Dienstag, 18. Oktober 2022

49 Euro-Ticket - Blogpause

In den 70er Jahren war es praktisch unmöglich, von einer Grossstadt (wie zum Beispiel Stuttgart) in ein Dorf wie Bupfingen an der Bupf zu kommen.
Nein.
Das ist jetzt falsch gesagt, es war unmöglich, wenn man so verrückt war, kein Auto zu besitzen – mein Eltern waren so wahnsinnig (oder frühe Umweltschützer?).
Eine weitere Frage ist natürlich, was wir in Bupfingen an der Bupf wollten. Entweder hatten wir Verwandte (und waren so verrückt, diese nicht in die Grossstadt zu beordern) oder wir wollten wandern – da wir kein Auto hatten, mussten wir keine vorgegebenen Rundwanderungen machen, sondern konnten die schönsten Strecken des Mittleren Neckartales, des Schwäbischen Waldes, des Schwarzwaldes und der Schwäbischen Alb von A nach B erlaufen. Und für diese Touren in den Fluren des Mittleren Neckartales, des Schwäbischen Waldes, des Schwarzwaldes und der Schwäbischen Alb bin ich meinem Vater bis heute dankbar – aber ich schweife vom Thema ab.
Wir wollten nach Bupfingen an der Bupf.

Von der Landkarte wusste man, die nächste Zugstation war Sulzbach an der Murr. Wie man dort hinkam, sagte einem der 50 Kilo schwere Wälzer, der bei jedem Verrückten (frühen Umweltschützer) im Regal lag: Dem Kursbuch. Das Kursbuch zeigte einem auf Seite 1235 die Strecke 768 Stuttgart – Crailsheim und wann dort Züge fuhren. In Sulzbach fand man dann den kleinen Hinweis auf einen Anschluss mit dem Bus.
Zwei Fragen blieben: Wann fährt der Bus? und: Kann man beim Busfahrer lösen? Hier half ein Anruf beim Bürgermeisteramt Bupfingen, die Antwort: Ja, an einem Samstag fuhr die Firma Hilpert um 9.50 und 11.50 ab Sulzbach, und: ja, der Busfahrer verkaufte Tickets. Bingo! Zwei Neins hätten das Aus dieser Wanderung bedeutet…

Dann kamen die Verkehrsverbünde!
Die Idee eines Verkehrsverbundes war eigentlich eine tolle Sache. Jetzt konnte man einfach von Stuttgart aus jedes beliebige Ziel ansteuern und Karten im Voraus kaufen. Bupfingen an der Bupf? Kein Problem: Von der Kernzone Stuttgart aus 5 Zonen weit, Einzelticket, Tagesticket, Monatskarte, alles mit Bargeld bezahlbar.
Überall im Land sprossen nun die Verkehrsverbünde aus dem Boden, und sie waren eine wichtige Erneuerung auf dem Weg vom totalen Auto. Aber dann gab es irgendwann zu viele und sie stiessen aneinander und störten sich gegenseitig. Und tun es immer noch…

Nehmen Sie nur mich als Beispiel:
Wenn ich kein GA hätte, sondern mit Monatsabos der Verbünde arbeiten würde, bräuchte ich drei. Ja – drei! Ich startete im TNW, dem Tarifverbund Nordwestschweiz, der mich bis Tecknau bringt. Dann geht es durch den Tunnel und ich bin im Kanton Solothurn, aber Olten hängt nicht am Hauptort, sondern ist Teil des Verbundes Aarwelle, erst nach dem Umsteigen gerate ich dann in den Bereich des Verbundes libero.
Nebenbemerkung: Wer denkt sich eigentlich die blöden Namen aus? libero als Formung der Städte Bern, Solothurn und Biel ist ja noch lustig, und frei will ja jeder sein, Freiheit ist ja etwas Schönes, aber Aarwelle? Wenn man es schlampig ausspricht, ist man schnell bei A-Welle, und A- steht ja häufig für den Po, man hört also immer ein wenig Arschwelle mit.
Oder ist das vielleicht Absicht, ist man da fussballmässig gegensätzlich orientiert und dreht sich das (schon Zürifan seiende) Aargauer Publikum, wenn der Libero der YB (für deutsche Leser: das ist Bern) losrennt, um und formiert mit den Hinterteilen eine umgekehrte La-Ola, eine Aarschwelle?
Aber wir schweifen wieder furchtbar ab.
Wir hatten es von den Verbünden…

