Dienstag, 18. Dezember 2018

Unbekannte Organe (6): Ein tolerantes Weihnachten / Blogpause bis 8.1.


Wir haben nun fünf originelle Organe angeschaut, drei davon hat jeder Mensch, zwei sind Anomalien, aber alle sind für ganz spezielle Dinge verantwortlich. Und nun lassen Sie uns die Quintessenz finden, und sie ist leicht gefunden, und sie ist eine weihnachtliche: Lasst uns toleranter sein, denn jeder und jede ist nur ein Sklave oder eine Sklavin seines oder ihres Körpers. Gerade an den Festtagen ist diese Info immens wichtig.

Ärgern Sie sich nicht, dass Oma oder Grosstante Sie wieder mal mit einem Billiggeschenk abspeist, aber ihr Herz für die Schnabelbären in Gubundi entdeckt und dem Schnabelbären-Projekt 4500.- überwiesen hat. Sie kann es ja selber nicht verstehen, aber wir inzwischen schon: Ihre Porpelsheim-Drüse hat in dem Moment, in dem ihr der junge Wir-stehen-am-Bahnhof-Mann Bilder von Schnabelbären-Jungen zeigte, so viel Pietomin ausgeschüttet, so viel Mitleidshormon, dass sie einfach nicht anders konnte.

Ärgern Sie sich nicht, dass Vetter Louis am Heiligen Abend zu spät kommt, weil sein Chef ihn zu Überstunden verdonnert hat, Louis hat auf die Frage, ob er am 24.12. länger arbeiten könne, einfach genickt, sein La Gouche-Muskel hat seinen Kopf hinabgezogen, ob er wollte oder nicht, wir wissen ja inzwischen, dass jener Muskel vegetativ gesteuert ist und nicht dem menschlichen Willen unterliegt.

Ärgern Sie sich auch nicht, dass ihr Enkel Ihnen beim Brunch am Stephanstag nicht zuhört. Wahrscheinlich hat er einen Van Guitenbrug-Lappen, der ihm vor die Ohren rutscht, vielleicht hat er aber auch seine Kopfhörer drin, das wäre dann etwas unfreundlich.

Genauso wenig sollten Sie sich über die Tischdekoration bei Tante Frieda am Ersten Weihnachtstage ärgern, auch wenn Sie die goldenen Engelchen, die silbernen Väschen mit Tannenzweigen, wenn Sie all das Rot und Blau und all das Geblinke und Geblanke, wenn Sie den Santa Claus am Fenster und das Lametta am Baum nicht ertragen, wenn all der Kitsch und Schund in Ihnen einen Brechreiz auslöst, der eindeutig nicht von der Gans oder der Ente kommen kann, wenn Sie ob den Farben und dem Gespiegel am liebsten aus dem Fenster springen würden: Die O’Neill-Drüse von Tante Frieda hat ganze Arbeit geleistet und diese so mit Glitzerogen überschwemmt, dass sie einfach nicht anders kann.

Seien Sie auch nicht auf Ihren Grossneffen Luccy böse, der mit aufgeschnittenen Hosen am Heiligen Abend erscheint. Nehmen Sie einfach an – obwohl das sehr, sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich ist, dass der gute eine Manzoni-Haut hat, die ihm die Knie so heizt, dass er die Kühlung an seinen Gelenken braucht.

Seien wir tolerant an Weihnachten.
Wir können alle nichts dafür, dass wir so sind.
Wir sind nur Ergebnisse unserer Organe.
Unserer Hormone.
Unserer Drüsen.
Unserer Physis.

Alles ist entschuldbar und zu entschuldigen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein frohes Fest und einen guten Rutsch. Der Blog macht Pause bis zum Dreikönigsfest, am 8.1. lesen Sie mich wieder.












