkt, aber es könnte ja einmal sein, dass…
Einen Wiesenblumenstrauss bei «Bouquet am Markt» zu kaufen vereint zwei Vorteile: In der Strassenbahn geben wir mit der edlen Einpackung des oberedlen Blumengeschäftes an, und zuhause haben wir einen Strauss, der aussieht wie selbstgepflückt.
Und die eigenhändig erstellte Übersetzung macht uns stolz, weil wir eine halbe Stunde unser Gehirn betätigt haben, wir haben lange überlegt, wie wir «Bücher» übersetzen, und sind, nachdem wir «novels», «titels» und «works» verworfen haben, doch wieder bei «books» geblieben.

Alles erklärbar.
Aber eigentlich doch alles Quatsch.

Und genauso ist es nicht ganz verständlich, warum es im offiziellen Leben eben so viel «Rotwein, den ich selbst bestellt habe», «gekaufte Wiesenblumensträusse» und «selbstgeschriebene Google-Übersetzungen» gibt.

Da will zum Beispiel die GFP wissen, wie die Bevölkerung über den Öffentlichen Verkehr in der Region denkt. Und gibt eine Studie in Auftrag. Die (teure!) Studie belegt, dass die Bevölkerung unzufrieden ist – auch kein Wunder, bei nur drei (!) Buslinien und keinen Bahnhof im Landkreis. Man hätte aber auch auf Studien der nähergelegenen Uni aus den Jahren 2015, 2017, 2019 und 2021 zurückgreifen können.
Sie alle kamen übrigens auf dasselbe Ergebnis.
Was nicht erstaunt.

Ein genauso grosser Schildbürgerstreich ist auch die Tatsache, dass der Arbeitsminister in der Weltgeschichte herumfährt, um junge, migrations- und arbeitswillige Menschen aufzutreiben, die bereit sind, ihren Beruf in der BRD auszuüben, oder aber sich in der BRD ausbilden zu lassen. Zum Beispiel in der Pflege. Oder… Oder… Oder… Es fehlt ja überall.
Gleichzeitig fahren die Aussen- und die Innenministerin in der Weltgeschichte herum und halten junge und migrationswillige Leute davon ab, nach Deutschland zu kommen. Am besten wäre ja ein Zaun, aber den bekommt man bei den Grün-Wählern ja nun wirklich nicht durch…
Und man fragt sich nun: Was soll das? Ist das so eine Kiste wie «ich möchte den Migranten, den ich selber bestellt habe»? Ist das so etwas wie «die usbekische Putzfrau ist irgendwie schicker als die afrikanische»? Oder muss der Arbeitsminister sich beschäftigen – so wie die übersetzenden Menschen?
Gut, ich weiss, ich bin wahrscheinlich zu uninformiert. Aber irgendwie komisch ist es schon.

Das, was wir vor der Nase haben, finden wir doof. Wenn wir dann zum nächsten gehen, haben wir dieses aber auch vor der Nase. Also könnten wir zwischen zwei Heubündel verhungern, wie jenes Grautier, das als «Buridans Esel» in die Philosophiegeschichte eingegangen ist.





















Freitag, 9. Juni 2023

Fronleichnam

Mir fällt gerade auf, dass ich noch nie etwas über Fronleichnam geschrieben habe.

Ich hatte nämlich gestern frei, und heute auch wieder. Da ich in einem katholischen Kanton arbeite, gibt es nicht nur Auffahrt (der Donnerstag vor dem Donnerstag vor Pfingsten), sondern auch Fronleichnam (der Donnerstag nach dem Donnerstag nach Pfingsten), jeweils mit Brückentag.

Was ist nun Fronleichnam?

Nein, der Witz mit «Happy Kadaver» ist blöd, denn dieser Feiertag hat mit «froh» natürlich nichts zu tun, «Frohenleichnam» ist der umgekehrte Fehler von «Weinnachten», der Donnerstag nach dem Donnerstag nach Pfingsten hat mit Fröhlichkeit so wenig zu tun wie der 25. 12. mit Flennen. Dass nun eben doch viele Menschen an Fronleichnam froh sind und an Weihnachten weinen, hat andere Gründe, sicher liegt es daran, dass nach Pfingsten die Tage schon lange und das Wetter schön und die Badeseen schon warm sind, und an Weihnachten die Tage kurz und das Wetter kalt.
Ach so, Sie hatten gedacht, Weihnachten käme vom Alkoholgetränk? Nein, ist genauso falsch. Aber wir schweifen ab.

