Dienstag, 31. Mai 2022

SBB am Ende oder: Die Züge sind das Problem

Da habe ich jetzt einen ganzen Post über die Verschiebungen auf der Passerelle geschrieben. Also den vom letzten Mal. Einen ganzen Post.
So, als ob das ein Problem wäre.
Zugegeben, das ständige Bäumchen-Wechsel-Dich auf der Passerelle, auf jener Überführung, die von der Schalterhalle über die Gleise zum Hinterausgang führt, jener Lädentausch ist lustig, aber er ist nicht das Problem.
Nein, das Problem sitzt tiefer.
Das Problem sind die Züge.

Ich meine damit jetzt nicht, dass die Züge die Ursache für das Wechseln auf der Passerelle sind, so im Sinne eines Organs, Leber oder Galle, die erkrankt einen Hautausschlag als Symptom entwickeln, sondern ich meine es im Sinne eines Hauses, in dem im 2. Stock ein schwieriger Mensch wohnt, aber im ersten Stock ein ganz schwieriger.
Das Problem ist ebenerdig.
Das Problem sind die Züge.

Schauen wir doch einmal Statistiken an:
Der absolute Grossteil der Nicht-Zugfahrer in der Schweiz ist der Meinung, dass die SBB einen guten Job macht, die Züge sind pünktlich und ordentlich, die DB aber einen schlechten, die Züge sind pfui und unpünktlich.
Der absolute Grossteil der Nicht-Zugfahrer in Deutschland ist der Meinung, dass die SBB einen guten Job macht, die Züge sind pünktlich und ordentlich, die DB aber einen schlechten, die Züge sind pfui und unpünktlich.
Der absolute Grossteil der Zugfahrer in Deutschland ist der Meinung, dass die SBB einen guten Job macht, die Züge sind pünktlich und ordentlich, die DB aber einen schlechten, die Züge sind pfui und unpünktlich.
Der absolute Grossteil der Zugfahrer in der Schweiz ist der Meinung, dass die DB eine Katastrophe ist mit Zugverspätungen bis 3 Stunden und vollen, dreckigen Zügen, und dass allerdings die SBB einen guten Job
…machte
Und dass die Züge sauber und pünktlich
…waren

Wem glauben wir nun?
Glauben wir einem deutschen Nicht-Zugfahrer oder glauben wir dem gehbehinderten Basel-Olten-Pendler, der jeden Tag einen Umweg von 70 Metern zum Lift machen muss, weil die Rolltreppe bei Gleis 9 immer noch nicht (!! Post von vor 4 Wochen) repariert ist?
Glauben wir dem Schweizer Nicht-Zugfahrer oder glauben wir dem Zürich-Winterthur-Pendler, dessen S-Bahn seit Monaten nicht pünktlich gefahren ist und der in Winterthur einen olympiareifen Spurt hinlegen muss, um den Vorortbus zu bekommen?
Glauben wir dem deutschen Zugfahrer oder dem Solothurn-Emmental-Pendler, der ja nicht mit voller Blase in den Bummelzug steigen darf, weil das Zugklo aussieht, als hätte es etwas Falsches gepostet und einen Shitstorm abbekommen?
Wem glauben wir?

Als ich neulich in Solothurn auf die S20 auf Gleis 1 um 12.16 wartete und nach dem 12.01 Richtung Zürich nicht meine S-Bahn, sondern der 11.34 nach Zürich kam, da wusste ich:
Wir haben deutsches Niveau erreicht.
Dieses Phänomen, dass Züge, die fahrplanmässig VOR anderen fahren, dann NACH diesen anderen in den Bahnhof einlaufen, kannte ich bisher nur von Deutschland.

Die SBB befindet sich qualitätsmässig auf einem Sinkflug, auf einer schiefen Ebene, in freiem Fall und im Lift nach unten.
Warum ist das so?
An was liegt es?
Vielleicht – und das ist jetzt aber nur eine ganz vage Vermutung – liegt es am Geld. Vielleicht müsste man Leute anstellen, die die Klos putzen – die wollen aber Lohn. Vielleicht müsste man jemand haben, der Rolltreppen repariert und Weichen ersetzt – der will aber auch Lohn. Und vielleicht müsste man ein paar Teilstrecken noch besser ausbauen, all das kostet.
Ich sage das jetzt nur mit vorgehaltener Hand: Ich zahle 335.-- pro Monat für mein GA, das ja nicht nur für die Züge, sondern auch für Busse, Bergbahnen, Trams und Schiffe gilt. Ich wäre auch bereit, 400.-- zu zahlen, wenn damit eine Deutschisierung (oder DBisierung) der SBB aufgehalten würde.

Einen ganzen Text habe ich über die Verschiebungen auf der Passerelle geschrieben. Einen ganzen Post.
So, als ob das ein Problem wäre.
Zugegeben, das ständige Hin und her und her und hin, das Bäumchen-Wechsel-Dich auf der Passerelle, auf jener Überführung, die von der Schalterhalle über die Gleise zum Hinterausgang führt, ist lustig, aber er ist nicht das Problem.
Nein, das Problem sitzt tiefer.
Das Problem sind die Züge.
Das Problem ist die SBB.