Berlin hat nun einen Geniestreich auf den Weg gebracht: Das 49 Euro-Ticket.
Das Neunundvierzigeuroticket bedeutet im Grunde genommen ja das Ende der Tarifverbundmentalität. Niemand, ja niemand hatte den Deutschen das zugetraut: Eine einfache, praktische, billige und kundenfreundliche Lösung.
Ich gebe zu, dass ich neulich über das 9 Euro-Ticket geschimpft habe. Ich nehme alles zurück. Das Neuneuroticket als Versuchsballon für das Neunundvierzigeuroticket war richtig.

Die Sache hat noch einen kleinen (aber nur ganz kleinen) Haken: Es wird Geld kosten. Und man hat noch keine Ahnung wie viel und wo. Giesskannenmässig allen Kommunen nun Subventionen auszuschütten ist sicher der falsche Weg. Denn: Wenn der Berliner mit seinem Abo nun auch in Bielefeld herumfahren kann, ist dieser Fehlbetrag für den Bielefelder Verkehrsbetrieb moBiel (schon wieder so ein Name, bei dem sich mir die Fingernägel kräuseln…) verkraftbar. Anders ist es, wenn jetzt die Bielefelder (wie die Stuttgarter, Sulzbacher, Bupfinger usw.) in Berlin herumfahren, ohne an den Automaten der BVB Geld hineinzuwerfen. Das könnte schmerzen.

Ach ja.
Es gibt noch einen zweiten Haken: Das Neunundvierzigeuroticket lohnt sich nicht für Menschen, die in Orten ohne ÖV-Verbindung wohnen. Und die gibt es immer noch. Und ich zähle hier Dörfer, in den einmal am Tag ein Bus fährt, und am Wochenende keiner, als «Ort ohne ÖV».

Aber insgesamt muss man sagen: Hut ab, Deutschland.
Wann kann man das schon sagen? 

Wir machen nun viermal Pause (am 1.11. der nächste Text), denn ich gehe auf Konzertreise, da ist die Zeit zum Posten knapp. Dafür gibt es dann Impressionen aus Slowenien.



Freitag, 14. Oktober 2022

Sprüche (3): Die Sprüche meiner Lieben


Nicht nur grosse Denkerinnen und Denker wie Theodor W. Adorno oder Pia Frankenberg, wie Hanna Arendt oder Sven Regener hatten Spuren auf meiner Wand hinterlassen. Nein, viele Freunde, Bekannte, viele Kollegen und Schüler, Kommilitoninnen und Nachbarinnen trugen Sprüche bei. Die schönsten vier werde ich heute bringen.

Mit dem Zölibat ist es wie mit dem Offside im Fussball: Es gehört abgeschafft.
Wolfgang Mauler *
(* Name von der Redaktion geändert)

Das ist ein wunderbarer Satz, nicht, weil er hier so klar Stellung zur Abseitsregel bezieht, eine Regel, die ja immer wieder umstritten ist. Nein, bei beiden (ja!) kann man unterschiedlicher Meinung sein. Das wunderbare an diesem Satz ist die Gleichsetzung.
Beide Regeln stehen seit Jahrhunderten fest, und sie scheinen unverbrüchlich und unabänderbar, sie scheinen nicht wegdenkbar oder verschiebbar: Wenn du Eucharistie feiern willst, dann darfst du nicht heiraten, wenn du ein Tor schiessen willst, dann musst du richtig stehen.
Wer könnte nun diese Regel ändern?
Die FIFA und der Vatikan – also die FIFA kann die Fussballregeln ändern und der Vatikan das Zölibat abschaffen, nicht umgekehrt. Und hier stossen wir auf eine interessante Parallele: Beide Organisationen sind auf eine gleiche Weise korrupt, verbrecherisch und verfilzt. Beide Organisationen sind ohne Guillotine nicht reformierbar. Bei der FIFA setzte man auf einen neuen Chef – das war eine bittere Enttäuschung. Bei der katholischen Kirche setzte man auf einen neuen Chef – auch hier Fehlanzeige. Spannend ist nun, dass viele Menschen Verständnis für Kirchenaustritte haben, aber einen Boykott der WM in Qatar für undenkbar halten…