Fronleichnam also.
Was sagt das Wikipedia?

Das Fronleichnamsfest ist ein Hochfest im Kirchenjahr der Katholischen Kirchen, mit dem die bleibende Gegenwart Jesu Christi im Sakrament der Eucharistie gefeiert wird. Die liturgische Bezeichnung ist in der römisch-katholischen Kirche seit 1970 lateinisch Sollemnitas Sanctissimi Corporis et Sanguinis Christi‚ Hochfest des [allerheiligsten] Leibes und Blutes Christi‘. Bei der wird es auch Danktag für die Eucharistie genannt. Kennzeichnend für das Fest ist die Fronleichnamsprozession, eine eucharistische Prozession. Als Festgedanken gelten heute die Feier der Gegenwart Christi in der Eucharistie als „Sakrament der Einheit“ und der „Mitte, aus der wir leben“, das öffentliche Bekenntnis des Christseins und das Bild der pilgernden Kirche (Unterwegssein mit Christus), ferner die Segnung der Schöpfung, des Alltags und der Lebenswelt der Menschen.

Haben Sie irgendetwas verstanden? Wahrscheinlich nicht, auf jeden Fall, das mit dem «froh» und «Fron» wird auf jeden Fall nicht erklärt. Ich weiss es aber auch so «fron» bedeutet, dass etwas dem Herrn gehört, dem König, im Fall der Fronarbeit also dem Landesherrn. «Fronleichnam» also «Leib des Herrn». Und gut ist.

Schön an Fronleichnam sind die Blumenteppiche, hier wird von geschickten (Frauen-)Händen jedes Jahr Herrliches geliefert, wahre Wunderwerke der Floristik. Obwohl es natürlich nachlässt, nachdem die Frauen in der Katholischen Kirche sich nicht mehr auf das Schmücken und Verzieren der Gottesdienste beschränken und selber vornestehen wollen. Dabei schrieb doch Paulus im Athenerbrief: Das Weib schweige und schmücke, nicht das Wort der Frau sei im Gotteshaus, sondern die von ihr gemachte Zierde. (Ath. 6, 14).

Ich habe noch nie etwas über Fronleichnam geschrieben, obwohl ich seit Jahren in den Genuss dieses Feiertages komme.

Das Praktische an diesem Tag ist ja – genau wie bei Himmelfahrt – dass er an einem Donnerstag liegt. Nun wissen Douglas Adams-Fans, dass an einem Donnerstag die Erde untergeht, sie wird ja an einem Donnerstag von Vogonen gesprengt werden, und der Held Arthur Dent wird acht Jahre im Weltraum unterwegs sein, aber da man ja nicht weiss, wann das sein wird, freut man sich auf diese Donnerstage. Denn: Wenn der Donnerstag frei ist, dann lohnt der Freitag auch gar nicht mehr. «Brücke» nennt man das. An Himmelfahrt kann man eine solche Brücke machen und eben an Fronleichnam auch.
In einem guten Jahr könnten übrigens auch der 1. Mai, der 1. August, Mariae Himmelfahrt, der 1. November und Weihnachten solche Brückenmöglichkeiten – oder sollten wir hier das wunderbare, eigentlich schulpädagogisch genutzte Wort «Brückenangebote» gebrauchen? – bieten, worauf wir an Fronleichnam beim Prozessieren das wunderschöne Lied anstimmen:
ÜBER SIEBEN BRÜCKEN MUSST DU GEHEN
Nein, Quatsch.
Fronleichnam hat uns ja einen der wunderschönsten Liedtexte beschert, x-mal vertont, aber am schönsten durch den Salzburger Meister:
AVE VERUM CORPUS

Mir fällt gerade auf, dass ich noch nie etwas über Fronleichnam geschrieben hatte.
Ich hatte nämlich gestern frei, und heute auch wieder. Da ich in einem katholischen Kanton arbeite, gibt es nicht nur Auffahrt (der Donnerstag vor dem Donnerstag vor Pfingsten), sondern auch Fronleichnam (der Donnerstag nach dem Donnerstag nach Pfingsten), jeweils mit Brückentag.
Und ich habe den Tag genutzt, um nach Freiburg zu fahren (auch frei, auch katholisch) und alle meine dortigen Freunde in einem Gartenlokal zu treffen.
Das war wunderbar.

