Dienstag, 1. September 2020

Helene von Mammelsberg und die Nostalgie

Mein Erzengel sucht ja immer nach Fehlern. Und wenn er keine grammatikalischen oder orthografischen Fehler findet, dann sucht er statt nach grammatikalischen oder orthografischen Fehlern nach Sinn- und Sachfehlern. Und manchmal – nein, immer – ist das auch sehr hilfreich. Neulich allerdings lag er falsch, als er die folgende Passage monierte:

Gunda hat das Recht, die Autobiografie der Helene von Mammelsberg (1787–1845) nicht zu lesen, wenn sie sich für die Rokokozeit nicht interessiert.

Er schrieb auf WhatsApp:
Was ist das für ein Rokoko, das zu Lebzeiten von Helene von Mammelsberg noch andauerte?
Ich schrieb zurück:
Das ist mir schon klar. Sie war halt eine Spätzünderin. 😊😊

Das war ein wenig falsch ausgedrückt. „Spätzünderin“ trifft es nicht ganz. Man könnte die Gräfin aus dem Spessart vielleicht negativ als „Ewig-Gestrige“ oder positiv als „Nostalgikerin“ bezeichnen. Vielleicht ist Helene sogar mit eine frühe Erfinderin des Vintage-Gedankens. Wichtig – und das hat mein Erzengel überlesen – ist, dass es sich bei dem erwähnten Buch um eine AUTObiografie handelt. Eine normale Biografie hätte sicher nicht das Rokoko erwähnt. Sie aber beginnt ihren Text mit der Passage:

Ich bin am fuenften May des Jahres 1787 geboren. Zu spaet. In doppelter Hinsicht zu spaet, denn eynerseyts litt meyne Mutter tagelang an den Wehen und andererseits habe ich das Rokoko verpasset.
Ach, das Rokoko!

Und dieses Rokoko-verpasst-Thema, dieses Rokoko-nicht-mehr-erlebt-Thema zieht sich durch das ganze Buch.
Das hat im Grafengeschlecht derer von Mammelsberg eine gewisse Tradition. Die Grafschaft, nur ca. 50 km2 gross, liegt im Süden von Aschaffenburg und seine Täler sind von dichten Wäldern umrundet; man lebt hier sozusagen als Hinterwäldlerinnen und Hinterwäldler. 1651 wurde z.B. eine Gruppe reitender Schweden von ihren Rössern gezerrt und brutal zugerichtet, was der Grafschaft Mammelsberg eine strikte kaiserliche Rüge bescherte. Dabei war man einfach der Zeit ein wenig hinterher: Man hatte den Westfälischen Frieden (1648) nicht mitbekommen.

Helene nun war nun stets im Gestrigen unterwegs. Seit sie in den Schränken ihrer Grossmutter die duftigen Kleider mit ihren Rüschen und Bändern, vor allem aber mit den Krinolinen entdeckt hatte, war sie für die Mode ihrer Zeit, das Empire verloren, das galt auch für Möbel und Bilder. Dies bescherte ihr nicht nur Aufsehen und Publicity, sondern auch eine Menge Unverständnis und Ablehnung. So schrieb die Fürstin von Hessen-Nassau 1820 an eine Freundin:

Man müsste zur Hochzeit sicher auch die Mammelsberger einladen, schliesslich sind sie weitläufig mit uns verwandt, aber Helene, diese Birne, kommt bestimmt wieder in einem weiten Rock mit Krinoline und ich habe keine Lust auf diese Komödie.
 

Und bevor mein Erzengel jetzt wieder die Stirn runzelt, «Helene, diese Birne» ist eine eigenartige Vorwegnahme, die Nassauerin konnte die Poire Belle Hélène nicht kennen, sie wurde erst 1870 in Paris von Escoffier kreiert, zu den Aufführungen von Offenbachs Schöner Helena.

Der Wahlspruch der Gräfin von Mammelsberg lautete: «Das wird wieder modern.» Und sie konnte diesen Wahlspruch in allen Arten variieren:
«Das kommt wieder, keine Frage.»
«In 20 Jahren ist das wieder in.»
«Nicht wegschmeissen – das wird wieder Stil.»
usw.

So gesehen ist die Gute ihrer Zeit nicht nur hinterher, sondern auch voraus gewesen, denn – so paradox das klingen mag. In jener Zeit hatte ein Vintage-Gedanke, eine Nostalgie-Haltung etwas ungeheuer Modernes. In einer Epoche, in der sämtliche Leute, wenn es von Lois Y zu Lois Y+1 wechselte, das gesamte Mobiliar und alle Kleider austauschten, war die Idee, sich mit Altem zu schmücken, revolutionär.

Und Helene hat in unseren Zeiten ja auch recht bekommen: Wer das Glück hat, einen Nierentisch von 1954 zu besitzen, hat entweder ein elegantes Möbel fürs Wohnzimmer oder macht viel Geld damit, die Dinger sind, wenn sie qualitativ und optisch gut sind, richtig teuer. Also alles aufheben.
Ein Problem ist nur, ob die teure Lagerung den späteren Profit aufwiegt.

Als Helene von Mammelsberg 1847 starb, schmissen ihre Erben alles weg. Was ein Fehler war: Ca. 1850 begann das Zweite Rokoko und damit eine Renaissance der Krinoline.

P.S. Es gab in der Grafschaft Mammelsberg einen Anbau von Haselnüssen. Ob aber das Kinderlied vom Weiblein auf sie zurückgeht, ist fraglich:
Ging ein Weiblein Nüsse schütteln, Nüsse schütteln, Nüsse schütteln
Riss die Krinoline in Stücken, ganz in Stücken – rums.

   

 

 

 

 

 

 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen