Freitag, 30. Oktober 2020

Genug ist nicht genug????

Ach, mir schwirrt der Kopf. Mein armer Kopf, er schwirrt. Ich bin ganz verdudelt und vernudelt. Jetzt habe ich neulich über genug und viel und zu viel geschrieben, und alles war eigentlich ganz eindeutig. Jetzt schickt mir mein Erzengel ein Gedicht, dessen erste Strophe lautet:

Genug ist nicht genug! Gepriesen werde
Der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte!
Tief beugt sich mancher allzureich beschwerte,
Der Apfel fällt mit dumpfem Laut zu Erde.

Ja, wie denn nun? Wir waren uns doch einig, dass es von bestimmten Dingen genug haben muss – aber nun ist genug gar nicht genug? Es braucht noch mehr?
Und da fallen mir noch einige andere Zeilen ein, die das Gleiche sagen (die obigen sind übrigens von C. F. Meyer, das Gedicht heisst Fülle). Konstantin Wecker singt zum Beispiel

Dieser Stadt schwillt schon der Bauch
Und ich bin zum großen Knall bereit
Auf den Dächern hockt ein satter Gott
Und predigt von Genügsamkeit
Genug ist nicht genug
Ich lass mich nicht belügen
Schon Schweigen ist Betrug
Genug kann nie genügen

Und im Titelsong des Musicalfilms FAME heisst es – gesungen von Irene Cara

Baby I'll be tough, too much is not enough, no
I can ride your heart 'til it breaks
Oh, I got what it takes

O, mir schwirrt der Kopf, mein armer Schädel brummt und die Gedanken sausen in meiner Hirnschale umeinander. Genug ist nicht genug? Und ist dann zu wenig immer noch zu viel? So nach dem einen Satz von Richard Strauss, der dem Sinn nach schrieb, dass, wenn man der Meinung sei, das Blech spiele zu leise, es noch einmal zwei Stufen herunterdämpfen solle.

Was bedeutet das nun, wenn man solche Gedankenspiele auf Welt und Politik und Gesellschaft und Kultur anwendet?
Das wird ganz schrecklich. Man stelle sich nur vor: Bisher ist man angetreten um z. B. der Menschheit genug zu Essen zu bringen. Was aber, wenn jetzt die Menschheit sich auf die Hinterbeine stellt und ruft: «Genug ist nicht genug! Genug kann nie genügen! Too much is not enough!» Das würde ja bedeuten – ich werde vor Schrecken bleich – dass es nicht nur Brot für die Welt (in der Schweiz Brot für alle) geben müsste, sondern auch Wurst für die Welt/Wurst für alle und Käse für die Welt/Käse für alle. Ok, damit könnten wir ja noch leben. Aber, wenn sie immer noch rufen: «Genug ist nicht genug! Genug kann nie genügen! Too much is not enough!»? Dann müssten wir ja gar auch unsere Lebkuchen, Schnapspralinen, unsere Kobe-Steaks und Austern mit ihnen teilen, sprich unseren ganzen Wohlstand – und das kann nun wirklich nicht die Meinung sein.
Hat es genug Frauen in den Vorständen?
Hat es genug Frauen in der Politik?
Tun wir genug für die Kultur?
Ist die Schule genug digitalisiert?
Immer wieder stehen Leute auf und schreien: «Genug ist nicht genug!»

Und umgekehrt?
Was wäre, wenn man den Spruch «zu wenig ist immer noch zu viel» auf aktuelle Sachverhalte anwenden würde? Da kämen ja auch die totalen Katastrophen heraus.
So ist es ja eindeutig, dass zurzeit die Leute zu wenig fliegen – wo sollen sie denn auch hinjetten, wenn überall Risikogebiet ist, wenn man in Quarantäne muss, entweder beim Hinfliegen oder Heimkommen – aber was wäre, wenn jetzt FFF schreit: «Zu wenig ist immer noch zu viel»? Da hat man Werte gesenkt, hat weniger Gift im Essen, weniger Kohlendioxyd in der Luft, man hat weniger Pestizid im Gemüse und weniger Abfall, aber doch sagen Menschen, zu wenig sei immer noch zu viel.