P.S.
Es gibt keinen Athenerbrief. Und das Zitat ist erfunden.
Das mit dem Schweigen hat der Apostel aber (leider!!!!!!!!!!!!!!!) geschrieben.
Im Korintherbrief. Kapitel 14. Vers 34.















 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

      

 

Dienstag, 6. Juni 2023

Die immerwährenden Heftchen

Ich habe am Pfingstsamstag in unserem WC einige Veränderungen vorgenommen:
a) Ich habe das Lavabo, den Spiegel, das Klo und den Boden geputzt (wie ich es regelmässig mache).
b) Ich habe das Handtuch gewechselt und ein rotes Tüchlein gegen ein blaues ausgetauscht.
c) Ich habe die grossen Muscheln, die auf dem Sims hinter dem WC (also quasi auf dem verkleideten Spülkasten) liegen, anders angeordnet.
d) Ich habe im Kästlein unter dem Waschbecken die Klopapierrollen ergänzt.
e) Ich habe die Zeitschriften, die auf dem Hocker lagen, ins Altpapier gegeben und durch neue/alte, neu-alte ersetzt.

Bevor wir weiterdenken: Ich finde es – das als kleiner Exkurs – grossartig, dass man über das WC-Putzen und WC-Gestalten inzwischen so frei schreiben und reden kann. Das war ja in meiner Jugend ganz anders, das war verklemmt, verschämt, man hatte x Ausdrücke für das Klo, das man nicht beim Namen nennen durfte, man sagte «irgendwohin» oder «woandershin», man versteckte auch Einkäufe von WC-Papier und das ganze gipfelte im gehäkelten Klopapierhut (ein völliges Quatschding, weil ja jeder weiss, dass da Scheisspapier (s.v.v.) drunter ist.) Alles also verklemmt und verspiessert, dabei ist der Stuhlgang und sein Ort etwas völlig Normales, jede und jeder hat diesen Stoffwechsel und jede und jeder braucht ein WC.

Nun aber weiter im Text:
Als mein Mann aufstand, stellte ich ihn vor die Frage, was sich in unserer Toilette verändern habe. Er kam auf a), das war nicht unbedingt zu sehen, denn bei uns ist es immer sauber, aber er wusste natürlich, dass Samstag war und ich da immer putze. Er sah sehr schnell b) und c); er konnte nicht auf d) kommen, dazu muss man die Tür des Kästchens öffnen.
e) sah er nicht.

Nun muss ich kurz ein paar Worte über die Heftlein verlieren. Jene Heftchen, Periodika wie «Schweizer Familie», «Gala» oder «Glückspost» erhalten wir von einer ehemaligen Nachbarin. Daher habe ich von «neu-alt» bzw. «neu/alt» geschrieben. Sie werden dann auf die Toilette gelegt und dienen als Klolektüre. Für einen kurzen Besuch des Örtchens ist nichts idealer als eine Reportage über die Dramen des Hochadels oder die Freuden der Popstars.

Warum aber war das Austauschen der Hefte nicht sichtbar, warum konnte e) nicht bemerkt werden?
Weil alles immer gleich aussieht, das musste ich jetzt feststellen.
War im obersten Heft des entsorgten Stapels ein Bild der niederländischen Kronprinzessin mit der Überschrift

AMALIA VON DER NIEDERLANDE – NUN MUSS SIE SEHR TAPFER SEIN

zu sehen, prangte nun auf dem jetzigen Stapel ein Bild der Schwedin:

VIKTORIA VON SCHWEDEN – JETZT BRAUCHT SIE VIEL KRAFT

Hätte man je das zweite Heft nach oben gelegt, wäre im entsorgten Stapel ein Bild eines mir nicht bekannten Volksmusikers mit einem flachen Mondgesicht neben einer Blondine mit dem Text

RALPH PIENHAUSER – IST SEINE EHE SCHON AM ENDE?

zu erblicken, nun hätte, wenn man erstes und zweites Heft getauscht hätte, man das Bild eines mir nicht bekannten Fussballers mit einer runden Visage gefunden – neben einer Brünetten:

TOBIAS MECKEL – EHE-AUS NACH NUR ZWEI JAHREN!