Freitag, 27. Mai 2022

Der Passerellen-Tango

 Dialog neulich zwischen zwei Freunden:

„Also, da gehe ich neulich im Bahnhof zu BOBO, und ich…“
„BOBO? Der Spieleladen?“
„Genau.“
„Wo ist im Bahnhof ein BOBO?“
„Auf der Passerelle. Bei Gleis 11.“
„Da ist doch Bad&Expensiv.“
„Nee, nee, Bad&Expensiv ist inzwischen bei Gleis 9. “
„Bei Gleis 9? Da ist doch der Kiosk?“
„Nee, der ist weg, ganz weg.“
„Wollte der nicht zu Gleis 4?“
„Ja, aber bei Gleis 4 wird umgebaut. “
„So wie an Gleis 5 und 7 und 6?“
„Genau, und wenn an Gleis 5 fertig ist, kommt da der Schokoladenladen hin.“
„Der von Gleis 10?“
„Ja. Und bei Gleis 7 und 6 kommt ein Riesen-COOP.“
„Ein neuer?“
„Ja.“
„Das alles ist ganz schön bescheuert.“
„Ok, aber das sind die Tango-Spielregeln.“
„???“
„Passerellen-Tango. Die Regen gehen folgendermassen:
Erstens:
Kein Geschäft darf länger als drei Jahre auf der Passerelle sein. Dabei kann es vorher und hinterher im Bahnhof existieren, also in der Schalterhalle oder im Westflügel, aber eben nicht oben auf dem Zugang zu den Gleisen.
Zweitens:
Auf der Passerelle darf ein Geschäft nur ein Jahr an der gleichen Stelle sein.
Drittens:
30% der Plätze müssen stets im Umbau sein. Dabei ist es egal, ob die Mauern eingerissen, oder nur die Wände gestrichen, egal, ob die Küche umgebaut wird oder nur neue Fenster eingesetzt werden. Hauptsache, die Bude liegt brach."
„Das ist so wie bei der 3 Felder-Wirtschaft?“
„Genau. 1/3 des Jahres muss ein Laden brach liegen und sich erholen. Aber weiter:
Viertens:
An der gleichen Stelle darf nach einem Umbau nicht die gleichen Produkte angeboten werden.“
„Heisst, wenn ich bei Gleis 4 einen Kaffee bekam, dann bekomme ich NACH einem Umbau bei Gleis 4 nur Kaltgetränke?“
„Genau so. Und noch
Fünftens:
Auf der Passerelle dürfen niemals sinnvolle Dinge angeboten werden, daher z.B. keine Apotheke oder ähnliches.“
„Heisst auf Deutsch: Ich bekomme Bubble-Tee, aber nicht etwa ein Heftpflaster? “
„Genau, wenn du dich verletzt, musst du vor den Bahnhof.“
„Aber…“
„Du fragst, was das für einen Sinn hat?“
„Genau.“
„Keinen.“
„Aber du wolltest von BOBO erzählen.“
„Ja, aber jetzt fällt mir ein, dass das gar nicht BOBO, sondern BUBU war.“
„Der Kaugummi-Laden bei Gleis 12?“
„Nein, der ist jetzt bei Gleis 17. Bei Gleis 12 ist so ein Unnötiger-Schmuck-Laden.“
„Ich dachte der sei bei Gleis 11?“
„Wir drehen uns im Kreis.“
„Genau.“
„Endlosschleife.“
„Endlosschleife.“
„Und täglich grüsst…“
„Und täglich grüsst…“
„Komm, wir gehen einen Kaffee trinken. Aber nicht auf die Passerelle. Wir gehen vor den Bahnhof in die GELBE EISENBAHN.“
„Die schon seit 20 Jahren da ist?“
„Genau.“
„Na dann…“
„Na dann…“





 

 

 

 

 

 

Dienstag, 24. Mai 2022

Weg mit der russischen Kultur?

 
Wieder einmal ein kleines Quiz. Von wem sind diese Zitate?

Solange die Menschen nicht alle ihre Mitmenschen als Brüder und das Leben nicht als das heiligste aller Güter betrachten, werden sie immer um des persönlichen Vorteils willen das Leben anderer zerstören.

Die meisten Menschen, die man böse nennt, wurden deshalb so, weil sie ihre schlechte Laune für einen berechtigten Zustand ansahen.

Nur die Liebe vermag alle Knoten zu lösen.

Sie sind von Leo Tolstoi. Diesen Utopisten, Radikalchristen und Pazifisten sollten Sie unbedingt einmal wieder lesen – vor allem das Spätwerk. Und das zweite Zitat passt doch voll auf Putin…
Ach…
Nee…
Sie haben tatsächlich alle russische Kultur aus Ihrem Leben verbannt?
Nun sehen Sie, wie blöde das war.
Es war nicht nur blöde, es war das Dümmste, was Sie jemals gemacht haben.

Jetzt kommen Sie mir bitte nicht mit Gergiev. Natürlich boykottiere ich Gergiev. Aber ich tue das schon seit 15 Jahren. Und nicht, weil er Putin recht gibt, sondern weil ich als Schwuler Homophobe boykottiere. Meine Güte! Es gibt im Bereich Kunst und Kultur so viele Menschen, die ein weites Herz haben und alles, was L, B, T, Q, S, U, Y, X oder Z ist, gut finden. Da muss ich mir Valery wirklich nicht antun. Zumal er nicht nur verbohrt, sondern auch schrecklich verlogen ist, denn natürlich ist die Hälfte seines Ensembles schwul oder lesbisch, das kann er leugnen und bekämpfen, es bleibt trotzdem so – und jedem einzelnen Balletttänzer kann er ja nicht den KGB auf den Hals hetzen.
Nein, Gergiev ist kein Thema.

Aber gehen wir die Sache mal von einer anderen Seite an.
Stellen Sie sich vor, die deutschen Studenten hätten 1967 beschlossen, amerikanische Kultur zu boykottieren. Und zwar in Globo. Dann hätten sie sich natürlich auch von so einem widerlichen Anlass wie Woodstock abgewandt und hätten niemals diese schreckliche Musik gehört. Joan Baez, Jimmy Hendrix, Joe Cocker, igitt, igitt…
Das ist unvorstellbar, gell? Es ist deshalb unvorstellbar, weil man ja wusste, dass viele amerikanische Künstler eben gegen den Krieg waren.

