Dienstag, 29. September 2020

Schonagonnen 2: Menschen, die mir auf den Keks gehen

 Ich habe das schöne Wort eingedeutscht: schonagonnen:
(schonagonnen = eine Liste mit Dingen aufschreiben, Kopfkissenbuch führen, kunstvoll notieren
Stammformen regelmässig: schonagonnen – ich schonagonne – ich schonagonnte – geschonagonnt
Einzige Ausnahme: Imperativ heisst Schonaginn!

Gut, dann wollen wir wieder einmal nach Herzenslust schonagonnen:

Menschen, die mir wirklich – aber wirklich richtig – auf den Geist gehen:

Menschen, die der Meinung sind, es sei wichtig, dass ihre Umgebung nicht nur ihren Part eines Gespräches mitbekommt, sondern selbstverständlich auch den anderen und die daher nicht nur in ihr Huawei oder Samsung brüllen, sondern dieses auch auf Lautsprecher stellen. Diese Menschen haben natürlich insofern recht, dass es komisch ist, wenn man z.B. mitbekommt, dass der Huawei-Brüller oder Samsung-Schreier einen Rhododendron will und nicht erfährt, ob die Gegenseite (Ehepartner? Gärtner?) Rosen oder eine Tanne möchte, aber sie vergessen völlig, dass ich an der Gartengeschichte überhaupt nicht interessiert bin.

Menschen, die es nicht schaffen, beim Aussteigen im Zug «aufzuschliessen». Da kein Mensch um die Ecke sehen kann, fängt natürlich die Kolonne, die vor dem Zug wartet, hineinzuströmen, weil sie glaubt, alle Personen seien ausgestiegen. Nun wird man von wütenden Typen fast umgerannt, geboxt, getreten und gebissen, die einem ein erbostes «Erst aussteigen lassen! Erst aussteigen lassen!» entgegenschleudern. Warum passiert ständig diese Lücke und warum ist es so schwer, direkt hinter dem Vordermann oder der Vorderfrau den Wagen zu verlassen? Das wissen die Götter.

Menschen, die bei mir Kenntnisse über Nischen-Wissenschaften und Seltenheits-Fächer voraussetzen und mich deshalb wegen meiner Unkenntnis in diesen Nischen-Wissenschaften und Seltenheits-Fächern wie einen Idioten dastehen lassen. Da sagt mir mein Gegenüber, er sei Dozent für Mebbologie und fügt dann noch mit dröhnendem Gelächter hinzu: «Aber wenn Sie meinen, ich sei ein Verfechter der Appersheim-These, gewiss nicht, da kennen Sie mich schlecht.» ich kenne ihn überhaupt nicht, aber auch nicht den Begriff Mebbologie, und ich habe keine Ahnung, welche These von einem Herrn Appersheim (oder gar IM Ort Appersheim?) formuliert wurde. Und weil aber mein Gesprächspartner davon ausgeht, dass ein Mensch mit Allgemeinbildung das weiss, stehe ich wie der letzte Trottel da.

Menschen, die es nicht schaffen, eine aufgehaltene Türe selbst in die Hand zu nehmen und dem nächsten zu übergeben. So wäre es nämlich gedacht, so, dass die Tür gar nicht mehr zugeht. Weil aber diese Leute (und es sind viele, mannigviele, es sind Kohorten und Legionen!) das nicht fertigbringen und einfach durchrennen, habe ich – der Türaufhalter, das haben Sie schon begriffen, oder? – nur zwei Optionen: 1.) Ich bleibe Stunde um Stunde stehen, wie der Portier vom Ritz und kann ja eventuell meine Hand aufhalten, vielleicht ergibt sich eine kleine Trinkgeldmenge… 2.) ich lasse die Tür irgendwann los und knalle sie dem nächsten einfach auf die Nase Beide Optionen sind nicht wirklich gut.

Menschen, die einen Sprachgebrauch bezüglich der Uhrzeit haben, den ich nicht verstehe und den ich nicht akzeptieren kann. Bei mir heisst «um Vier» 16.00, «zwischen Vier und Fünf» 16.00 bis 17.00 und «gegen Fünf» ca. 16.50 bis ca. 17.10. Bei diesen Leuten heisst «um Vier» 16.20, «zwischen Vier und Fünf» 16.59–17.30 und «gegen Fünf» 18.00. Es gibt den schönen Spruch Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige und der gilt für mich immer noch. Und weil ich eben immer noch Sicherheit einplane, weil ich eben, wenn man «um Vier» ausgemacht hat um 15.50 da bin, und ich dann auf den oder die, für die oder den «um Vier» 16.20 heisst, eine halbe Stunde warte, bis ich dann, wenn der oder die erscheint – nach seiner oder ihrer Meinung «um Vier», nach meiner Meinung ZU SPÄT – relativ sauer, nein, stocksauer, nein sauer in dem Ausmass des Augustus nach der Varusschlacht.

Menschen, die Verständnis von mir erwarten, und zwar Verständnisse für Dinge, die mich dann wieder wahnsinnig nerven. ich soll Verständnis aufbringen, dass die Haut meines Gegenübers hochempfindlich ist und weder Duschgel noch Deo verträgt. Das muss ich doch verstehen, oder? Nein tue nicht. Der andere stinkt. Basta. Ich müsste doch verstehen – so der Vater – dass die Kleine Angst allein in der Garderobe hat und er sie deshalb mit zu den Männern nimmt. Nein. Das Problem muss er lösen. Es gibt Spielregeln. Mädchen ab schulpflichtigem Alter besuchen die Damengarderobe. Und die junge Dame ist 11.

Ich hoffe für Sie, dass Sie nicht zu einer der Menschenkategorien gehören. Sonst hätten wir ein Problem.
Zur letzten gehören Sie sicher und logischerweise nicht:

Menschen, die meine Posts nicht lesen.

 

 

 

 

Freitag, 25. September 2020

Manchmal ist alles gegen den Glossisten

Manchmal kommt man sich als Schreiber wie als Held in einer Sage vor. So wie der Held zunächst gegen Riesen, dann gegen Zwerge, schliesslich gegen einen Drachen und dann noch gegen einen Zauberer kämpft, ist der Glossist ständig am Fechten, er streitet gegen die Ideenarmut, gegen die deutsche Sprache, gegen Word und gegen die Macher von blogger.com. Ja, er ist so sehr im Kampfe, dass er das Gefühl hat, die ganze Welt habe sich gegen ihn verschworen.