Wenigstens sind wir in den Top Ten.
Mark Groove*
(*Name von der Redaktion geändert)

Dieser herrliche Ausspruch hat eine Rahmenhandlung und Vorgeschichte. Meine Klasse nahm an einer Klassen-Olympiade teil – also sie mussten, weil alle vierte Klassen das machten. Die Olympiade konnte blöder nicht sein: Auf gefühlt den ganzen Landkreis verteilt lauerten Posten, die man mit dem Velo anfahren musste. An diesen Posten konnte man dann auf Mini-Raupen stehend Wasser holen, mit Handtüchern Bälle über eine Schnur werfen, mit kleinen Knetbollen einen Baum treffen und auf dem Kopf stehend auf den Füssen eine Kerze balancieren. Meine Klasse war immer sportlich, sie spielten gerne Fussball und Volleyball, Basketball und Hockey, aber auf Mini-Raupen stehend Wasser holen, mit Handtüchern Bälle über eine Schnur werfen, mit kleinen Knetbollen einen Baum treffen und auf dem Kopf stehend auf den Füssen eine Kerze balancieren, das war ihnen zu doof.
Also wurden wir letzte – von acht Vierten Klassen.
Und dann kommt der herrliche Spruch von Mark – das Glas ist halbvoll, es ist alles gut, alles wird gut, wir sind immer noch unter den zehn besten Teams.
Ich habe leider den Kontakt verloren, aber ich denke, Mark hat es mit seiner positiven Einstellung weit gebracht.

Interpreten sind Verräter.
Igor Strawinski
Transposition ist Blasphemie.
Daniel Lilacker*
(*Name von der Redaktion geändert)

Hier habe ich zwei Sprüche kombiniert. Zwei Sprüche, die sich mit dem Umgang mit Werken beschäftigen.
Der gute Igor meinte mit seinem Spruch, dass ein Werk EINE gültige und richtige Lesart habe und jeder Musiker und je Musikerin, die oder der «interpretiert» ein schlimmes Ding verübt. Was Strawinski ein wenig relativiert, ist die Tatsache, dass er selbst ganz verschiedene Aufnahmen seiner Stücke dirigiert hat. So kann schon mal bei Einspielungen von 1935 und 1955 das Tempo um 20 Metronomstriche auseinanderklaffen…
Daniel legt hier einen drauf: Schon das Herauf- oder Herabsetzen in eine andere Tonart ist für ihn inakzeptabel. Man muss dazusagen, dass Daniel das Absolute Gehör hat, das heisst, dass ihm eine Änderung der Tonart richtig weh tut…

Es kann auch ein klarer Standpunkt sein, keinen klaren Standpunkt zu haben.
Rivad Schul*
(*Name von der Redaktion geändert)

Rivad war ein Klassenkollege von Mark und dieses Zitat fiel in einer Diskussion über die (hoffnungslos veraltete, aber von Gymnasien immer noch verlangte) Form der «Dialektischen Erörterung». Hier – Sie erinnern sich – muss man ja am Anfang festlegen, ob man Pro oder Kontra ist, und dann jeweils mit dem stärksten Pro- oder eben Kontra-Argument enden. Rivad beharrte nun darauf, dass man nun eben nicht zu allen Themen der Welt eine klare Position haben kann. Manchmal bleibt man eben ambivalent und unentschlossen.
Und das ist absolut OK.

So viel zu meinen Sprüchen.

P.S. Der mit dem Absoluten Gehör ist nicht mein Chef.