Nun müssen wir aber doch systematischer vorgehen. Ich schlage eine Vierteilung vor:
a) lebende Künstler, die für Putin und den Krieg sind
b) lebende Künstler, die gegen Putin und den Krieg sind
c) tote Künstler, die für Putin und den Krieg wären
d) tote Künstler, die gegen Putin und den Krieg wären

So. Und nun sehen Sie, wie schwierig das ist. Schon a) und b) zu trennen, ist sehr kompliziert. Da gibt es z.B. Mascha Karpow, die während einer Schweiz-Tournee gerne ihren Hass auf das ganze Kreml-Gesocks herausschreien würde, dann aber gar nicht probieren muss, zu ihrer Stelle am Konservatorium Kirow zurückzukehren. Wird aber Mitteleuropa ihr genügend Konzerte und Schüler bieten, um nicht zu verhungern? Abgesehen von ihrer 85-jährigen Mutter, die sich ja auch noch mit durchfüttert…

Bei den toten Malern, Musikern und Schriftstellern wird es ganz unmöglich. Wäre XY gegen Putin und gegen die russische Expansion gewesen? Ja, wie soll man das beantworten? Eine Seance veranstalten? Spiritistisch die Leute aus den vergangenen Jahrhunderten holen? «Lieber Anton, bist du für oder gegen Putin?» «Lieber Igor, was sagst du zur Ukraine?» Das ist lächerlich.
Gut, ich glaube Tolstoi, der am Ende seines Lebens sogar noch mit Gandhi korrespondierte, wäre nicht auf der Kremlseite gewesen. (Er wäre sicher auch gegen Schwere Waffen für die Ukraine gewesen, aber lassen wir das…)

Und der zurzeit Meistgecancelte, Meistgescholtene, Prügelknabe und Hassobjekt?
Nun, Tschaikowski, eben jener meistgecancelte, meistgescholtene, Prügelknabe und Hassobjekt, ist für viele zum Inbegriff des Russischen, der russischen Kultur und der russischen Seele geworden. Und dabei warf man ihm gerade vor, dass er eben das gerade nicht sei: Russisch. Also, «man», die Über-Russischen um Rimsky-Korsakoff, die Novatoren, das «Mächtige Häuflein», die zogen gegen ihn und sein westliches Komponieren zu Felde.

Ein Freund hat gerade sämtliche Gegenstände aus seinem Haushalt entfernt, deren Design schwarze Quadrate, schwarze Kreise oder schwarze Dreiecke enthält, weil Teller und Tassen, Decken oder Kissen mit schwarzen Quadraten, schwarzen Kreisen oder schwarzen Dreiecken ja stark an Malewitsch erinnern. Dabei hat das russische Regime seit Stalin ja ein eher gespaltenes Verhältnis zur Russischen Avantgarde…

Und nun mache ich mir ein Tässchen Tee. Ich bin zwar eigentlich Kaffeetrinker, aber die Leute von gegenüber haben gerade ihren Samowar vor die Türe gestellt.
Und beim Teetrinken werde ich ein wenig Tolstoi lesen.



 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 20. Mai 2022

Die 500 Apps

Ein Freund schickt mir eine SMS: Hi Rolf, ich habe eine tolle neue App. Die App-Finde-App ANTONY®. Würde ich dir auch empfehlen. Ist wirklich super.
LG Tobi

App-Finde-App ANTONY®? Ich muss grinsen. Sicher ist der Macher der App katholisch oder katholophil oder katholizismusaffin, denn nur ein Katholik oder ein Katholophiler oder Katholizismusaffiner würde beim Thema Suchen und Finden, auf jenen Heiligen kommen, der bei verlorenen Dingen angerufen und später dann bezahlt wird. Die Antoniuskasse ist übrigens eine Armenkasse, aus der wohltätige Projekte wie Gassenküchen finanziert werden.

Aber brauche ich ANTONY®? Ich muss zugeben, dass ich manchmal wirklich Apps suchen muss. Ich nehme mir zwei Stunden Zeit und mache eine Liste von allen Apps auf meinem Handy:

35 Apps, die schon draufgespielt waren und die ich nicht löschen kann. Merkwürdigerweise alles Apps, die mein Handyhersteller AUWEHI® macht: AUWEHI Health, AUWEHI Market, AUWEHI Wallet usw.

60 Spiele. Für einen Menschen, der allen anderen stets erzählt, dass er im Bus Adorno liest und zuhause Texte schreibt, eigentlich ganz schön viel, aber – ich schwöre – die meisten Games habe ich nur einmal gemacht, und alle meine Spiele sind allgemeinbildend und intelligenzfördernd. Und ich habe noch nie jemand den Kopf weggeschossen – weder im Game noch im wirklichen Leben…

57 ÖV-Apps, darunter so wichtige wie die der DB und der SBB, ebenso des Tarifverbundes Nordwestschweiz, aber auch so abstruse wie die der Verkehrsverbünde Emscher-Süd, Lippe-Nord, Murr-West und Elster-Ost. Wann war ich in Emscher-Süd, Lippe-Nord, Murr-West oder Elster-Ost und was habe ich in Emscher-Süd, Lippe-Nord, Murr-West oder Elster-Ost gemacht? Ich weiss es beim besten Willen nicht mehr.

34 Apps, die ich für meine Berufe brauche: Deutsches Wörterbuch, Englisches Wörterbuch, Grammatik, Konversation und auf der anderen Seite unter anderem 7 Stimmgabeln, 8 Metronome und 9 Kleinklaviere.

101 Apps, die ich keiner Gruppe zuordnen könnte, die aber für mein physisches und psychisches Wohlbefinden nötig sind. (Darunter die Bibel, der Koran, der Talmud und diverse andere heilige Schriften...)

Insgesamt komme ich auf 287 Apps.
Fünfunddreissig solche Applikationen passen auf einen Bildschirm, ich belege also acht Bildschirme und muss, um zum Beispiel zur Stimmgabel-App NICETUNE® zu kommen, sieben Mal wischen.