Der Kampf gegen die Ideenarmut

Es gibt Tage, da fällt mir nichts ein. Gar nichts. Da gibt es nicht Aktuelles in der Tagespolitik und keine philosophischen Fragen, die mich beschäftigen, da passiert nix und geschehen keine Sachen. Da habe ich die Musen angerufen, aber sie hatten keine Lust. (Über die Unlust und Dekadenz der Musen heutzutage habe ich ja schon geschrieben – 22.10.2019 und 21.7.2020.) Da habe ich mit Alkohol und Drogen nachgeholfen, danach hatte ich wirre Ideen, war aber nicht mehr in der Lage zu schreiben. Worüber soll man nun posten? Über die Herren und Damen an den Schaltpulten der Welt? Das Merkwürdige ist: Über anständige, faire und gerechte Herrscher zu schreiben macht keinen Spass. Und die unanständigen, unfairen und ungerechten sind auf eine Weise gleichförmig, dass es zum Grausen ist. Schreibst du über einen, schreibst du über alle. Wie feiert z.B. eine Merkel oder ein Macron ihren oder seinen Geburtstag? Da gibt es ganz, ganz viele Möglichkeiten, vielleicht ist es ein Diner, vielleicht auch nur ein Apéro, eventuell ist es ein Konzert oder ein Ball. Lukaschenko oder ein ähnlicher Kollege macht unter Garantie eine Militärparade, und diese Militärparaden sehen auf der ganzen Welt gleich aus.

Aber manchmal kommt – trotz aller Ideenarmut – doch eine witzige Begebenheit, ein kleiner Zwischenfall, und dann hofft man, dass man aus dieser Begebenheit oder diesem Zwischenfall eine allgemeingültige Wahrheit ziehen kann…

Der Kampf gegen die deutsche Sprache

Ja, und dann hat man eine Idee und man will das dann ausdrücken und dann fehlt einem das Wort, und zwar nicht so wie in Moses und Aron, «oh Wort, du Wort, das mir fehlt…», sondern es gibt das Wort in der deutschen Sprache nicht. Wollen Sie ein Beispiel? Da gibt es eine Tätigkeit, die wir jeden Tag mehrfach machen und 1000e Male im Leben, ständig und überall, immer und in jeder Lage, nämlich das Zumachen eines Reissverschlusses. Und da fehlt das Verb. Die Engländer haben dafür ein wunderbar kurzes Wort, «to zip» Während einer in Manchester oder eine in Seattle nun sagen können: «I zip my bag» oder «I zipped my pans» müssen wir im Deutschen einen riesengrossen Umweg beschreiten: «Ich schloss den Reissverschluss meines…» Also werde ich einmal mehr zum Neologistiker und erfinde das Wort «reissverschlussen» oder vielleicht auch «reissverschliessen», wobei ich mir bei den Stammformen nicht ganz klar bin, korrekt wäre wahrscheinlich
reissverschliessen – reisverschloss – reissverschlossen
oder
reissverschlussen – reissverschlusste – reissverschlusst

Genauso geht es mir mit einer Sache, die ich auch jeden Tag unternehme. Ich gehe ins Bad und mache einen – hier hat die Schweizer Mundart ein Nomen – Schwumm. Das Standarddeutsche versagt mir hier das Wort. Der Läufer macht einen Lauf und der Springer einen Sprung und der Tänzer einen Tanz und der Werfer einen Wurf – was aber macht der Schwimmer? Und sagen Sie jetzt bitte nicht Bad, ich gehe nicht zum Baden oder Plantschen ins Freibad, sondern zum Schwimmen.

Der Kampf mit WORD

Ein jeder hatte gehofft, dass das Schreibprogramm in der neuesten Version seine orthografischen und grammatikalischen Korrekturen perfektioniert, und dann die Sache bewenden liesse.
Das Gegenteil ist der Fall.
Die Rechtschreibung geht, aber die Grammatik ist immer noch eine Katastrophe. Wenn ich alle dass/das-Korrekturen annehmen würde, die Word mir anbietet, wäre sicher in jedem zweiten Post ein solcher Fehler. Genauso die Verwirrung, wenn das Objekt mal aus mehreren Dingen besteht und vorne steht.
Das absolut Schreckliche ist nun, dass Word, obwohl es auf der Ebene drunter noch hunderte Baustellen hat, angefangen hat, Stilkorrekturen zu machen. Nach dem Motto «Nur ein kurzer Text ist ein guter Text» macht man Jagd auf alle die süssen kleinen Partikeln wie ganz, natürlich, doch, ja, alle diese Wörtlein, die einen Text, eine Aussage, die die Sprache eben witzig und interessant machen, alle diese Wörtlein wie ja, doch, eben, ganz, natürlich usw… Das neue WORD ist total auf Geschäftsbriefe und amtliche Schreiben fokussiert, etwas anderes kommt nicht vor.

Der Kampf mit blogger.com

Auch die Website, auf der dieser Blog steht, hat sich erneuert. In der neuen, jetzigen Fassung gibt es eine tolle Sache: Wenn man ein Word-Dokument einsetzt, erscheint überall, wo man die Entertaste gedrückt hat, die nächste Zeile mit riesigem Abstand. Die einzige Lösung ist, die gesamte Formatierung aufzuheben, dann kann man die Zeilen wieder aneinanderrücken, aber die gesamte Formatierung aufzuheben heisst eben die gesamte Formatierung, d.h. alles Kursive und Fette, alle Rahmen und Farben sind auch weg. Warum blogger.com das macht, wissen die Götter. Ich habe ein Feedback
geschrieben, das allerdings nach 3 Gläsern Wein, in Grossbuchstaben und mit vielen Beleidigungen.
Sie haben nicht darauf geantwortet.

Manchmal kommt man sich als Schreiber wie als Held in einer Sage vor. So wie der Held zunächst gegen Riesen, dann gegen Zwerge, schliesslich gegen einen Drachen und dann noch gegen einen Zauberer kämpft, ist der Glossist ständig am Fechten, er streitet gegen die Ideenarmut, gegen die deutsche Sprache, gegen Word und gegen die Macher von blogger.com. Ja, er ist so sehr im Kampfe, dass er das Gefühl hat, die ganze Welt habe sich gegen ihn verschworen.

 

 

  

   

 

 

 

Dienstag, 22. September 2020

Schreiben mit dem Chip im Kopf

Mein Freund Himmi schickt mir einen Text. Einen Text mit dem Hinweis: Phänomenal! Ich lese ihn durch:

1959 verliess der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas die Universität Frankfurt, weil es zum Konflikt mit Max Horkheimer gekommen war. Horkheimer war ursprünglich als Betreuer seiner Habilitationsschrift geplant gewesen. Habermas wechselte an die Universität Marburg und habilitierte dann 1961 bei Wolfgang Abendroth, dem die Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ auch gewidmet wurde. Die Abhandlung erregte grosses Aufsehen und erschien 1962 bei Luchterhand als Buch.