Freitag, 14. Dezember 2018

Unbekannte Organe (5): Die Manzoni-Haut oder: Warum wir unsere Hosen aufschneiden


Kennen Sie die Manzoni-Haut?
Nicht? Aber da sind Sie in guter Gesellschaft.
Die meisten Leute kennen diese Haut nicht.
Die meisten Menschen haben sie auch nicht, denn die Manzoni-Haut, die man auch schlicht und einfach als Knie-Heizung bezeichnen könnte, ist eine Anomalie, die nur bei einer von 6000 Personen vorkommt. Wenn Sie also die Manzoni-Haut weder kennen noch haben, sind Sie völlig normal.

Das Spannende ist, dass die Manzoni-Haut zu einer Modetorheit geführt hat, die immer weiter grassiert. 2013 kam ein ca. 25jähriger Patient zum Mailänder Orthopäden Dr. Antonio Manzoni und klagte über ein ihn störendes Wärmegefühl in beiden Knien. Manzoni untersuchte den Mann gründlich und fand eine bisher nicht klar diagnostizierte Anomalie, die in der Fachliteratur seitdem seinen Namen trägt: Bei dem jungen Lombarden spannte sich über beide Knie eine Extrahaut, die sehr stark durchblutet war und jene wie eine Heizung mit Wärme versorgte. Da kein Medikament half und eine Operation sehr aufwändig und sehr teuer gekommen wäre, gab der Arzt dem Patienten einen ganz simplen Tipp: Er solle doch an seinen Hosen die Knieregion aufschneiden und so die Stellen mit kühler Luft versorgen. Der junge Lombarde schaute ihn verdriesslich an: «Und wenn mich dann alle auf der Strasse blöd anglotzen?» «Dann sagen Sie einfach, es sei Mode.»

Gesagt, getan, ein paar Tage später wandelte Luca Giorgese, jetzt müssen wir doch mal seinen Namen verraten, mit aufgeschnittenen Knien durch die Mailänder Strassen. Nun war Giorgese nicht unbedingt das, was man als unansehnlich bezeichnen würde. Anders formuliert: Er war bildhübsch. Mit seinen strahlenden Augen, seinen pechschwarzen Haaren, mit seiner schlanken Taille und seinen muskulösen Armen hätte er ohne weiteres als Model oder als Filmstar arbeiten können. So musste Luca die Ausrede mit der Mode gar nicht bringen, bei einem solchen Beau, bei einem solchen Adonis, einer solchen Schönheit, nach der sich sowohl Frauen als auch Schwule umdrehten, nahm man einfach an, es sei eine neue Kreation der Mailänder Couture. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Signore Giorgese an der Manzoni-Haut litt.

Schon wenige Tage später sah der junge Mann mit Erstaunen, dass viele junge Menschen ihn imitierten und sich auch die Knie aufgeschnitten hatten. Er rief Dr. Manzoni an und fragte, ob es denn möglich sei, dass noch mehr Menschen eine solche Haut hätten. Der Arzt verneinte, er habe die letzten Tage extrem viel recherchiert und mit Kollegen telefoniert, es sei eine seltene Anomalie und es sei unwahrscheinlich, dass mehr als ca. 5 Leute in der ganzen Region sie hätten. «Aber warum laufen die dann auch so herum?» «Weil die bei einem so hübschen Kerl wie Sie es sind einfach annehmen, dass es eine neue Mode ist, darum.» «Aber wenn die keine Knie-Haut-Heizung haben, müssen die doch höllisch frieren, immerhin ist es Februar.» «Na ja», grunzte der Mediziner, «Sie kennen doch den Spruch Wer schön sein will, muss leiden, Signore Giorgese.»

Zwei Wochen später betrat ein Kunde die Boutique Bella e Bello in der Mailänder Innenstadt und verlangte ein Paar Jeans mit aufgeschnittenen Knien. Giuseppe Tartuffo, der Besitzer, musste zugeben, dass er solche nicht führe. Als der enttäuschte Kunde den Laden ohne Kauf verliess, beschloss jener, dass er diesem Problem Abhilfe schaffen müsse, er nahm einen Stapel Hosen aus dem eher niedrigpreisigen Segment und machte Schnitte hinein, dafür setzte er die Jeans von 59.- Euro auf 159.- hoch und hängte sie ins Schaufenster. Nach ein paar Stunden rannten ihm die Leute den Laden ein. Nun brachen die Dämme: Sämtliche angesagten Läden, La Bellezza, Uomo, Gatto Blu, La Dea usw. zogen nach und die Mailänder Innenstadt füllte sich mit jungen Menschen, die in dämlicher Art und Weise ihre Hosen selbst aufgeschnitten hatten oder aufgeschnittene gekauft hatten.