  

   

 

 

 

 

Dienstag, 11. Oktober 2022

Sprüche (2): Vom Denken, vom Warten und der Gerechtigkeit

Und weiter geht es mit Sprüchen, die mich jahrelang begleitet haben.

Durch Denken stören wir unser Gehirn bei der Arbeit.
Hirnforscher Manfred Spitzer

Das könnte natürlich jetzt sehr falsch verstanden werden. Spitzer, der sich seit Jahrzehnten damit beschäftigt, wie unser Hirn arbeitet und funktioniert, will hier keineswegs einem gedankenlosen Leben den Weg ebnen.
Das wäre auch fatal, es wird ja allgemein zu wenig nachgedacht und nicht zu viel. Aber wie denkt man nach? Genau: Indem man es paradoxerweise nicht tut. Wir alle kennen das Phänomen, uns fällt ein Wort nicht ein, es liegt uns auf der Zunge, aber will nicht heraus. Dann sagen die andern: «Nicht nachdenken, dann kommt es.» Und genau so ist es, nach einer halben Stunde fällt es uns wieder ein, ganz von selber. Ganz von selber? Nein, unser Gehirn hat weitergearbeitet – und wir haben es nicht gestört.
Solches wurde in Amerika auch experimentell bestätigt: Etliche Probanden wurden gebeten, sich für ein Auto zu entscheiden, dabei war die Faktenlage so klar, dass jeder merkte, nur Modell C kommt in Frage (beste Leistung, beste Ausstattung und günstigster Preis). Die eine Gruppe durfte nach Lesen der Tabelle noch eine halbe Stunde nachdenken, die andere wurde nach Sichtung der Fakten am Denken gehindert – durch Kopfrechnen. Und siehe da: Die Nicht-Denk-Gruppe hatte zu fast 100% richtig entschieden, die anderen waren wesentlich schlechter.
Nun kommt aber ein wichtiger Punkt: Unser Hirn bräuchte Zeit.
Und diese Zeit wird ihm leider allzu oft nicht gegeben. Machen wir einen kleinen Test: Was denken Sie nach 2 Sekunden, 2 Minuten und 20 Minuten auf folgende Frage: Wer hat gestern den Tower des Helsinki Airport beschädigt? Nach 2 Sekunden denken Sie: Die Russen. Nach 2 Minuten meinen Sie, dass man erst die Ermittlungen abwarten muss – und nach 20 Minuten kommen Sie darauf, dass der Tower gar nicht beschädigt wurde. Ich habe das erfunden.

Dynamisch warten!
Aktiv sitzen!
Entschlossen schlafen!
Graffito unbekannter Herkunft

Grossartig, nicht? Natürlich nur, wenn man die Inschrift, als das nimmt, was sie ist, als Konter auf unsere ständig betriebsame und hektische Gesellschaft, in dem jeder, der einmal innehält und nachdenkt, schon als Faulpelz dasteht. (siehe oben).
Wenn also jemand wartet, kann er sagen, er warte nicht einfach so, sondern dynamisch. Man sitzt nicht einfach da, sondern tut es aktiv. Und schlafen ist ein wichtiger, entschlossener Vorgang.
Mir kommen da diverse Anklänge in den Sinn.
In Warten auf Godot wird 3 Stunden gewartet (übrigens umsonst, denn Godot kommt ja am Ende von beiden Akten NICHT…), aber wie dynamisch wird da gewartet, Hüte werden getauscht, Schuhe werden ausgezogen und allerlei Clowneskerien zelebriert – und vom Emsland geträumt, in dem es wirklich so schön ist, wie es in der deutschen Fassung heisst (siehe die Posts vom Sommer).
Und «einfach nur dasitzen»? Wer hat das schöner auf den Punkt gebracht als Loriot, der in seinem Sketch Feierabend eine Frau ihren Mann in die Verzweiflung treiben lässt, weil er einfach nur sitzen will…
Und entschlossen schlafen? Erda macht das. Ihr Schlaf ist Träumen und ihr Träumen ewiges Wissen. Na also.