Brauche ich jetzt wirklich ANTONY®? Jene App, die nur ein Katholik oder ein Katholophiler oder Katholizismusaffiner erfunden haben kann?
Nein.
Man kann nämlich Apps auch löschen, und weil ich nicht so schnell wieder in die Verkehrsverbünde Emscher-Süd, Lippe-Nord, Murr-West oder Elster-Ost kommen werde, lösche ich diese Apps als erstes.

Es war eine Zeit lang, schick, möglichst viele Apps zu haben. Aber, ich denke, diese Zeiten sind vorbei. Inzwischen ist man auch mit nur ein, zwei, drei guten Apps cool. Denn ab fünf Mal wischen zählt eh niemand mehr mit und der Unterschied zwischen 200 und 400 Apps fällt gar niemand mehr auf…

Ich schreibe also zurück:

Hi Tobi,
Danke für deine Idee. Brauche ich nicht mehr, weil ich 350 Apps gelöscht habe.
LG Rolf

P.S. Die Dienstag-Freitag-Glosse gibt es natürlich NICHT als App.







 

 

 

Dienstag, 17. Mai 2022

Metaverse? Erst einmal richtige Maschinen

Ich besteige am 2.4.2022 den Bus Linie 61 nach Binningen. Wie immer versuche ich mich zu zwingen, die Werbung auf dem Bildschirm, der in der Mitte hängt, nicht anzusehen. Und wie immer gelingt es mir nicht. Und während ich mich noch – wie immer – über die Drecksangliszismen ärgere („Love your City – heute geht´s ins Gundeli“, „Hallo, I´m new – neues Café im Gellert“), fällt mein Blick auf die kleine Uhr unten auf dem Bildschirm:
16.05
Ach, du liebe Zeit! Hier ganz wörtlich zu nehmen: Ist es wirklich schon so spät? Und natürlich kommt hier auch jedem der Panther in den Sinn, wo jemand an der Uhr gedreht hat…
Es kann aber unmöglich sein, ich habe zwar einen Abstecher in meine Stammbuchhandlung Olymp&Hades gemacht, bin aber um 14.00 aus dem Haus, das Tram 8 kam gleich, in der Buchhandlung habe ich nur bestellt, dann kam wieder gleich das Tram…
Aber dann fällt es mir ein: Hier hat jemand NICHT an der Uhr gedreht, die elektronische Uhr steht noch auf Sommerzeit. Lustig.
Aber…
Wenn das Winterzeit wäre, müsste es ja 14.05 sein. Nein, hier hat jemand zwei Stunden vorgestellt. Scheinbar sind die Screens in den BLT- und BVB-Bussen nicht auf Funk gestellt, sondern die Zeiten werden manuell eingegeben.

Im April war die Rolltreppe zum Gleis 10 mehrere Wochen ausser Betrieb. Die SBB war aber nicht untätig, sie brachte zwei Schilder an:
Reparatur ausstehend
Wir bitten um Entschuldigung
Ihre SBB
Schön und gut, so läuft man nicht aus Versehen auf die Treppe, aber warum wird nicht repariert? Und kommen Sie mir bitte nicht mit Drittweltland, denn in einem Drittweltland würden solche Dinge sofort repariert (mit den verrücktesten Mitteln und Teilen). Ich habe darüber gepostet.

Die beste Technik ist nur so gut, wie der Mensch, der sie macht, wie der Mensch, der sie bearbeitet und wie der Mensch, der sie bedient.

Am Abend sehe ich einen Beitrag in der 3sat-Kulturzeit über die virtuelle Zukunft des Menschen. Mit einer Spezialbrille kann man in andere Welten tauchen, wegsein (sic), woanderssein (sic), weranderssein (sic), man kann einen Rundgang im MoMa machen, man kann aber genauso eine virtuelle Galerie besuchen, in der nur virtuelle Kunstwerke ausgestellt sind, man kann in die Kunstwerke im MoMa hineinspringen und herumlaufen, und genauso kann man das mit den virtuellen.
Im Metaverse (das ist abgeleitet von Universe) steht eine bessere Version von mir in einem wunderschönen Haus am Wasser (…und am Ende der Strasse steht ein Haus am See…) und wählt aus den schönsten Kleidern, um dann andere Avatare in einem virtuellen Restaurant zu treffen.
Ein bisschen gruselig.
Ein bisschen so wie im Film Matrix.
Nur bislang freiwillig.

Jetzt kommen mir aber Bedenken. Wie kann eine Menschheit, die es nicht schafft, Uhren umzustellen und Rolltreppen zu reparieren, ein Metaverse erschaffen? Und welche Pannen werden dann im Metaverse passieren?

Was ist, wenn mein Avatar in dem wunderschönen Haus am Wasser (…und am Ende der Strasse steht ein Haus am See…) nackt vor dem Spiegel steht, um sich virtuelle Kleider auszusuchen, und dann kommen aus irgendeinem Grund alle möglichen virtuellen Freunde herein? Natürlich ist der Avatar super gebaut und bestens bestückt, aber vielleicht will man das ja trotzdem nicht…
Was ist, wenn in dem wunderschönen Haus am Wasser (…und am Ende der Strasse steht ein Haus am See…) ein Konstruktionsfehler ist und ich – oder mein anderes Ich – dann aus dem Fenster stürzt oder durch eine Wand bricht? Sterbe ich dann in Wirklichkeit auch? Ich echt?
Was ist, wenn mein virtuelles Auto vor dem Museum parkt und aus irgendeiner Panne 40 Bitcoins Parkgebühren anfallen? (Für Unkundige: Das klingt jetzt so wenig, sind aber 1,6 Millionen Sfr…)
Was ist, wenn ich im Museum aus einem Bild nicht herauskomme und dann immer, wenn ich die Brille aufsetze, Teil der Nachtwache bin? Oder dem Floss der Medusa?