Ich bin ein wenig verblüfft. Ein Text, der in einer Einleitung zu einem Essay über jenen Strukturwandel stehen könnte, ordentlich geschrieben, aber was ist daran genial? Ich rufe Himmi an.
Chip, sagt er, Chip, er habe jetzt so einen Chip im Hirn und er habe diesen Text nur gedacht, ich solle mir das vorstellen! Er habe nicht getippt und auch nicht die blöde Spracherkennung genutzt, er habe einfach gedacht und sein Hirn habe sich direkt, und er meine wirklich direkt, mit WORD® verbunden.
Gut, sage ich, er solle mir dann einmal den unrevidierten Text schicken. Himmi druckst ein wenig herum, er stammelt und stottert, aber ich bleibe hart und eine halbe Stunde später habe ich den Text in seiner Originalform:

1959 verliess der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas man müsste unbedingt die Spinnweben da wegmachen die Universität Frankfurt, weil mein Grosser Zeh ist immer noch nicht gut es zum Konflikt mit Max Horkheimer gekommen war. Klopapier müsset man auch einmal wieder kaufen Horkheimer war ursprünglich als Betreuer meine Nachbarin läuft wahnsinnig dröhnend seiner Habilitationsschrift geplant gewesen. Habermas reimt sich auf Osterhas wechselte an die Universität Marburg und habilitierte dann 1961 4 Jahre vor meiner Geburt bei Wolfgang Amadeus Mozart Abendroth, dem die Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ auch wer läuft da draussen vorbei? gewidmet wurde. Die Abhandlung erregte grosses Aufsehen der Hund von der sieht ja so scheisse aus und erschien 1962 bei Luchterhand im Sturz durch Raum und Zeit als Buch.

Das war klar. Ein Chip, der unsere Gedanken aufzeichnet, erzeugt einen Gedankenstrom, einen Stream of Consciousness, jene Erzähltechnik, mit der man die Gedanken einer Person wiedergeben kann, und zwar so, wie sie aus ihr herausfliessen. Typische Beispiele sind der Ulysses von Joyce oder der Lieutenant Gustl von Schnitzler.
Nun kommt mir aber doch schon wieder eine Frage: Sind nicht diese Gedankenstrom-Passagen auch schon «revidiert»? Wir denken relativ oft an Sex, früher hiess es einmal, es sei alle drei Minuten, jetzt aber haben US-Forscher herausgefunden, dass es im Schnitt alle 30 Minuten ist. Es kann aber gut sein, dass in die Denk-Schreib-Zeit eben diese Phase fiel. So bitte ich also Himmi, mir den wirklich und wahrhaftig unrevidierten Originaltext zu schicken. Nun druckst und stottert und stammelt er noch mehr, er windet sich und weicht aus, aber ich bleibe hartnäckig: ich will den Text. Er sei hier wiedergegeben, leider muss ich doch eine Revision vornehmen und Pünktchen setzen, sonst könnten meine Leser unter 18 hier nicht weiterlesen.

1959 verliess der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas man müsste unbedingt die Spinnweben da wegmachen die Universität Frankfurt, weil mein Grosser Zeh ist immer noch nicht gut es zum Konflikt mit Max Horkheimer gekommen war. Klopapier müsset man auch einmal wieder kaufen Horkheimer war ursprünglich als Betreuer meine Nachbarin läuft wahnsinnig dröhnend seiner Habilitationsschrift geplant gewesen. Habermas reimt sich auf Osterhas wechselte an die Universität Marburg und habilitierte dann 1961 4 Jahre vor meiner Geburt bei Wolfgang Amadeus Mozart Abendroth, dem die Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ auch wer läuft da draussen vorbei? gewidmet wurde. Die Abhandlung erregte die Blondine mit dem knappen Bikini gestern in der Badi die hat mich erregt dieser Arsch und diese Titten und morgen gehen wir in ihre Kabine und dann schiebe ich meine Hand in ihr Bikinihöschen und ……………………………………………………………..grosses Aufsehen der Hund von der sieht ja so scheisse aus und erschien 1962 bei Luchterhand im Sturz durch Raum und Zeit als Buch.

«Die Gedanken sind frei»
so lautete ein Lied der Revolutionszeit Mitte des 19. Jahrhunderts. Und die Gedanken sollen auch frei bleiben. Ich möchte keinen Chip im Hirn, weder einen zum Aufzeichnen von Texten – die man dann ja doch alle überarbeiten muss – noch zum Googeln, für Social Media noch sonst etwas.

Himmi erhielt übrigens in den Tagen nach seiner Textaufzeichnung folgende Werbemails:
*Eine Einladung zu einer Horkheimer-Tagung der Uni Zürich
*Angebote für Grosspackungen von Hakle®, ZEWA® und Adrex®
*den Newsletter von Ohropax®
*diverse podologische Medikamente
*20 Angebote von Escort-Services der Umgebung



 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 18. September 2020

Deutsche Puppen oder: Nazis hängen sich überall dran

Hilde Holder hat eine kleine Puppen-Manufaktur in Goldhausen (Odenwald). Sie bezieht alle Materialien von örtlichen Fabriken, wo diese ökologisch und sorgfältig produziert werden. Aus diesen fertigt sie dann wunderbare kleine Meisterwerke, die von den Familien des Ortes genauso geschätzt werden wie von den Touristen.

Hilde kleidet ihre Puppen in Trachten der Region. Nicht, weil sie besonders konservativ oder eine Brauchtums-Fanatikerin ist, sondern weil sie die Trachten einfach schön findet – und auch gut kennt. Ihre Grossmutter ging in ihrem Dorf in der Tracht in die Kirche, ihre Gotte (in einem anderen Dorf) auch, und ebenso der Grossonkel und der Urgrossonkel (in wieder anderen Dörfern). Und weil in jedem Dorf die Stoffe und Farben ein bisschen anders waren, ergibt sich bei ihren Püppchen eine nette Vielfalt.

HILDES PUPPENSTUBE am Markplatz von Goldhausen ist ein entzückender Fachwerkbau, und wer durch die weinlaubumkränzte Türe in einen heimeligen Raum aus dem 18. Jahrhundert getreten ist, ist dem Charme der Puppenstube schon erlegen und wird auch ein Püppchen kaufen…

So weit so gut.