Rochdale war eine sehr gerechte Stadt, die überall gleich beschissen aussah.
Sybille Berg, GRM

Das ist nicht die Gerechtigkeit, die man sich vorstellt.
Sie wird aber genauso praktiziert. In den Sekundarschulen in Baselland haben die Pensenleger (für Nichtkundige: Das sind die Lehrer, die die Stundenpläne und die Raumverteilung machen) den Auftrag, alle Lehrpersonen gleich zu behandeln, jede hat das Recht auf zwei freie Halbtage. Ergäbe sich nun für eine die Möglichkeit, einen dritten Halbtag zu bekommen, wird dies aus Gerechtigkeitsgründen vom Pensenleger verhindert, er verschlechtert künstlich den Stundenplan, dass es nur zwei Halbtage gibt.
Und als vor Jahren die Klassenlehrpersonen forderten, eine Stunde weniger zu unterrichten (wer wie ich den Job einmal gemacht hat, weiss, wie gerecht das wäre), machte das Amt etwas sehr Gerechtes: Sie erhöhten das Deputat der Nicht-KL um eine Stunde.
Zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre.

Frauen können einen Orgasmus vortäuschen, Männer eine ganze Beziehung.
Lizzy Aumeier

Diesem wunderbaren Satz der oberpfälzer Musikerin und Kabarettistin ist nichts hinzuzufügen.

Am Freitag die letzte Chose mit Sprüchen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis.  

     

 

 

 

Freitag, 7. Oktober 2022

Sprüche (1): Von Flurspiegeln und fettem Essen

Ich habe neulich von meiner Sprüchewand geschrieben. Die Sprüchewand, die mich immer begleitete und die in der neuen Wohnung keinen Platz hat. Ich möchte in den nächsten Posts die 12 (heilige Zahl) schönsten Sprüche vorstellen und kurz darüber nachdenken.
Und los geht`s:

Wo warst du denn!? Ja, nee, Entschuldigung, mein Flurspiegel hat mich nicht vorbeigelassen.
Susanne Betancor, Damenbart

Wunderbar, wie die Autorin und Kabarettistin Betancourt (die übrigens als Schriftstellerin «Susanne» und als Kabarettistin «Popette» heisst) in ihrem Roman, in dem eine Frau mit ihrer Oberlippenbehaarung kämpft, eine Sache auf den Punkt bringt, die wir alle kennen: Wir sind spät dran, wir sollten schnell aus dem Haus, aber wir können nicht anders, wir werfen einen Blick in den Spiegel. Und da sehen wir es: Unsere Jacke hat einen Fleck, wir sind schlecht rasiert, die Haare sind nicht gekämmt, das Hemd passt nicht zum Schal und die Schuhe sind von zwei verschiedenen Paaren. Und weil unsere Jacke einen Fleck hat, wir schlecht rasiert sind, die Haare nicht gekämmt sind, das Hemd nicht zum Schal passt und die Schuhe von zwei verschiedenen Paaren sind, müssen wir sehr viel ändern und werden uns stark, stark, sehr stark verspäten.

Sie wollte jetzt vor allem Alkohol.
Und fettes, ungesundes Essen.
Und von allem viel.
Pia Frankenberg, Klara oder die Liebe zum Zoo

Herrlich nicht? Gibt das nicht wunderbar das Gefühl wieder, das wir manchmal an einem Abend haben, einem Abend nach einem Tag, an dem so alles schiefgelaufen ist. Ein Tag, der uns unsere Grenzen aufgezeigt hat und uns unsere Mitmenschen als Halbgötter dargestellt hat. Klara – die Heldin des wunderbaren Buches – bekommt nichts auf die Reihe, an diesem Tag ist sie am Besuch im College ihres Sohnes gescheitert, während alle anderen Frauen die perfekten amerikanischen Mütter waren. Das ist ja auch noch das Schöne: Das spielt in Amerika, wo Alkohol und fettes Essen ja so verpönt wie Heroin sind.
Schade, dass Frankenberg so wenig schreibt – gut, als Penaten®-Erbin muss man das ja auch nicht…