Was ist, wenn…
Was ist, wenn…
Was ist, wenn…

Nein, ich finde, eine Menschheit, die es nicht schafft, in der realen Welt zurechtzukommen, sollte sich noch keine virtuelle erschaffen.
Also lernen wir erst einmal Uhren stellen und Rolltreppen reparieren.
Und dann ins Metaverse. Sonst gehen die Uhren da auch falsch und die Aufzüge funktionieren nicht.

P.S. Haus am See ist ein Song von Peter Fox aus dem Jahr 2008.









Freitag, 13. Mai 2022

Macht der Gegenstand dich glücklich?

Ich bin gerade in meiner Küche und versuche eine Sauce Bolognese zuzubereiten. Dabei stehe ich nun vor einer grossen Schwierigkeit; ich komme gerade nicht mehr weiter.
Man muss jetzt dazusagen, dass ich, bevor ich ans Andünsten von Zwiebeln und Knoblauch gehe, alle anderen Zutaten schon öffne. Einerseits verleiht mir die Reihe von geöffneten Dosen, Gläsern ohne Deckel, entkorkter Rotweinflasche und paratem Hackfleisch die Aura eines Fernsehkochs, ich möchte ständig in eine unsichtbare Kamera «…und jetzt nehmen wir noch…» sagen, andererseits ist es einfach praktisch.
Nun stehe ich also da, die Zwiebeln und der Knoblauch sind gehackt, die Sugogläser ohne Deckel, der Rotwein ist offen und das Fleisch bereit, aber die Dosen machen mir Probleme. Ich habe keinen Dosenöffner mehr. Und in den Dosen sind die gehackten Tomaten. Warum ich keinen Dosenöffner mehr habe, erkläre ich unten.

Gestern gab es schon eine ähnliche Situation. Ich setzte mich ans Klavier und wollte eine Haydn-Sonatine üben, aber mein Anschlag klapperte, also nicht im Sinne von «nicht zusammen», sondern im Sinne von Geklapper – meine Fingernägel waren zu lang. Und – Sie ahnen es längst – ich hatte keine Nagelschere. Also musste ich erst hinsetzen und meine Nägel abkauen, dabei hoffen, dass nicht der Struwwelpeter-Schneider kommt und mir die Daumen abschneidet, natürlich werden Konrad die Daumen abgeschnitten, weil er diese lutscht, aber könnte der zwischen Daumennägelabkauen und Daumenlutschen unterscheiden? Er kam nicht und ich konnte mit gekauten Nägeln (ich kriege das erstaunlich präzise hin) endlich Hoboken XVI:6 üben. Warum ich keine Nagelschere mehr habe, erkläre ich bald.

Vorgestern wollte ich etwas aus einem Kellerraum holen, der seit einiger Zeit kein Licht mehr hat. Und ich habe keine Taschenlampe mehr. Da sich in diesem Raum Streichhölzer und Feuerzeug verbaten, es befinden sich brennbare Sachen dort, musste ich einfach hinein und wie ein Blinder mich vortasten. Es gelang mir tatsächlich nach 75 Minuten den betreffenden Gegenstand zu erfühlen. Warum ich keine Taschenlampe mehr habe, erkläre ich Ihnen jetzt.
Ich erkläre natürlich auch, warum ich keinen Dosenöffner und keine Nagelschere habe.

Ich habe neulich nach der AmokRin®-Methode aufgeräumt. Die AmokRin®-Methode setzt auf konsequentes Aufräumen, Entschlacken, Ausmisten und Ordnen um wieder ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Dabei spielt eine Frage eine zentrale Rolle:
Macht dieser Gegenstand dich glücklich?
Tja, macht mich ein Dosenöffner glücklich? Wahrscheinlich nicht.
Erzeugt eine Nagelschere Glücksgefühle? Eher nicht.
Erfüllt eine Taschenlampe mich mit Wonne? Keineswegs.

Und so verschwanden der Dosenöffner, der mich nicht glücklich machte, die Nagelschere, die keine Glücksgefühle erzeugte und die Taschenlampe, die mich nicht mit Wonne erfüllte, aus meinem Haushalt.
Was blieb, sind meine 10 Badehosen, denn die dunkelblaue, die hellblaue, die gelbe, die rosa (!), die rote, die hellgrüne, die dunkelgrüne, die schwarze, die gestreifte und die karierte, sie alle erfüllten mich mit Wonne, erzeugten Glücksgefühle und machten mich glücklich.

Ich denke, die AmokRin®-Menschen müssten völlig neue Kategorien einführen. Hier mein Vorschlag:

Nutzen
Haben Sie einen Klo-Reiniger-Stopfer? Oder wie die heissen… Sie wissen schon, so ein Ding mit einem Holzstiel und einem roten Gummi. Eifrige STERN-Leser kennen ihn auch aus den Cartoons von Tetsche, da ist nämlich jedes Mal ein solches Ding und ein Spiegelei versteckt. Jedenfalls, ein Stopfer macht nicht glücklich, sieht nicht schön aus, ist stets im Weg, aber wenn das Klo am Überlaufen ist, ist man sehr, sehr, sehr, sehr, sehr froh, einen zu haben.

«Erbtanten-Geschenke»
Der Zinnteller mit Waldvogel-Motiven macht einen nicht glücklich, und er hat auch keinen Nutzen. Aber er muss immer wieder aufgehängt werden, wenn Tante Eusebia kommt. Denn die Frage: «WO IST DER ZINNTELLER, DEN ICH DIR GESCHENKT HABE?» könnte, wenn die Antwort «Müllkippe» lautet, einen um 100000.-- Sfr. bringen. Und das wäre doch schade.