Nun gibt es Mailand ja auch durchaus Touristen, es gibt solche, die die Lombardische Hauptstadt anschauen wollen, es gibt aber auch solche, die Mailand als Anfangspunkt einer Reise benutzen, solche, die in Milano Centrale ankommen, um dann nach Venezia Santa Lucia oder Roma Termini weiterzufahren, ein paar Stunden aber nutzen, um der Innenstadt ein wenig zu bummeln. Alle sie sahen die komischen offenen Knie, und alle dachten das Gleiche: «Es sieht völlig bescheuert aus, aber wenn die Mailänder das tragen…» So kamen viele nach Brüssel und London, nach Berlin und Zürich, kamen viele nach Paris, Amsterdam oder Wien zurück und hatten die Knieregion ihrer Jeans mit einem Schnitt verziert.

Nun endlich musste die Textilindustrie reagieren. Krisensitzungen fanden statt, Pläne wurden geschmiedet und verworfen, es wurde geredet und getagt, und nach einigen Wochen war klar: Die Industrie muss solche Hosen produzieren. Nun kann ein Schnitt von einer Maschine ja viel präziser gesetzt werden als von einer menschlichen Hand, das heisst, es konnte auch klar ersichtlich gemacht werden, ob es ein Originalschnitt oder ein Selbstschnitt ist. Demensprechend konnte man auch viel mehr Kohle verlangen. Ausserdem würde natürlich niemand Versace® oder Gucci®, würde niemand Boss® oder s.Oliver®, niemand Levi's® oder Wrangler® zerschneiden, aber wenn die Labels das selber machen? So zahlte man ohne mit der Wimper zu zucken 395.- für eine kaputte Hose, wenn sie nur von einer anerkannten Modefirma kaputtgemacht worden war.

In diesem Frühjahr bekam Luca Giorgese einen Anruf von Dr. Manzoni: Es sei nun endlich ein Mittel gegen das Manzoni-Knie entwickelt worden, nicht ganz ohne seine Mithilfe, wie der Orthopäde bescheiden hinzufügte, da die Anomalie aber so selten sei, sei es teuer und Giorgese müsse es selber zahlen. Luca entschied sich sofort dafür, trotz hohem Preis und dank FREDDOZYN®  läuft der junge Lombarde wieder mit ganzen Hosen durch seine Stadt und wundert sich über die vielen aufgeschnittenen Hosen…

Dienstag, 11. Dezember 2018

Unbekannte Organe (4): Die O'Neill-Drüse (die Kitsch-Drüse)


Kennen Sie die O’Neill-Drüse?
Nicht? Aber da sind Sie in guter Gesellschaft.
Die meisten Leute kennen diese Drüse nicht.
Die von dem amerikanischen Anatomen Frank O’Neill (*1853 in Pittsburgh, gest. 1928 in New York) im Jahre 1904 entdeckte Drüse ist ein im Nebengallenmark beheimatetes Organ, das das ebenfalls von O’Neill entdeckte Hormon Glitzerogen ausstösst. Das Glitzerogen wiederum ist dafür verantwortlich, dass bei uns gewisse Wahrnehmungen im ästhetisch-optischen und im ästhetisch-akustischen Bereich ausser Kraft gesetzt werden. Anders formuliert:
Das Glitzerogen ist das Kitsch-Hormon.
Und die O’Neill-Drüse ist die Kitsch-Drüse.  