Das alles ist wunderbar, bis an einem nebligen Herbsttag ein Fremder bei Hilde eine Puppe kauft. Er macht einen etwas komischen Eindruck, ist sehr kurzhaarig (oder sagen wir Glatze?), trägt strenge Kleidung und hat ein wenig zu feste Schuhe. Aber wenn Hilde nicht auch Kunden bedienen würde, die kurze Haare (oder sagen wir Glatze?) haben, ein bisschen strenge Kleidung tragen und Schuhe besitzen, die anderen zu fest wären, dann könnte sie ihren Laden dichtmachen.

Allerdings war diese Verkaufsaktion ein Fehler.
Als Hilde drei Wochen später zu ihrem Laden kommt, hat jemand die Scheibe eingeschlagen und gross an die Hauswand gesprüht:
NAZI-LADEN

Hilde geht zur Polizei, und man hat da schon ein paar Verdächtige, die Linke Aktion, die Antifa usw. Und man recherchiert und konfrontiert Hilde zwei Wochen später mit einem Flyer. Hier steht:

Kein Sexspielzeug und keine Roboter in unseren Kindergärten!
Deutsche Puppen für deutsche Mädchen!
Deutsche Panzer für deutsche Jungs!


Unter diesem Text ist ein Foto, auf dem zwei Kinder vor einer Reichskriegsflagge sitzen. Der Bub hält einen Panzer in der Hand und das Mädchen…
eine von Hildes Puppen.

Aber Hilde Holder ist keine, die sich so leicht unterkriegen lässt. Sie schafft es durch Zettel und Aushänge allen klarzumachen, dass sie kein Mitglied bei den Reichsbürgern oder der Deutschen Bewegung ist. Und sie verzichtet auf eine Anzeige und lädt Antifa und Linke Aktion zu einem Podiumsgespräch ein, moderiert von Dr. Gunther Delb, dem Chefredakteur des Odenwälder Boten.
Hier zwei Auszüge:

Delb: Sie werfen Frau Holler vor, dass sie zu blauäugig war?
Antifa: Ja, man muss schon wissen, an wen man verkauft.
Holder: Ich soll also meine Kunden erst verfassungsschutzrechtlich überprüfen lassen? Nach dem Motto: Sie können bestellen, aber ich muss erst den VS fragen, und dann kommt die Ware per Post?
(Gelächter im Publikum) 

Delb: Ebenso steht der Vorwurf im Raum, das Sortiment zeige keine multikulturelle Vielfalt.
Linke Aktion: Absolut. Wir haben nicht nur Deutsche in Goldhausen.
Holder: Und dann verkaufe ich Puppen mit dunkler Hautfarbe, dann spielen entweder die Goldhausener Kinder mit – verzeiht mir den Ausdruck – Negerpuppen oder die Nazis kaufen welche und machen Fotos, wo sie die verbrennen.
(Gelächter im Publikum)

Nein.
Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die Rechten sich überall dranhängen.
Wenn man versucht, eine sachliche Debatte über das Kopftuch, eine Debatte über Flüchtlinge, wenn man versucht, eine Diskussion über deutsches Kulturgut an den Schulen zu führen, hat man sie an der Backe.
Und wenn es um Corona geht, in den Ländern, die wenig oder keine Massnahmen hatten, haben die Rechten genau das kritisiert, z.B. in Schweden. Eigentlich kann man auch sagen: Sie sind immer gegen die Regierung.

In dem Podiumsgespräch wurde natürlich auch über Tracht als solche geredet. und hier gibt es ein schönes Beispiel: Oskar Maria Graf war ein bayrischer Schriftsteller, der sein ganzes Leben in Lederhose, Trachtenhemd und Sepplhut herumlief. Er schrieb bayrische Geschichten, zum Teil auch in Mundart. Die Nazis umwarben ihn wie eine Braut. Er aber – war ein Linker; und er emigrierte nach Amerika.

Wo er immer noch in Lederhose, Trachtenhemd und Sepplhut herumlief.



 

 

Dienstag, 15. September 2020

Man kann Protokolle auch schon vorher schreiben

Ich bin wieder einmal Protokollführer im Vorstand des Katholischen Kirchenchores, in dem ich singe. Für die heutige Sitzung haben wir die folgende Traktandenliste:

1) Begrüssung und Genehmigung der Traktandenliste
2) Protokoll der letzten Sitzung
3) Chorausflug am 20.9.
4) Cäcilientag (Essen)
5) Aufräumen Archiv
6) Termin nächste Sitzung

Die Sitzung beginnt zum Glück pünktlich und dann bin ich am Rotieren. Ich bete, dass die Traktandenliste und das Protokoll genehmigt wird, das ist so, die Traktandenliste, weil sie vernünftig ist, das Protokoll hat (wie immer) niemand gelesen.
Den Chorausflug organisiere ich selbst und habe ein wunderschönes Programm vorbereitet, das ich vorstelle: Über Zürich nach Rorschach, mit dem Schiff nach Lindau, dort Stadtführung und Mittagessen, weiter mit dem Zug nach Altenrhein, dort Besichtigung des Hundertwasser-Hauses und Kaffeetrinken und via Zürich heim. Der Plan wird anstandslos genehmigt.
Schwieriger wird das Essen, wieder habe ich Glück, und Braten mit Gemüse und Pommes ist auf der Vorschlagsliste, aber ich muss mich sehr ins Zeug legen, dass das Fischgericht und die Lasagne nicht zum Zuge kommen. Einfacher wird es auch nicht mit dem Archiv, es kostet einige Überzeugungsarbeit, bis alle einverstanden sind, dass die Archivarin Pippi und die Chorleiterin Peppi dies zusammen in Angriff nehmen.
Beim Termin kann ich an keinem anderen Donnerstag (alle anderen Tage gehen eh nicht bei allen) als am 5.11. und dann muss ich noch ein wenig rummachen, bis die Präsidentin Poppi die Sizung um 21.30 beenden kann.

Sie fragen sich natürlich nun: Warum das alles?
Weil ich das Protokoll schon vorher geschrieben habe und keine Lust empfinde, das noch einmal zu ändern:

1) Begrüssung und Genehmigung der Traktandenliste
Poppi begrüsst um 20.00 die Anwesenden Peppi, Pippi, Koby, Toby, Roby und Rolf (Protokoll); die Traktandenliste wird genehmigt.
2) Protokoll der letzten Sitzung
Das Protokoll vom 5.7.2020 wird genehmigt und verdankt.
3) Chorausflug am 20.9.
Rolf stellt einen wunderschönen Plan für einen Bodensee-Ausflug vor, der begeistert angenommen wird.
4) Cäcilientag (Essen)
Nach längerer Diskussion entscheidet man sich für Braten mit Pommes.
5) Aufräumen Archiv
Nach längerer Diskussion werden Pippi und Peppi beauftragt, das Archiv auszumisten.
6) Termin nächste Sitzung
Die nächste Sitzung ist am 5.11.2020 um 20.00. Poppi schliesst um 21.30 die Sitzung.