Dinge, die man wieder brauchen wird, wenn sie weg sind.
Ich hatte 2008 zur EM ein Projekt mit allen Nationalhymnen gemacht. (Also aufgeführt, mit dem Jugendblasorchester) Als ich 2018 das ganze Material endlich entsorgt hatte, weil ich es nie wieder brauchte, rief ein Kollege an, ich hätte doch haufenweise Zeug zum Thema Hymnen…
Es gilt die Regel: Eine Woche, nachdem wir einen Gegenstand weggeschmissen haben, bräuchten wir ihn dringend.

Glück
Ja, gut, meinetwegen dann auch das. Nur, dass bei einem zwanghaften Sammeltypen die Methode nicht funktioniert, jedes seiner Sammelstücke macht ihn glücklich.

So, so viel für heute.
Jetzt gehe ich ins Kaufhaus und kaufe einen Dosenöffner.
Und eine Nagelschere.
Und eine Taschenlampe.



 

 

Dienstag, 10. Mai 2022

Das ZEIT-Rätsel

Machen Sie auch gelegentlich das Rätsel in der ZEIT? Ich kenne Leute, die machen das jeden Tag. Es sind immer acht Fragen, immer drei Lösungen zur Auswahl. Und immer aktuelle Fragen, also nichts, was man in der Schule gelernt hat.
Natürlich könnte man alles parallel googeln, man ist ja eh online, aber irgendwie macht das wohl niemand, es wäre auch idiotisch, da es nichts zu gewinnen gibt.

Die Fragen lassen sich in drei Kategorien einteilen.

Da ist zunächst die Frage, die man weiss, weil man Tagesschau oder heute oder 10 vor 10 geguckt hat. Oder Nachrichten in SWR oder NDR oder SRF oder einem anderen Sender gehört hat. Da weiss man, wie die neue Familienministerin der BRD heisst, wer Twitter kaufen will oder wer die SPD illegal ausspioniert hat. (Damit Sie sich jetzt nicht durch Nachhirnen ablenken: Paus, Musk, Adenauer.)

Dann gibt es die Fragen, bei denen man nur raten kann. Für mich sind das die Sportfragen. Die kann ich nicht wissen und will ich nicht wissen und möchte ich nicht wissen und muss ich nicht wissen, aber obwohl ich den z.B. Trainer vom FC Kopenhagen nicht wissen kann, nicht wissen muss, nicht wissen möchte und nicht wissen will, rate ich doch meistens gerade bei diesen Fragen richtig. Erstaunlicherweise. (Nein, bitte weiterlesen und nicht nachdenken, der Trainer heisst Jess Thorup.)

Dann gibt es die Schätzfragen, und bei diesen Schätzfragen kommt meist ein wenig ein kleiner moralischer Zeigefinger hinzu, die die Macher des Rätsels uns entgegenstrecken wollen. Nach dem Motto: Oh, oh, oh, so viel (oder so wenig), da müssen wir etwas machen, etwas tun, etwas unternehmen. Deshalb nimmt man hier immer den höchsten (oder niedrigsten Wert).
Z.B.: Wie viel Elektroschrott gibt es in Deutschland jährlich?
700000 Tonnen?
1 Million Tonnen?
1,8 Millionen Tonnen?
Es sind natürlich Eins Komma Acht Millionen Tonnen.

Nun wird es aber lustig.
Es kommt die Auswertung.
Und die Auswertung ist der reine Quatsch. Denn die ZEIT vergleicht Sie mit dem Durchschnitt der Spieler, die bis jetzt teilgenommen haben und zeigt Ihnen ein lachendes oder weinendes Gesicht und die Schriftzüge ZIEMLICH GUT oder SCHADE.
Auf Deutsch:
Sie haben nur 4 Punkte von acht, sind eigentlich sehr unzufrieden mit sich, weil sie ja immerhin die Hälfte falsch haben, darunter so einfache Fragen wie die nach dem Gottesdienst, bei dem der Bürgermeister von Melitopol in der ersten Reihe sass (war Petersdom…). Dennoch bekommen Sie ein ZIEMLICH GUT und ein lachendes Gesicht. Denn der Schnitt ist 3,9.
Oder:
Sie haben 7 Punkte von acht, sind sehr zufrieden, sie waren gut, waren spitze (Rosenthal hüpft in Ihrem Kopf – also, wenn Sie über 50 sind und DALLI-DALLI geguckt haben…) und dann bekommen sie ein SCHADE und den Weinkopf, denn der Schnitt der anderen Spieler ist 7,1.

Hinzu kommt natürlich ein anderes Problem: Wann lösen Sie das Rätsel? Ich löse es oft im Zug zur Arbeit, das heisst konkret um ca. 6.15, also sehr früh am Morgen. Wie viele Menschen haben um die Uhrzeit das ZEIT-Rätsel überhaupt gemacht? Ist diese komische Zahl überhaupt in irgendeiner Weise repräsentativ?

Gäbe es eigentlich eine normierte Skala, aufgrund der man SCHADE und ZIEMLICH GUT verteilen könnte? Das wäre doch spannend. Aber geht das? Könnte man zum Beispiel sagen, was eine leichte Frage und was eine schwere Frage ist? Oder ist das total subjektiv? Könnte man postulieren, dass eine Antwort, die in der Tagesschau oder in heute oder in 10 vor 10 oder in den Nachrichten vom SWR oder NDR oder SRF oder einem anderen Sender beantwortet wurde, eine leichte Frage impliziert? Und das umgekehrt eine Antwort, die nur in der Tagesschau und nicht in heute oder in 10 vor 10 oder in den Nachrichten vom SWR oder NDR oder SRF oder einem anderen Sender beantwortet wurde, eine schwere Frage anzeigt?
Gibt es absolute Schwierigkeit?