Es ist wirklich merkwürdig, wirklich bemerkenswert, aber alle diese Hefte, Hefte wie «Schweizer Familie», «Gala» oder «Glückspost» sind ständig gleich. Sie bestehen zu 30% aus Werbung, zu 20% aus Rätseln, zu 20% aus Rezepten und zu 30% aus Berichten. Die Werbung ist immer die gleiche, die Rätsel sind immer die gleichen, die Rezepte sind immer die gleichen und die Berichte auch. Sie glauben mir nicht? Ich bin neulich auf die Werbung eines Fernheilers gestossen, der seine Fotos in den 80er Jahren gemacht hat, an Farbqualität und Frisur eindeutig zu erkennen. Die Rätsel sind eh immer gleich, da wird zum Beispiel nach dem «Vornamen der Glas» gefragt oder nach «Mutter der Nation», als ob noch irgendjemand von Miminnen namens Uschi Glas oder Inge Meysel gehört hat. Und die Rezepte? «Frühlingshafte Aufläufe mit jungen Zwiebeln» oder «Sommerkuchen mit Obst» oder «Herbstgulasch mit Maronen» oder «Weihnachtskekse mit Zimt», das hat schon meine Mutter in ihre Rezeptsammlung geheftet. (die ich noch habe…) Und die Berichte sind eben auch immer gleich, entweder Traumhochzeit in Weiss oder Scheidung nach furchtbarem Streit, Königinnen und Prinzessinnen im Glück oder in Sorgen.

Ich habe am Pfingstsamstag Klo-Veränderungen vorgenommen:
a) Ich habe alles gewienert (wie ich es regelmässig mache).
b) Ich habe das Handtuch gewechselt und ein rotes gegen ein blaues getauscht.
c) Ich habe die Muscheln anders angeordnet.
d) Ich habe die Klopapierrollen ergänzt.
e) Ich habe die Zeitschriften, die auf dem Hocker lagen, ins Altpapier gegeben und durch neue/alte, neu-alte ersetzt.

Die Nummer e) war als Änderung nicht zu erkennen.



 

   

 

  

Freitag, 2. Juni 2023

Absurdes Theater am PC

Ein Freund von mir hat mit «Dennoch und gestern und überhaupt» ein wunderbares Theaterstück geschrieben.
Zentrale Rolle in diesem Drama spielt eine Tür. Durch diese Tür, sie ist im Mittelpunkt der Kulisse, die eine Hotellobby, ein Bankfoyer oder eine Schulaula darstellen kann, kommen nach und nach fünf Personen auf die Bühne.
Im ersten Akt ist noch eitel Wohlgefallen, man lernt sich kennen, man schäkert, man flirtet, man lacht. Es herrscht eine Atmosphäre der Ausgelassenheit.
Im zweiten Akt gibt es dann Konflikte, so, wie es halt im Zusammenleben von Menschen Konflikte gibt. Immer wieder versuchen einige, durch die Tür die Hotellobby, das Bankfoyer oder die Schulaula zu verlassen. Aber die Tür ist abgeschlossen. Ein angerufener Hotelmanager, Bänker oder Schulabwart (er ist über Lautsprecher zu hören) erklärt, dass diese Tür zu und es auch immer gewesen sei. Nachdem die anwesenden Personen sich eine Weile gewundert haben, schliesslich sind sie ja durch genau eben diese Türe hineingekommen, akzeptieren sie die Tatsache.
Im dritten Akt eskaliert die Situation dann vollständig, die fünf Leute versuchen daraufhin die Tür einzuschlagen. Da die Pforte auch auf äusserste Gewalt nicht reagiert, schaltet sich der Hotelmanager, Bänker oder Schulabwart noch einmal per Stimme ein: Er erklärt, dass sich an der Wand keine Tür befindet. Und auch nie befunden hat. Und auch nie befinden wird.
Die Personen akzeptieren und verfallen in Apathie.