So muss man es machen.
Nicht muss ein Text sich der Wirklichkeit anpassen, sondern die Wirklichkeit dem Text.

Ich habe vor einigen Jahren für einen Reiseführer das Restaurant ZUM GOLDENEN SPERBER in Mallingen (SO) besprochen und endete mit den Worten: Leider hat es an der bildschönen Fassade aus dem 17. Jahrhundert etliche hässliche Sprayereien. Die, als der erste Leser dort einkehrte, schon entfernt waren. Was tat ich, was tue ich? Ich fahre regelmässig nachts nach Mallingen und besprühe die Fassade, wenn ich von hässlichen Sprayereien schreibe, dann sind da welche.

Genauso habe ich bei einem Konzert der Musikfreunde Zuzen (TG) so lange «Bravo» gerufen, bis der Solist nach dem Violinkonzert von Mendelssohn eine Caprice von Paganini als Zugabe spielte. Ich hatte natürlich auch meinen Text schon fertig:

Für den verdientermassen tosenden Applaus bedankte sich der Solist mit einer Caprice von Paganini als Zugabe.

Über die klassischen Beispiele dieser Wirklichkeit-an-Literatur-Anpassung habe ich – so glaube ich – schon einmal geschrieben, am 9.1.2017 (Die Tafel in Buffalo, die nach dem Gedicht von Fontane für John Maynard aufgestellt wurde und der Balkon der Julia, der auch nachträglich an das Haus kam.)

So muss man es machen.
Und jetzt kommt mir eine Idee: Ich werde alle meine Posts durchgehen und alle erfundenen Geschichten wahr machen.
Also:
Kennt jemand einen Kirchenchor, der von einer Peppi geleitet wird und in dem Poppi, Pippi, Koby, Toby und Roby singen? Ich würde dort gerne eintreten und im Vorstand mitarbeiten.

Aber nur wenn die nächste Sitzung am 5.11. ist…

Autsch, den Ausflug muss ich ja dann auch organisieren. Zum Glück ist das Hundertwasser-Gemeindehaus in Altenrhein NICHT erfunden (übrigens sehr sehenswert!)

Freitag, 11. September 2020

Meine (neuesten) schönsten Versprecher

Ich habe einen solchen Post schon einmal, im Jahre 2014, veröffentlicht. Damals stellte ich meinen Verlesern folgendes Vorwort voran:

Ich erhebe Legasthenie zur Kunstform schreibt Sten Nadolny in seinem Erstling Netzkarte.
Immer wieder verliest er sich dort auf höchst amüsante Weise, allerdings ist das alles Fiktion
Axel Hacke hat in seiner Trilogie des Weissen Neger Wumbaba Verhörer gesammelt, und zwar wirklich passierte. (Der Titel kommt von einem falsch gehörten Weissen Nebel wunderbar aus Der Mond ist aufgegangen)
Auch ich verhöre und verlese mich ständig und zwar nicht nur auf Reisen (ich bin wieder einmal, passend zu Nadolny mit einer Netzkarte durch die BuRePu unterwegs), sondern auch im Alltag.

Ich bin jetzt, im Jahre 2020, übrigens nicht in der BuRePu unterwegs, sondern daheim, aber nichtsdestotrotz möchte ich meine schönsten Verleser der letzten Zeit vorstellen:

MÜNSTERBRAUHÜTTE
lese ich an einer Tür des Basler Münsters. Im oder am Münster wird Bier gebraut? Das ist schön, das ist allerliebst. Einerseits reiht sich das Münsterbier in eine wunderbare Serie von Gerstensaft, der in Basler Privatbrauereien gemacht wird, andererseits in eine lange Tradition, da im Mittelalter ja das Bier in Klöstern gebraut wurde und den Bauern im Tausch gegen Feldernte angeboten wurde, man denke nur an das Alpirsbacher Klosterbräu und die (Sauf-)Pilgerfahrten ins Kloster Andechs. Jetzt gibt es also auch ein evangelisches, ein reformiertes, ein oekolampadisches Bier, das ist nur folgenderichtig. Ich gehe hinüber ins Restaurant Zum Isaak und bestelle ein Basler Münsterbier. Der Kellner sieht mich mit froschgrossen Augen an und muss zugeben, dass er ein solches Bier nicht kenne. Als ich ihn versuche aufzuklären, und versuche, ihm zu sagen, was da schräg gegenüber stattfinde, bekommt er einen Lachkrampf, ja er muss so sehr lachen, dass ihm die Tränen über die Wangen laufen und er sich eine Weile auch auf dem Boden wälzt. Nur stammelnd, zwischen Lachsalven hervorgezwängt, bringt er das eigentliche Wort über die Lippen:
MÜNSTERBAUHÜTTE

HANDYTAUCHAKTION
lese ich an der Reklametafel eines Moonshine®-Ladens. ich bin mir nicht ganz sicher, was das bedeuten soll.
Einerseits könnte es bedeuten, dass man jetzt endlich vollständig wasserdichte Handys erfunden hat und diese vollständig wasserdichten Handys jetzt in einer Tauchaktion getestet werden sollen. Aber will ich das? Man wird ja jetzt schon ständig mit SMS, WhatsApp oder Mail zugemüllt und zugetextet, ich bin eigentlich ganz froh, dass die Zeit im Schwimmbecken, in der ich meine 20 Bahnen (oder bei 50m-Becken 10 Bahnen) ziehe, eine Zeit ohne SMS, WhatsApp oder Mail ist. Ich möchte mein Handy auch nicht in die Dusche mitnehmen, ich möchte unter dem Wasserstrahl nicht texten, sondern…nein, nicht was Sie denken, auch nicht singen, sondern einfach unter dem Wasserstrahl stehen.
Andererseits könnte «tauchen» auch mit «surfen» zusammenhängen. Wenn man aber im Internet surft, wo taucht man dann? Im Darknet? Das wäre natürlich schön, wenn Mobilfunkfirmen wir Moonshine® einem den korrekten Umgang mit den düsteren Regionen des Netzes beibringen würde, aber kann sich ein solcher Konzern wirklich eine Liaison mit der Illegalität leisten?
Aber natürlich heisst es:
HANDYTAUSCHAKTION