Weisst du was?
Auf dem Sterbebett wünscht sich niemand, er hätte mehr Zeit im Büro verbracht.
Graeme Simsion, Der Rosie-Effekt

Auch das ein wunderbarer Satz. Ich weiss nicht mehr, in welchem Zusammenhang er in dem reizenden Buch über die grosse Liebe eines Asperger-Nerds vorkommt, aber ich denke, er ist nur allzu wahr.
Ich diskutiere immer wieder mit Jugendlichen, die bei der KKB ein Probenlager oder eine Tournee verpassen wollen, um bessere Schulnoten zu haben. Meist sind das natürlich junge Männer, bei denen die Versetzung in keinster Weise gefährdet ist und auch die Matura so gut wie in der Tasche. Es wird halt, wenn man mit zum Proben ins Wallis kommt UND auf die Reise nach Honolulu, nur die elftbeste und nicht die zweitbeste Matura der Schule. Aber ich stelle den Jungs dann immer die eine Frage: «Woran wirst du dich in dreissig Jahren erinnern?»
Das gilt genauso für den Job. Wenn das Leben zu Ende geht, werden wir an Freundschaften denken, an Feste, an Reisen, wir werden uns an schöne Momente, an helle Himmel und klare Nächte, die wenigsten werden denken: «Ich hatte so einen tolles Büro, schade, dass ich ab 65 nicht mehr arbeiten durfte.»
Lassen wir also nicht zu, dass uns die Arbeit auffrisst.

Mein schriftstellerischer Albtraum wäre es, in einer Buchhandlung ein Buch mit dem Titel „Trost bei Dürrenmatt“ zu finden.
Dürrenmatt im Gespräch mit H. L. Arnold 1975

Herrlich, wie der alte Zyniker und Bärbeisser hier eine Sache auf den Punkt bringt. Nein, Dürrenmatt, der in der Vorrede zu den Physikern schreibt: «Eine Geschichte ist dann zu Ende erzählt, wenn sie ihr schlimmstes Ende genommen hat.», will sicher nicht als Trostspender verstanden werden.
Was nicht heisst, dass Dürrenmatt im Privaten ein bösartiger Mensch war – und vielleicht haben die vielen Leute, die er zum Essen einlud, für die er seinen Weinkeller plünderte und um 2.00 nachts noch Knoblauchsuppe kochte, ein wenig Freude und damit auch ein wenig Trost gefunden. Aber eben in seinen Suppen und nicht in seinen Büchern. 

Am Dienstag mehr...





 

 

 

 

 

Dienstag, 4. Oktober 2022

Mein Umzug (3): Überflüssige Dinge, neues Quartier und geputzte Wohnung

Die überflüssigen Dinge

Es ist erstaunlich, dass es bei mir schon wieder überflüssige Dinge gab, also Dinge, die man lange nicht in der Hand hatte, die am alten Ort keinen Platz hatten und am neuen auch nicht, Dinge, die man vors Haus legt und hofft, dass sie jemand mitnimmt.
Das ist deshalb so erstaunlich, weil ich 2018 vor meinem Umzug in die Leimenstrasse ausmistete. Und 2020 während des ersten Lockdowns nochmals.
Nehmen wir also ein kleines Beispiel: Wie hat es die blaue Kerze in Delphinform zweimal geschafft, meinen Argusaugen zu entgehen? Ich habe die Kerze nie schön gefunden; als meine Kusine zweiten Grades Lola sie mir zum fünfzigsten Geburtstag schenkte, war klar, das Ding kommt in irgendeine Kiste und bei der nächsten Gelegenheit… Diese Gelegenheit war 2018 beim Zügeln. Wie um aller Himmels Willen hat der Delphin es abermals in eine Umzugskiste geschafft? Dies wird ob seines Kitsches und seiner überbordenden Scheusslichkeit wohl ein Mysterium bleiben. Und dann der Lockdown, auch hier hätte er verschwinden müssen, es gab keinen Grund ihn wieder in die Tiefen des Schrankes zurückzulegen.
Jetzt aber beim Einpacken habe ich ihn erwischt. Als ich ihn in meinen erbarmungslosen Händen hielt, war klar: Du kommst vor die Türe.
Und das kam er dann auch, in eine Kiste mit der Aufschrift GRATIS, zusammen mit dem violetten T-Shirt, auf dem SUPER DAY stand, zusammen mit drei Büchern von Hera Lind (wer hatte mir die um Himmels Willen geschenkt?), mit einem Fläschchen rosa Entspannungsöl und einer grün-gelb-gestreiften Kaffeetasse. Was nicht für mein Quartier spricht: Alle Scheusslichkeiten waren innert Minuten mitgenommen…