Ein Vorbild für diese Wendung in «Dennoch und gestern und überhaupt» ist sicher die Rolle von Pozzo und Lucky im Godot-Stück. Pozzo erscheint im ersten Akt, seinen Sklaven Lucky an einer Hundeleine und lässt ihn «denken», Lucky hält daraufhin lautstark einen langen Monolog. Im zweiten Akt ist Pozzo blind – und behauptet, es immer schon gewesen zu sein («eines Tages wachte ich auf und war blind…»). Lucky ist stumm, auch hier wird gesagt, dass er es immer schon gewesen sei…
Man redet hier vom Absurden Theater.

Und solch Absurdes Theater macht auch mein PC, mein Laptop, machen mein Handy und mein Tablet. Alle in Kombination mit Druckern, Routern und anderen Geräten. Sie kennen das wahrscheinlich auch:

Da versuchen Sie ein Dokument zu drucken. Und es geht nicht. Sie gehen auf →Start, gehen auf →Einstellungen, gehen auf →Geräte und gehen auf →Drucker. Dort klicken Sie auf →Problembehandlung ausführen. Das Programm braucht zwei Minuten um durchzurattern, dann präsentiert die Problembehandlung ein Ergebnis:
Der Drucker ist nicht eingeschaltet.
Sie blicken zum Drucker, das Lämpchen leuchtet Ihnen entgegen, das Lämpchen mit jenem Kreis mit Lücke und dem senkrechten Strich. Der Drucker ist eindeutig angeschaltet, daran kann niemand zweifeln.

Absurdes Theater.

Sie haben gestern ein Dokument begonnen, haben – wie immer – →WORD geöffnet, haben auf →leeres Dokument geklickt und haben geschrieben. Sie sind dann nicht ganz fertig geworden und nun wollen Sie weiterschreiben.
Können Sie aber nicht.
Denn Ihnen wird gesagt, Sie hätten nicht die Berechtigung, dieses Dokument zu bearbeiten. Eine ANDERE Person habe das Dokument angelegt, und nur diese ANDERE Person dürfe darin herumfuhrwerken. Sie könnten allerdings eine Kopie, und diese dann… Was Sie auch tun. Leider werden Sie wieder nicht fertig. Nun öffnen Sie am nächsten Tag die Kopie und lesen: Sie hätten nicht die Berechtigung, dieses Dokument zu bearbeiten. Eine ANDERE Person habe das Dokument angelegt, und nur diese ANDERE Person dürfe darin herumfuhrwerken. Sie könnten allerdings eine Kopie, und diese dann…
Am Ende werden Sie x Kopien haben und werden nicht mehr wissen, wo Ihnen der Kopf steht. Dabei gibt es doch gar keine ANDERE Person, Sie sind ja diese ANDERE und hätten jede Berechtigung gehabt, die Datei zu bearbeiten, denn Sie haben sie ja erstellt.

Absurdes Theater.

Wie gehen wir mit absurdem Theater um? Mit den Stücken von Beckett und Ionesco ist es ja so, dass wir lachen und schmunzeln (vielleicht auch grübeln) können, weil wir nicht drinstecken. Wenn wir auf Godot warten würden, jeden Tag, immer wieder, wenn wir also nicht Betrachter, sondern Akteure wären, sähe das anders aus.
Am PC sind wir aber Agierende.
Und dennoch: Man kann wahrscheinlich nur darüber lachen.
Oder jemand fragen. Ich habe mir angewöhnt, in solchen Fällen Hilfe zu holen. Wenn jemand nur 20 Jahre jünger ist, dann hat er schon mal viel mehr mitbekommen von dem Digitalmist…

Ein Freund von mir hat ein wunderbares Theaterstück geschrieben.
Und es mir vorgelesen. Bei Tee und Kerzenlicht.
Denn als er mir es gemailt hatte und ich das Doc öffnete, übersetze es sich stets selbstständig ins Finnische.
Keiner weiss, warum.