KUHTÜRME DER RHEINISCHEN CHEMIEWERKE
lese ich im neuen Erzählband von Bernhard Schlink (übrigens sehr lesenswert!). Auch hier wird mein Hirn von Fragen förmlich bombardiert: Warum müssen Kühe in einer Firma gehalten werden? Und warum in einem Turm – war das (es geht um die 50er Jahre) überhaupt artgerecht? Und was wollte man mit den Kühen? Gewiss, Kühe produzieren, sie produzieren Milch und Dung. Aber was wird aus Milch und Dung gemacht? Von einer Chemiefirma? Kann man aus Milch und Dung Dünger machen? Aber Dung ist eh Dünger, das zeigt schon die Etymologie. Oder chemische Kampfstoffe? Ginge das auch in anderen Ländern? Haben deshalb die Japaner keine Kühe (die Kobe-Rinder gibt es nur auf der Nordinsel…)? Weil sie nicht in die Versuchung geraten wollen, doch Waffen herzustellen…?
Aber ein weiterer Blick in Abschiedsfarben, so heisst der neue Schlink, belehrt mich. Es steht dort:
KÜHLTÜRME DER RHEINISCHEN CHEMIEWERKE

SANITÄRTRENDWENDE
So steht es auf der WC-Wand im Gartenbad. Unter dem Firmenlogo der Firma Arschbedert. Trendwende? Also, ich bin da nicht begeistert. Ich finde die heutige westliche Kombi von Duschkabine, Badewanne und Wasserklosett eigentlich ziemlich gut. So sehr ich in vielen Punkten Nostalgiker bin, so wenig möchte ich in die Zeit der Plumpsklos zurück. Ich möchte auch keine japanischen Toiletten, wo neben der viel zu kleinen Klobrille eine Schalttafel ist, mit der man auch ein Raumschiff steuern könnte (siehe Post Willkommen im KAYTAYAHAYA - Japanische Hotelkultur vom 20. Juli 2018). Ich möchte ebenso keine bulgarischen Verhältnisse, wo es keinen Duschvorhang gibt und die ganze Nasszelle nach einer Dusche ihrem Namen alle Ehre macht, praktisch zum Putzen, sehr ungeschickt, wenn man eine Zeitung mit auf dem Klo hatte.
Aber natürlich macht Arschbedert
SANITÄRTRENNWÄNDE 

P.S. Der Name der Firma ist ein Anagramm des echten Unternehmens


Dienstag, 8. September 2020

Ich werde Kopfkissenbuchschreiber

Ich verwende in diesem Blog als Textsorte meistens die Glosse. Das ist auch nicht verwunderlich, weil das Ding ja auch Dienstag-Freitag-Glosse heisst. Ich habe aber auch schon Gedicht, Dialog, habe auch schon (fiktive) Protokolle und manch andere Art von Texten geschrieben. Was ich noch nicht probiert habe, ist eine Liste im Stile des Kopfkissenbuches, und das will ich heute versuchen.

Das Kopfkissenbuch (auch: „Kopfkissenhefte“) (jap. 枕草子, Makura no Sōshi) der Dame Sei Shōnagon ist eines der frühesten und zugleich bedeutendsten literarischen Prosawerke der japanischen Literatur. Es entstand um das Jahr 1000 n. Chr. und gehört zu der Heian-Periode.
Es ist eine Art Tagebuch, geschrieben von Sei Shōnagon, die der Kaiserin als Hofdame diente und eine freundschaftliche Beziehung zu ihr entwickelte.
Der Name des Werks wird auf die Aufbewahrung der Aufzeichnungen in einem hohlen Kopfkissen (枕) aus Porzellan zurückgeführt. Das Kopfkissenbuch besteht aus 320 meist kurzen Einträgen zu verschiedenen Themen des Alltags am kaiserlichen Hof und bildet so eine Sammlung scharfsinniger Beobachtungen, verschiedener Anekdoten, Aufzählungen von Dingen und sehr direkter, offener Meinungen sowie Eindrücke und Gefühle.
(Quelle: Wikipedia)

Mein Freund Detlev, der Idiot, der Überidiot, schreibt seit einiger Zeit an einem Kopfkissenbuch, das er auch wirklich jeden Abend zwischen seinem Kissen und dem Bezug verstaut. Also eigentlich im zweiten Kissen seines Doppelbettes, weil er sonst so hart schlafen würde. Meine Einwände, dass nicht der Aufbewahrungsort, sondern der Stil ein solches ausmacht, ignoriert er vollständig. Er ist der Meinung, die künstlerische und sprachliche Qualität der Einträge würden durch die Versorgungsart gewinnen. Das ist natürlich völliger Quatsch, denn Sei Shōnagon bewahrte das Ding dort auf, damit es nicht jeder lesen konnte.

Bei Detlev ist die Kopfkissenaufbewahrung nun auch total kontraproduktiv, denn er schleppt zweimal die Woche einen Kerl ab, und wenn er selbst vom wilden Sex eingeschlafen ist (und er ist schweisstreibend, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen…) dann entdeckt sein One-Night-Stand meist den harten Gegenstand im Kissen und beginnt zu lesen. 

Die Frage ist, ob die Listen, und die gerade interessieren mich, überhaupt Texte sind. Denn sie erfüllen ja ein Kriterium nicht, nämlich die Nichtaustauschbarkeit der Sätze.
Oder doch?
Ist dann Ihre Einkaufsliste vom letzten Samstag auch ein Text? Ein Gedicht gar?
Erdbeerkonfitüre
6 Eier
Randensaft
Brot
Ja, Glück gehabt, die Anordnung ist wirklich die beste, man kann es nicht vertauschen. An Ihnen ist ein Goethe verlorengegangen.
Auch Bertolt Brecht wählt in seinem späten Gedicht Vergnügungen diese Kopfkissen-Listen-Form und einem Gedicht von ihm will man ja nicht nachsagen, es sei kein Text.

Nun, wohlan denn, lasst uns shōnagonen!