Uns allen ist das Phänomen bekannt: Wir gehen durch ein Kaufhaus und sehen irgendeinen Gegenstand, der alle unsere ästhetischen Grundsätze in Grund und Boden stampft, sie mit Fäusten schlägt, der unsere Schönheitsmaximen beleidigt, sie negiert und ihnen Hohn spricht, wir sehen eine Sache, die glitzert und glutzert, die farblich und formal eine Geschmacklosigkeit ist und…
und…
und…
kaufen sie.
Zuhause stellen wir erschrocken fest, so wie ein Mörder nach der Tat, dass wir ein Plastikhündchen mit silbernem Glitzerarmband oder einen rosa Papierblumenstrauss, dass wir 15 Rosina Wachmeister-Postkarten oder ein Junges-Paar-vor-Palmen-im Sonnenuntergang-Poster erworben haben.  

Uns allen ist das Phänomen bekannt: Wir zappen durch die TV-Kanäle und stossen auf irgendeinen Film, der alle unsere ästhetischen Grundsätze in Grund und Boden stampft, sie mit Fäusten schlägt, der unsere Schönheitsmaximen beleidigt, sie negiert und ihnen Hohn spricht, wir stossen auf eine Schnulze, die von Klischee zu Klischee hüpft, untermalt von vibrierenden Geigen und…
und…
und…
schauen uns den ganzen Film an. 95 Minuten Ich brauche dich so sehr nach Rosamunde Pilcher.

In beiden Fällen hat die O’Neill-Drüse ganze Arbeit geleistet, das Nebengallenmark hat Tonnen von Glitzerogen ausgeschüttet und unseren Körper mit dem Kitschhormon förmlich überschwemmt.

O’Neill fand aber ganz erstaunliche Tatsachen über die Drüse heraus, in seinen 1906 veröffentlichten Studies about the function of Glitzerogen, wies er zwei wichtige Fakten nach, nämlich dass erstens das Kitschhormon in Beziehung zu Liebes-, Gefühls- und Geschlechtshormonen steht und dass zweitens die O’Neill-Drüse bei mangelndem UV-Licht besonders viel produziert. Anders formuliert:
Wenn wir verliebt sind und im Dezember wird unser Körper von Glitzerogen überflutet.

Sind Sie gerade verliebt? Nun, dann sind Sie machtlos ihrem Nebengallenmark ausgeliefert, Sie kaufen rosa Röschen mit roten Herzchen dran, Sie freuen sich über Kärtchen mit himmelblauen Wölkchen drauf, Sie backen Kuchen mit violettem Zuckerguss und schreiben I LOVE YOU drauf, Sie haben alle ihre Bauhaus- und Corbusier-, Ihre Schlichtheits- und Formfollowsfunction-Grundsätze über Bord geworfen und suhlen sich im Kitsch.

Genauso mit Weihnachten.
Eigentlich müsste ein denkender und normal fühlender Mensch bei einem auch nur halbstündigen Gang durch die Innenstadt von einem Schreikrampf in den anderen fallen, da hat ein Basler Kaufhaus sein Gebäude innen und aussen mit ca. 5000 silbrig glitzernden Diskokugeln verziert, da tanzen in weisse Gewänder gehüllte Engelein durch die Strassen, da hängen überall blinkende Tannenbäumchen und Sternchen, da ist jede Ecke und jeder Winkel dermassen verkitscht, dass einem übel werden sollte.
Aber die O’Neill-Drüse pumpt und pumpt und pumpt und pumpt…
Und wir finden die Diskokugeln herzig und lächeln die Engelein an und reissen die Tannenbäumchen NICHT von den Wänden und zerstören die Sternlein NICHT, sondern stimmen auch noch Stille Nacht und Süsser die Glocken an und freuen uns, wenn aus einem Lautsprecher auf dem Weihnachtsmarkt Last Christmas oder Winter Wonderland dudelt.

Es gibt gegen das Glitzerogen kein wirkliches Gegenmittel, natürlich könnte man mit Testosteron- oder Östrogenblockierern arbeiten, um sich gar nicht mehr zu verlieben, aber wer will das schon? Im Dezember würde die Bestrahlung mit künstlichem UV-Licht nützen, wer also Zeit für eine halbe Stunde Solarium pro Tag hat, kann sich ein wenig schützen.

Aber Pillen gegen den Kitschschub gibt es nicht.