Dienstag, 13. Juni 2023

Das vor der Nase

Martin Suter beschreibt in einem seiner ersten Bücher eine Szene in einem Bistrot: Der Kellner bringt einem der Habitués ungefragt ein Glas Rotwein – einfach, weil dieser immer ein Glas Rotwein bestellt. Der Gast meckert, er habe das nicht geordert; der Kellner fragt nach, ob jener Gast denn keinen Rotwein wolle. Doch, natürlich, antwortet der Habitué, aber er wolle den Rotwein, den er bestellt habe.

Ein Freund von mir wohnt am Stadtrand nahe bei einer naturbelassenen Wiese. (Ja, das gibt es noch, aber nur noch 10 in Europa, und neben einer von diesen zehn wohnt eben mein Kumpel.)
Nun gäbe es ja nichts Schöneres als im Sommer auf die grosse, grüne Wiese zu schlendern und einen grossen Sommerstrauss zu pflücken: Margariten, Kornblumen, Huflattich, Günsel und Knabenkraut und allerlei mehr.
Aber genau das tut mein Freund nicht. Er geht lieber in den Blumenladen, dort kann er lange Zeit zubringen und kauft dann für viel Geld einen Blumenstrauss, am liebsten einen frischen, lustigen Sommerstrauss, am liebsten mit Wiesenblumen, Margariten, Kornblumen, Huflattich, Günsel und Knabenkraut und allerlei mehr, er soll aussehen wie frisch gepflückt…

Für eine Freundin im Ausland möchte ich auch eine Übersetzung des heutigen Posts ins Englische fabrizieren. Mit Google-Translater? Nie im Leben, das ist unter meiner Würde. Also hirne ich eine halbe Stunde und bringe dieses zu Papier (oder eigentlich zu Bildschirm):
In one of his first books, Martin Suter describes a scene in a bistro: the waiter brings one of the habitués a glass of red wine without being asked – simply because he always orders a glass of red wine…
Das ist – wie ich später feststelle – genau das, was Google-Translater mit drei Klicks fertigbrächte.

Warum handeln wir so? Warum ist die einfache Lösung, das Praktische, das, was wir vor der Nase haben, so schlecht?

Man könnte natürlich hier allerlei verschiedenste psychologische Motive anführen:
Der Habitué Ralph möchte in «Lila, Lila» – um dieses Buch geht es nämlich – sich die Option offenhalten, einmal keinen Rotwein zu wollen, und das, obwohl er seit vier Jahren in die gleiche Beiz geht und immer den gleichen Rotwein trinkt, aber es könnte ja einmal sein, dass…
Einen Wiesenblumenstrauss bei «Bouquet am Markt» zu kaufen vereint zwei Vorteile: In der Strassenbahn geben wir mit der edlen Einpackung des oberedlen Blumengeschäftes an, und zuhause haben wir einen Strauss, der aussieht wie selbstgepflückt.
Und die eigenhändig erstellte Übersetzung macht uns stolz, weil wir eine halbe Stunde unser Gehirn betätigt haben, wir haben lange überlegt, wie wir «Bücher» übersetzen, und sind, nachdem wir «novels», «titels» und «works» verworfen haben, doch wieder bei «books» geblieben.

Alles erklärbar.
Aber eigentlich doch alles Quatsch.

Und genauso ist es nicht ganz verständlich, warum es im offiziellen Leben eben so viel «Rotwein, den ich selbst bestellt habe», «gekaufte Wiesenblumensträusse» und «selbstgeschriebene Google-Übersetzungen» gibt.

Da will zum Beispiel die GFP wissen, wie die Bevölkerung über den Öffentlichen Verkehr in der Region denkt. Und gibt eine Studie in Auftrag. Die (teure!) Studie belegt, dass die Bevölkerung unzufrieden ist – auch kein Wunder, bei nur drei (!) Buslinien und keinen Bahnhof im Landkreis. Man hätte aber auch auf Studien der nähergelegenen Uni aus den Jahren 2015, 2017, 2019 und 2021 zurückgreifen können.
Sie alle kamen übrigens auf dasselbe Ergebnis.
Was nicht erstaunt.

Ein genauso grosser Schildbürgerstreich ist auch die Tatsache, dass der Arbeitsminister in der Weltgeschichte herumfährt, um junge, migrations- und arbeitswillige Menschen aufzutreiben, die bereit sind, ihren Beruf in der BRD auszuüben, oder aber sich in der BRD ausbilden zu lassen. Zum Beispiel in der Pflege. Oder… Oder… Oder… Es fehlt ja überall.
Gleichzeitig fahren die Aussen- und die Innenministerin in der Weltgeschichte herum und halten junge und migrationswillige Leute davon ab, nach Deutschland zu kommen. Am besten wäre ja ein Zaun, aber den bekommt man bei den Grün-Wählern ja nun wirklich nicht durch…
Und man fragt sich nun: Was soll das? Ist das so eine Kiste wie «ich möchte den Migranten, den ich selber bestellt habe»? Ist das so etwas wie «die usbekische Putzfrau ist irgendwie schicker als die afrikanische»? Oder muss der Arbeitsminister sich beschäftigen – so wie die übersetzenden Menschen?
Gut, ich weiss, ich bin wahrscheinlich zu uninformiert. Aber irgendwie komisch ist es schon.

Das, was wir vor der Nase haben, finden wir doof. Wenn wir dann zum nächsten gehen, haben wir dieses aber auch vor der Nase. Also könnten wir zwischen zwei Heubündel verhungern, wie jenes Grautier, das als «Buridans Esel» in die Philosophiegeschichte eingegangen ist.





















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