(Neues Wort: shōnagonen = Dinge kunstvoll in Listen aufschreiben)

Sachen, die mir gewaltigen Spass machen

…an einem Sonntag bei 38 Grad an der zweihundert Meter langen Schlange schwitzender und schnaufender Leute vor der Kasse des Gartenbades St. Jakob vorbeilaufen und einfach so zur Umkleide huschen, weil sie lösen müssen und ich ein Abo habe

…nach der samstäglichen Putzaktion mich im Wohnzimmer auf den Boden legen und eine Viertelstunde lang das spiegelnde Parkett anschauen

…hinter einer nur englischsprechenden Kundin im Laden zu stehen, die offensichtlich keine Touristin sondern eine länger im Lande lebende Expat ist, ihre verzweifelten Versuche mit der (des Englischen unkundigen) Verkäuferin anzuhören und (obwohl ich es könnte) ihr nicht zu helfen

…eine Stunde lang einen neues Hintergrundbild für meinen Laptop ausprobieren (die Steinmauer mit dem Sonnenuntergang bei Frank und Claudia? die Brücke in den Kasseler Auen? der kleine Papyrustrieb, der den grossen Stängeln gegenübersteht?) und es dann doch beim alten Bild zu lassen

…mich mit einer Viertelsflasche Duschgel einreiben, bis eine dicke blaue Schicht auf meinem Körper ist und dann 15 Minuten diese Schicht abspülen, obwohl ich weiss, dass es schädlich für meine Haut UND schädlich für den Planeten ist – mache ich im Freibad nur 1x pro Saison

…von völlig undenkbaren und unmöglichen Städten wie Offenbach am Main mir Hotels im Internet ansehen und mich diebisch freuen, dass booking.com mir jetzt laufend Angebote von völlig undenkbaren und unmöglichen Städten wie Offenbach am Main schickt, obwohl ich da nie hinfahren werde

…in meinem Zimmer in Solothurn Unterrichtsmaterial wie DIE VIER FÄLLE oder VERBZEITEN DES DEUTSCHEN in vier Farben (rot, blau, gelb, grün) ausdrucken und sie dann mit verschiedenfarbigen Reissnägeln (rot, blau, gelb, grün) aufhängen

…Posts im Stile eines Kopfkissenbuches zu schreiben

 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 4. September 2020

Im Corona-Tempo

Ein Freund von mir möchte für seine Website www.lesenswertebuecher.ch eine Besprechung von Robert Seethalers neuestem Werk Der letzte Satz, 30 Zeilen, bis morgen.
Bis morgen?
Nun ist der Roman kein dickes Buch, nur ca. 100 Seiten, auch das Thema ist mir als Musiker bekannt, es geht um Gustav Mahler, ebenso bin ich mit Seethalers Stil ein wenig vertraut, ich habe (fast) alles von ihm gelesen, das Werk liegt auch bei mir im Arbeitszimmer, ich müsste nicht in meine Buchhandlung, zudem sind 30 Zeilen auch nur 30 Zeilen, aber dennoch…
Bis morgen?
Ich rufe meinen Freund an. Corona-Tempo, meint er. Und auf ein relativ lautes „Hä?“ von mir, beginnt er zu erklären: Es gebe ein Corona-Tempo, ich hätte doch auch schon gemerkt, dass in Zeiten von Covid19 alles ein wenig schneller ginge, so baue man ein Spital eben nicht mehr in einem Jahr, sondern eben in einer Woche, Gesetze witschten in Windeseile durch die Parlamente, auch Gesetze, die Zahlungen in Milliardenhöhe nach sich zögen, und ein Impfstoff, für den man sonst 4 bis 5 Jahre rechne, sei in einem Dreivierteljahr da. Alles ginge rasanter, und da brauche man für eine Rezension eben auch nur einen Tag.

Ich komme ins Grübeln: Ist das so einfach?

Stellen Sie sich vor, Sie brauchen für einen Apfelkuchen vom Erstes-Ei-aufschlagen bis zum Kuchen-in-den-Ofen-stellen normalerweise 30 Minuten. Und an einem Tag merken Sie, dass Sie vom Erstes-Ei-aufschlagen bis zum Kuchen-in-den-Ofen-stellen nur zehn benötigt haben. Es gibt drei mögliche Erklärungen:
Erklärungsversuch 1:
Sie sind von Helios, Poseidon und Ares – vielleicht auch von Dionysos – umarmt und geküsst worden, und Helios, Poseidon und Ares – vielleicht auch Dionysos – haben Ihnen so viel Sonnenenergie, Meeresbrausen und Kriegslust – vielleicht auch Ekstase und Rausch – gespendet, dass Sie über sich hinausgewachsen sind, eine Sternstunde hatten, dass Sie so viel Power in sich fühlten, dass alles in einem Drittel der Zeit ging.
Erklärungsversuch 2:
Sie waren schlicht und einfach sonst immer zu langsam, weil Sie halt ein Schlurfi sind, ein Trödler, ein Herumwurschtler, jemand, der den Spruch Gut Ding will Weile haben tief verinnerlicht hat.
Erklärungsversuch 3:
Sie haben gepfuscht. Schon beim Eieraufschlagen ist Ihnen Schale in die Schüssel gefallen, Mehl, Zucker, Fett und Backpulver haben Sie falsch abgemessen und die Äpfel sind so mies gerüstet worden, dass sich nicht nur Schalenreste, sondern auch Teile des Gehäuses, Kerne und – man stelle sich das vor! – der Stiel auf dem Teig befindet.

Ich halte Erklärung 3 für die wahrscheinlichste.
Warum sollten Helios, Poseidon und Ares – vielleicht auch von Dionysos – die hehren und edlen Götter, Ihnen so viel Energie spenden, wenn es um einen Apfelkuchen geht? Nicht um die Rettung der Welt oder den Kampf um Troja, sondern um ein simples Fruchtgebäck?
Warum sollte es so sein, dass Sie die bisher abgelaufenen 30 Jahre Ihres Lebens lang für Apfelkuchen zu lange gebraucht haben?
Nein.
Es ist 3.) Der Kuchen ist ein Pfusch, er taugt nur dafür, den Nachbarskatzen verfüttert oder den Ärmsten am Bahnhof mit ihren „Habe Hungger – bittä Essen“-Schildern gegeben zu werden. Er taugt für den Müll, den Misteimer, er taugt für die Tonne oder den Chüder.
Nicht für die Schwiegermutter oder für das Geburtstagskind.

Gut Ding will Weile haben.
Das habe ich oben jemand als Negativum rangeklatscht, aber eigentlich ist das eine Weisheit.
Die zu meiner Jugendzeit voll gültig war.
Gut Ding will Weile haben.