Das neue Quartier

Wer von Brooklyn nach Queens zieht, zieht in eine neue Stadt. Nichts ist dort bekannt oder vertraut, man war vielleicht sogar noch nie in diesem Borough, ja sogar die Sprache ist verschieden, der Brooklyner wird sich noch lange wie Petrus anhören müssen «…denn deine Sprache verrät dich…».
Wer von Köpenick nach Spandau zieht, zieht in eine neue Welt. Nicht ganz so schlimm wie in NY, immerhin war man schon einmal am Müggelsee oder in der Zitadelle, auch sprachlich ist es das Gleiche, aber es ist eine neue Sache. Man muss lernen, welche Busse wo fahren, wo es Cafés und Kneipen gibt, man weiss noch nicht, wo der ALDI ist und man muss den Friseur, die Buchhandlung und die Wäscherei wechseln.
Nicht so in Basel, die Stadt ist klein, gerade während der Corona-Zeit haben wir in Spaziergängen fast jedes Quartier kennengelernt. Wir können, auch wenn wir am neuen Ort wohnen, unsere Apotheke, unsere Buchhandlungen (ja, jeder hat seine) und unsere Ärzte behalten, wir müssen unser Leben nicht völlig neu organisieren, gut, wir haben eine neue MIGROS und ein neuen DENNER, aber so what.
Und dennoch…
Und dennoch…
Die versteckt liegende Strasse ist irgendwie etwas völlig Eigenes, viele kennen dieses Strässlein nicht und auch der Taxifahrer, der uns nach der Wohnungsübergabe hierher fährt, ist noch nie in diese Strasse gefahren. Ein neues Quartier. Eine neue Welt.

Die Wohnungsübergabe

Ich meine jetzt die der alten Wohnung. Und hierfür muss ich ein wenig ausholen: Wir wurden ja zum Umzug gezwungen, denn die Einheiten am alten Ort werden völlig neu gestaltet werden.
Nein.
Das ist jetzt ein Euphemismus.
Es werden aus traumhaften 50er Jahre-Wohnungen mit 4 Zimmern kleine moderne Appartements mit 2-3 Zimmern gemacht, also alle Wände einreissen, alle Böden raus, alle Küchen raus, alles neu, aber nicht alles schön…
Die Wohnungsgesellschaft versuchte nun jetzt, unsere Wohnungen noch befristet bis Ende Juni 2023 zu vermieten. Ohne Erfolg – Basel hat keine solche Wohnungsnot, dass Menschen nur für 9 Monate in ein neues Heim ziehen. Was würde jetzt bei der Wohnungsübergabe sein? Muss man einen Herd totalreinigen, auch wenn (fast) klar ist, dass niemand mehr drauf kocht? Muss man Fenster putzen, durch die niemand mehr schaut? Muss man Badewannen schrubben, in die niemand steigen wird?
Juristisch ist das eine Grauzone. Denn es KÖNNTE ja sein, dass die Wohnungen noch an den Mensch kommen, es KÖNNTE sein, dass jemand duschen und kochen und fenstergucken will, und dann muss das Ding besenrein sein.
Gut. Besenrein war es – fast. Das ist bei mir Ehrensache. Aber die Fenster waren nicht geputzt und der Backofen hatte noch Flecken.
Und wir mussten nur die Schlüssel übergeben.
Wunderbar.

So viel zum Umzug – ab Freitag gibt es ein paar Auszüge aus meinen nicht mehr existierenden Sprüchen.