Dienstag, 8. September 2020

Ich werde Kopfkissenbuchschreiber

Ich verwende in diesem Blog als Textsorte meistens die Glosse. Das ist auch nicht verwunderlich, weil das Ding ja auch Dienstag-Freitag-Glosse heisst. Ich habe aber auch schon Gedicht, Dialog, habe auch schon (fiktive) Protokolle und manch andere Art von Texten geschrieben. Was ich noch nicht probiert habe, ist eine Liste im Stile des Kopfkissenbuches, und das will ich heute versuchen.

Das Kopfkissenbuch (auch: „Kopfkissenhefte“) (jap. 枕草子, Makura no Sōshi) der Dame Sei Shōnagon ist eines der frühesten und zugleich bedeutendsten literarischen Prosawerke der japanischen Literatur. Es entstand um das Jahr 1000 n. Chr. und gehört zu der Heian-Periode.
Es ist eine Art Tagebuch, geschrieben von Sei Shōnagon, die der Kaiserin als Hofdame diente und eine freundschaftliche Beziehung zu ihr entwickelte.
Der Name des Werks wird auf die Aufbewahrung der Aufzeichnungen in einem hohlen Kopfkissen (枕) aus Porzellan zurückgeführt. Das Kopfkissenbuch besteht aus 320 meist kurzen Einträgen zu verschiedenen Themen des Alltags am kaiserlichen Hof und bildet so eine Sammlung scharfsinniger Beobachtungen, verschiedener Anekdoten, Aufzählungen von Dingen und sehr direkter, offener Meinungen sowie Eindrücke und Gefühle.
(Quelle: Wikipedia)

Mein Freund Detlev, der Idiot, der Überidiot, schreibt seit einiger Zeit an einem Kopfkissenbuch, das er auch wirklich jeden Abend zwischen seinem Kissen und dem Bezug verstaut. Also eigentlich im zweiten Kissen seines Doppelbettes, weil er sonst so hart schlafen würde. Meine Einwände, dass nicht der Aufbewahrungsort, sondern der Stil ein solches ausmacht, ignoriert er vollständig. Er ist der Meinung, die künstlerische und sprachliche Qualität der Einträge würden durch die Versorgungsart gewinnen. Das ist natürlich völliger Quatsch, denn Sei Shōnagon bewahrte das Ding dort auf, damit es nicht jeder lesen konnte.

Bei Detlev ist die Kopfkissenaufbewahrung nun auch total kontraproduktiv, denn er schleppt zweimal die Woche einen Kerl ab, und wenn er selbst vom wilden Sex eingeschlafen ist (und er ist schweisstreibend, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen…) dann entdeckt sein One-Night-Stand meist den harten Gegenstand im Kissen und beginnt zu lesen. 

Die Frage ist, ob die Listen, und die gerade interessieren mich, überhaupt Texte sind. Denn sie erfüllen ja ein Kriterium nicht, nämlich die Nichtaustauschbarkeit der Sätze.
Oder doch?
Ist dann Ihre Einkaufsliste vom letzten Samstag auch ein Text? Ein Gedicht gar?
Erdbeerkonfitüre
6 Eier
Randensaft
Brot
Ja, Glück gehabt, die Anordnung ist wirklich die beste, man kann es nicht vertauschen. An Ihnen ist ein Goethe verlorengegangen.
Auch Bertolt Brecht wählt in seinem späten Gedicht Vergnügungen diese Kopfkissen-Listen-Form und einem Gedicht von ihm will man ja nicht nachsagen, es sei kein Text.

Nun, wohlan denn, lasst uns shōnagonen!

(Neues Wort: shōnagonen = Dinge kunstvoll in Listen aufschreiben)

Sachen, die mir gewaltigen Spass machen

…an einem Sonntag bei 38 Grad an der zweihundert Meter langen Schlange schwitzender und schnaufender Leute vor der Kasse des Gartenbades St. Jakob vorbeilaufen und einfach so zur Umkleide huschen, weil sie lösen müssen und ich ein Abo habe

…nach der samstäglichen Putzaktion mich im Wohnzimmer auf den Boden legen und eine Viertelstunde lang das spiegelnde Parkett anschauen

…hinter einer nur englischsprechenden Kundin im Laden zu stehen, die offensichtlich keine Touristin sondern eine länger im Lande lebende Expat ist, ihre verzweifelten Versuche mit der (des Englischen unkundigen) Verkäuferin anzuhören und (obwohl ich es könnte) ihr nicht zu helfen

…eine Stunde lang einen neues Hintergrundbild für meinen Laptop ausprobieren (die Steinmauer mit dem Sonnenuntergang bei Frank und Claudia? die Brücke in den Kasseler Auen? der kleine Papyrustrieb, der den grossen Stängeln gegenübersteht?) und es dann doch beim alten Bild zu lassen

…mich mit einer Viertelsflasche Duschgel einreiben, bis eine dicke blaue Schicht auf meinem Körper ist und dann 15 Minuten diese Schicht abspülen, obwohl ich weiss, dass es schädlich für meine Haut UND schädlich für den Planeten ist – mache ich im Freibad nur 1x pro Saison

…von völlig undenkbaren und unmöglichen Städten wie Offenbach am Main mir Hotels im Internet ansehen und mich diebisch freuen, dass booking.com mir jetzt laufend Angebote von völlig undenkbaren und unmöglichen Städten wie Offenbach am Main schickt, obwohl ich da nie hinfahren werde

…in meinem Zimmer in Solothurn Unterrichtsmaterial wie DIE VIER FÄLLE oder VERBZEITEN DES DEUTSCHEN in vier Farben (rot, blau, gelb, grün) ausdrucken und sie dann mit verschiedenfarbigen Reissnägeln (rot, blau, gelb, grün) aufhängen

…Posts im Stile eines Kopfkissenbuches zu schreiben

 

 

 

 

 

 

 

 

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