Und sehen Sie, so ist das mit den Corona-Tempo-Sachen auch.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Spital, dass in 168 Stunden hochgezogen wurde, so professionell und stabil ist, wie eines, das seine normale Werdezeit haben durfte. Man wird die Mängel nie erfahren, es sei denn, es kracht spektakulär zusammen. (Frage: Sind das dann Covid19-Tote?)
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Billionen-Gesetze, die an einem Tag das Parlament passieren, keine Mängel haben. Irgendwann wird das Geld fehlen, es sei denn, man schafft es, die zu besteuern, die am meisten an der Krise verdient haben: Die Herren Google und Facebook, Microsoft und wie sie alle heissen…
Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Impfstoff, für den man sonst 5 Jahre bräuchte, in einem ¾ Jahr die gleiche Qualität bekommt, wirksam und ohne schlimmste Nebenwirkungen. Was habe ich davon, wenn ich zwar super vor dem Virus geschützt bin, aber hinke und ertaube?

So, jetzt muss ich an meinen Seethaler.
Mein Kumpel zahlt mir das Dreifache, so teilte er eben mit, wenn die Rezension schon HEUTE Abend fertig wird.

Es wird der schlechteste Text meines Lebens.

 

 

Dienstag, 1. September 2020

Helene von Mammelsberg und die Nostalgie

Mein Erzengel sucht ja immer nach Fehlern. Und wenn er keine grammatikalischen oder orthografischen Fehler findet, dann sucht er statt nach grammatikalischen oder orthografischen Fehlern nach Sinn- und Sachfehlern. Und manchmal – nein, immer – ist das auch sehr hilfreich. Neulich allerdings lag er falsch, als er die folgende Passage monierte:

Gunda hat das Recht, die Autobiografie der Helene von Mammelsberg (1787–1845) nicht zu lesen, wenn sie sich für die Rokokozeit nicht interessiert.

Er schrieb auf WhatsApp:
Was ist das für ein Rokoko, das zu Lebzeiten von Helene von Mammelsberg noch andauerte?
Ich schrieb zurück:
Das ist mir schon klar. Sie war halt eine Spätzünderin. 😊😊

Das war ein wenig falsch ausgedrückt. „Spätzünderin“ trifft es nicht ganz. Man könnte die Gräfin aus dem Spessart vielleicht negativ als „Ewig-Gestrige“ oder positiv als „Nostalgikerin“ bezeichnen. Vielleicht ist Helene sogar mit eine frühe Erfinderin des Vintage-Gedankens. Wichtig – und das hat mein Erzengel überlesen – ist, dass es sich bei dem erwähnten Buch um eine AUTObiografie handelt. Eine normale Biografie hätte sicher nicht das Rokoko erwähnt. Sie aber beginnt ihren Text mit der Passage:

Ich bin am fuenften May des Jahres 1787 geboren. Zu spaet. In doppelter Hinsicht zu spaet, denn eynerseyts litt meyne Mutter tagelang an den Wehen und andererseits habe ich das Rokoko verpasset.
Ach, das Rokoko!

Und dieses Rokoko-verpasst-Thema, dieses Rokoko-nicht-mehr-erlebt-Thema zieht sich durch das ganze Buch.
Das hat im Grafengeschlecht derer von Mammelsberg eine gewisse Tradition. Die Grafschaft, nur ca. 50 km2 gross, liegt im Süden von Aschaffenburg und seine Täler sind von dichten Wäldern umrundet; man lebt hier sozusagen als Hinterwäldlerinnen und Hinterwäldler. 1651 wurde z.B. eine Gruppe reitender Schweden von ihren Rössern gezerrt und brutal zugerichtet, was der Grafschaft Mammelsberg eine strikte kaiserliche Rüge bescherte. Dabei war man einfach der Zeit ein wenig hinterher: Man hatte den Westfälischen Frieden (1648) nicht mitbekommen.

Helene nun war nun stets im Gestrigen unterwegs. Seit sie in den Schränken ihrer Grossmutter die duftigen Kleider mit ihren Rüschen und Bändern, vor allem aber mit den Krinolinen entdeckt hatte, war sie für die Mode ihrer Zeit, das Empire verloren, das galt auch für Möbel und Bilder. Dies bescherte ihr nicht nur Aufsehen und Publicity, sondern auch eine Menge Unverständnis und Ablehnung. So schrieb die Fürstin von Hessen-Nassau 1820 an eine Freundin:

Man müsste zur Hochzeit sicher auch die Mammelsberger einladen, schliesslich sind sie weitläufig mit uns verwandt, aber Helene, diese Birne, kommt bestimmt wieder in einem weiten Rock mit Krinoline und ich habe keine Lust auf diese Komödie.
 

Und bevor mein Erzengel jetzt wieder die Stirn runzelt, «Helene, diese Birne» ist eine eigenartige Vorwegnahme, die Nassauerin konnte die Poire Belle Hélène nicht kennen, sie wurde erst 1870 in Paris von Escoffier kreiert, zu den Aufführungen von Offenbachs Schöner Helena.

Der Wahlspruch der Gräfin von Mammelsberg lautete: «Das wird wieder modern.» Und sie konnte diesen Wahlspruch in allen Arten variieren:
«Das kommt wieder, keine Frage.»
«In 20 Jahren ist das wieder in.»
«Nicht wegschmeissen – das wird wieder Stil.»
usw.

So gesehen ist die Gute ihrer Zeit nicht nur hinterher, sondern auch voraus gewesen, denn – so paradox das klingen mag. In jener Zeit hatte ein Vintage-Gedanke, eine Nostalgie-Haltung etwas ungeheuer Modernes. In einer Epoche, in der sämtliche Leute, wenn es von Lois Y zu Lois Y+1 wechselte, das gesamte Mobiliar und alle Kleider austauschten, war die Idee, sich mit Altem zu schmücken, revolutionär.

Und Helene hat in unseren Zeiten ja auch recht bekommen: Wer das Glück hat, einen Nierentisch von 1954 zu besitzen, hat entweder ein elegantes Möbel fürs Wohnzimmer oder macht viel Geld damit, die Dinger sind, wenn sie qualitativ und optisch gut sind, richtig teuer. Also alles aufheben.
Ein Problem ist nur, ob die teure Lagerung den späteren Profit aufwiegt.

Als Helene von Mammelsberg 1847 starb, schmissen ihre Erben alles weg. Was ein Fehler war: Ca. 1850 begann das Zweite Rokoko und damit eine Renaissance der Krinoline.

P.S. Es gab in der Grafschaft Mammelsberg einen Anbau von Haselnüssen. Ob aber das Kinderlied vom Weiblein auf sie zurückgeht, ist fraglich:
Ging ein Weiblein Nüsse schütteln, Nüsse schütteln, Nüsse schütteln
Riss die Krinoline in Stücken, ganz in Stücken – rums.