Muss es aber doch geben, denn die Schulen machen uns das ja die ganze Zeit weis. Da wird ja auch nicht der Schnitt der Klasse genommen, sondern ein absoluter Massstab angelegt. Und wenn der Schnitt unter «genügend» ist, dann war der Test nicht zu schwer, sondern die Klasse ist zu doof…

Machen Sie auch gelegentlich das Rätsel in der ZEIT? Ich kenne Leute, die machen das jeden Tag. Und trotz der komischen Verteilung von SCHADE und ZIEMLICH GUT macht es Spass.

Übrigens:
Machen Sie das Rätsel doch zweimal.
Beim 2. Durchgang sollten Sie 8 Punkte von 8 haben, denn die richtige Antwort wird ja je sofort angezeigt. Wenn nicht, suchen Sie einen guten Neurologen auf. Das röche nach Demenz.





 

 

 

Freitag, 6. Mai 2022

Schulden gestern und heute

Ich habe ja schon viele Posts darüber geschrieben, dass bestimmte Dinge zurückkehren. So, als ob die Geschichte sich stets wiederholt.
Nun ist auch eine wunderbare Sache wieder da, eine Sache, mit der sich Generationen beschäftigten und scheints viel Freude machte (sonst wäre sie ja ausgestorben):
Das Schuldenmachen.

1920 war meine Urgrosstante Eulalie Binder immer etwas klamm. Eigentlich hätte ihr Geld gereicht, wenn sie beim Geschäft «Rupert Meyer und Söhne – Lebensmittel und Kolonialwaren» nur Mehl, Äpfel und Linsen gekauft hätte, aber für Eulalie war nur das ganz Gute das wirklich Gute – vielleicht lag das am Namen. Und so musste es oft auch Reis und Kaffee, oder sogar Konserven mit Südfrüchten sein und dafür langte das Geld, das bei «Rupert Meyer und Söhne – Lebensmittel und Kolonialwaren» für Mehl, Äpfel und Linsen gereicht hätte nicht. Und so sprach meine Grosstante die magischen Worte: «Ich lasse es anschreiben.» Und dann passierte das Folgende: Der Lehrling schritt zur grossen Schiefertafel, die bei «Rupert Meyer und Söhne – Lebensmittel und Kolonialwaren» hinter der Ladentheke hing, und änderte durch Auswischen und Hinschreiben
E. Binder 2,30 RM
in
E. Binder 2,90 RM.
Er, also der Lehrling, tat das natürlich mit keinem Stift, der Stift nahm keinen Stift, das ist jetzt ein schönes Wortspiel, sondern er tat das mit Kreide, deswegen sagen wir noch heute «in der Kreide stehen».
Aber irgendwann war der Betrag, der da in Kreide stand, für «Rupert Meyer und Söhne – Lebensmittel und Kolonialwaren» dann doch zu hoch, und Eulalie musste zahlen, wie sie das auch immer anstellte.

Eine gute Sparmöglichkeit war, ihrem Mann August-Heinrich das Geld zu kürzen, das er in der «Schankwirtschaft zum Goldenen Schwan» vertrinken durfte. Eigentlich durfte August-Heinrich am Freitag- und Sonntagabend in der «Schankwirtschaft zum Goldenen Schwan» je zwei Bier und zwei Kurze trinken, aber wenn das Geld knapp wurde, gab Eulalie nur das Geld für EINEN Abend mit EINEM Bier und EINEM Kurzen, was Urgrossonkel August-Heinrich dazu verleitete, am Freitag, Samstag und Sonntag zu gehen und dann je drei Gläser von jeder Sorte zu nehmen. Denn auch in der «Schankwirtschaft zum Goldenen Schwan» konnte man natürlich – Sie ahnen es längst – anschreiben lassen.

Dann kamen die 50er, die Zeit des Wirtschaftswunders und des Aufschwunges, und man wollte plötzlich alles auf einmal: Radio, TV, Staubsauger, Mixer, Kühlschrank und Waschmaschine. Das waren natürlich nicht mehr Eulalie und August-Heinrich, sondern ihre Enkelin Hilde (eine Kusine dritten Grades von mir) und ihr Mann Robert. Und weil Robert und Hilde selbstverständlich nicht so viel Geld hatten, alles aufs Mal zu bezahlen, nutzten Sie das perfekte System der Ratenzahlungen. Und so zahlten sie monatlich Radio, TV, Staubsauger, Mixer, Kühlschrank und Waschmaschine ab und es gab Abende, wo Hilde Listen machte, und auf die Summen starrte, die die Raten für Radio, TV, Staubsauger, Mixer, Kühlschrank und Waschmaschine ergaben. Ja, es gab dann sogar Zeiten, in denen der Grundig schon kaputt war, aber immer noch abbezahlt wurde, und der neue Philips auch schon wieder abgestottert werden musste…

Ja, und dann kam das Internet und damit eine gute Kontrolle: War die Kreditkarte am Anschlag, gab es nichts mehr, weil die Online-Versandhäuser den ganzen Betrag wollten, und weil AMERICAN EXPRESS® (gab es damals noch), DINER`S CLUB® (gab es damals noch), VISA® (gibt es noch) und MASTERCARD® nicht mit sich handeln liessen.

So weit so gut.
Leider ist auf eine teuflische Art das Schuldenmachen zurückgekehrt.
BUY NOW – PAY LATER, so heisst das diabolische System. Es gleicht im Grunde genommen dem Anschreiben und dem Abstottern der 50er. Der Onlinehandel schickt mir meine Ware sofort, und ich kann mich irgendwie darum kümmern, wie ich sie in 5-11 Schritten bezahlt bekomme.

Allen Arten, Anschreiben, Abstottern, BUY NOW – PAY LATER liegt der gleiche Denkfehler zugrunde: Wenn ich 200,-- im Monat übrighabe, kann ich sparen und mir nach fünf Monden eine schöne Sache für einen Tausender leisten, wenn ich KEINE 200,-- im Monat übrighabe, und ich kaufe mir dennoch JETZT etwas für 1000 Franken, woher sollen dann die Raten kommen?
Warum spart man nicht auf etwas? Das ist zwar langwierig und geduldprobend (sic), aber es kommt die schönste aller Freuden hinzu:
Die Vorfreude.

Tante Eulalie liess im Laden anschreiben – ihr Gatte August-Heinrich in der Kneipe. Ihre Enkelin bestellte in der 50ern technische Geräte und stotterte sie ab.
Heute übt man sich im Buynowpaylater.
Die Zeiten haben sich nicht geändert.





Dienstag, 3. Mai 2022

Ich bin wieder da - warum die lange Pause war

Warnung: Dies ist ein sehr persönlicher Post. Wenn Sie das nicht wollen, ich meine das Persönliche, dann lesen Sie nicht weiter.
Nein, wirklich: Wenn Sie nichts Privates wollen, dann lesen Sie erst am Freitag wieder.

Huhu…
Hallo…
Ich bin wieder da.

Dass ich so lange weg war, das liegt daran, dass ich in einer Entzugsklinik war, einer Entzugsklinik für Alkoholkranke, und dort gab es kein Internet, denn Netflix oder YouTube könnten ja einem den Alkohol wieder schmackhaft machen. (Man stelle sich nur vor, man schaut die Champagnerarie aus dem Don Giovanni oder die Next Whiskey Bar von den Doors…)

Das ist jetzt natürlich totaler Quatsch.

Also, nein, nicht ganz. Das mit dem Aufhören stimmt. Das mit der Klinik stimmt nicht. Aber ich trinke jetzt auch keinen Alkohol mehr. Und das hat doch ein wenig Zeit und Aufmerksamkeit gekostet, daher die lange Pause. Als ich im November 2020 mit dem Rauchen aufhörte, kippte das Ganze zu „ein bisschen zu viel trinken“; und das Bisschen wurde einfach ein bisschen ein Grosses-Bisschen…

Ja, und dann habe ich das gewagt, wovon das Internet ganz vehement abrät: Einen ambulanten Entzug. Als ich nämlich merkte, dass die meisten Ärzte, die scharf und unerbittlich vor ambulanten Entzügen warnen, entweder Eigentümer oder Chefärzte von Entzugskliniken sind, da wagte ich es. Begleitet von der besten Hausärztin aller Zeiten trinke ich seit 14. März keinen Alkohol mehr. Und bin nun ein wenig stolz, ja, das bin ich schon. Meine Leberwerte sind von den 8fachen auf die normalen gefallen und meine Lebenserwartung hat sich auch wieder so gesteigert, dass ich nicht umsonst in die Pensionskasse einzahle.

Nun wäre ich auf Ihre Reaktion gespannt.
Die kann ich natürlich nicht sehen, aber witzig wäre das schon.
Es gab nämlich eine Menge gute, aber auch eine Menge saublöder.

«Das Beste, was ein Mensch im Leben leisten kann, das Beste, was je ein Mensch je im Leben geleistet hat.»
Danke fürs Kompliment, aber sorry, das ist natürlich totaler Nonsens. Das Beste ist immer noch, einen falschen Weg gar nicht einzuschlagen. Also einen Tusch für die Leute, die nie zu viel trinken, einen Tusch auf die Leute, die gar nicht zu rauchen beginnen, einen Tusch für die, die vom Heroin die Finger lassen. Bernd hat aufgehört, seine Frau zu schlagen? Lob. Aber gebührte nicht Tim mehr Lob, der seine Freundin nie schlägt? Lisa hat aufgehört zu klauen? Lob. Aber gebührte Lola, die noch nie etwas gestohlen hat, viel mehr Lob?
Das ist übrigens auch das Problem beim Friedensnobelpreis. Wenn Parteien nach Jahren aufhören, sich mit Granaten zu beschiessen, dann bekommen sie ihn. Eigentlich dürfte man nur Leute auszeichnen, die immer friedlich agiert haben. Ich möchte nicht, dass Putin nach einem (noch sehr fiktiven) Friedensschluss nach Oslo fahren darf…

«Schon sehr langweilig. Hättest du nicht reduzieren können?»
Nein, hätte ich nicht.
Ich weiss, ich bin jetzt der Langweiler, der Partystörer, ich bin jetzt der Spielverderber, der blöde und öde Onkel, ich bin der, den man bei Feiern, Vernissagen und Jubiläen eigentlich nicht haben will. Ich bin derjenige, dem die Restaurants nur ungerne einen Tisch geben und zu dem man nicht mehr gerne auf Besuch kommt (oder nur, wenn ich versichere, dass noch genügend Alkohol da ist, was tatsächlich der Fall ist.) Aber es geht nicht anders. Es ist erstaunlich, wie wenig Ahnung die Menschheit hat – hatte ich aber vorher auch nicht.
Man stelle sich aber vor, diese Menschen wären zum Bahnhof Zoo gelaufen und hätten Christian F. vorgeschlagen, doch einfach weniger…, vielleicht nur abends, oder am Wochenende…
Absurd.

«Pass auf, dass du jetzt nicht zu viel Kaffee trinkst.»
Das kam tatsächlich. Gute Güte! Ich hätte sogar das Rauchen wieder anfangen dürfen. Alles, alles, alles ist erlaubt, um einen durch die ersten Wochen zu bringen. (Die übrigens gar nicht so schlimm waren, der Trick ist, sich zu sagen «es wird schlimm», statt zu hoffen «es wird schon gehen».)
Also: Ich trinke gerade 2 Tassen Kaffee zu viel am Tag, aber das ist NICHT das Problem…

So, das musste jetzt gesagt werden.

Ich bin also wieder da und habe in der Zeit eine Menge lustiger Posts auf Vorrat geschrieben. Und die bringe ich jetzt.
Plus alles Aktuelle.

Und jetzt gibt es zur Belohnung einen alkoholfreien Kir Royal.