Ach, mir schwirrt der Kopf. Mein armer Kopf, er schwirrt. Ich bin ganz verdudelt und vernudelt. Jetzt habe ich neulich über genug und viel und zu viel geschrieben, und alles war eigentlich ganz eindeutig.
Aber ist nicht auch ein Blog selbst ein Beispiel für ein Genug-ist-nicht-genug? Wie ein Tagebuch, wie Annalen, wie andere literarische Dinge hat er ja kein klares Ende, keine Peripetie oder Katastrophe, er webt und schwebt sich immer weiter, mäandernd und schillernd, er wird weitergehen, bis ich sterbe (oder keine Lust mehr habe…)
Oder wie Meyer sagt:

Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen
Schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses,
Das Herz, auch es bedarf des Überflusses,
Genug kann nie und nimmermehr genügen!

Dienstag, 27. Oktober 2020

Man muss in Europa keine einheitliche Zeit haben

 Wir haben die Uhren wieder einmal zurückgestellt. Also, eigentlich stimmt das gar nicht. Wir haben die Uhren ja gar nicht zurückgestellt, man muss ja nicht mehr drehen und schrauben, die Uhren haben sich selbst zurückgestellt, auch das stimmt nicht ganz, sie sind von irgendeiner Zentrale angetrieben worden, hockt da eigentlich ein kleines Männchen und drückt auf einen Schalter oder geht das auch automatisch und von wo wird die Sache nun eigentlich gesteuert?

Egal.

Wir haben nun wieder die Winterzeit, also die normale, so wie jedes Jahr und wie jedes Jahr schwebt die Hoffnung über uns, diese Zeitumstellung möge die letzte gewesen sein. Es ist klar, dass man den Unsinn lassen will, den erhofften Erfolg hat es ja nicht gebracht, nämlich eine Energieersparnis, was natürlich logisch war, denn die Lampen, die am Abend später angehen, gehen am Morgen später aus.

Ausserdem: Es gibt nicht nur Menschen, die am Abend lange aufbleiben. Es gibt auch Menschen, die morgens früh aufstehen müssen. Es gibt Zeitungsausträger und Bäcker, es gibt Baristas und Buschauffeure, alle sie sind jetzt froh, wenn eben 6.00 auch 6.00 nach der Sonne ist und eben diese Sonne auch dann irgendwann aufgeht…

Nun will man den Blödsinn also bleibenlassen, Europa ist sich nur uneinig, ob man zukünftig die jetzige Sommer- oder Winterzeit behalten will. Eigentlich ein Unding, denn die Macher der Weltzeit haben sich ja irgendwas gedacht, so mit Sonne im Zenit um 12.00 und so, die jetzt eingekehrte Zeit ist die richtige, die MEZ, die Mitteleuropäische Zeit, da gibt es nichts zu rütteln dran, und die könnte man einfach behalten.

Aber warum muss sich Europa überhaupt einig sein? Man ist sich doch in keinem Punkt einig, warum können dann die Staaten nicht selbst entscheiden, welche Zeit sie haben? Warum lässt man keinen Flickenteppich entstehen? Es herrscht doch nirgendwo Unité de doctrin, nicht bei Corona, nicht bei den Flüchtlingen, nicht bei der Umwelt und nicht einmal bei der Rechtsstaatlichkeit. Selbst bei extrem simplen und äusserst einfachen Dingen ist keine Einigkeit da. Nirgendwo dürfen Sie zum Beispiel einfach beliebig schnell auf einer Autobahn fahren – ausser in der Bundesrepublik Deutschland. Und wenn man dort einen Raser nach einem Unfall aufgreift (im Schadensfalle hat er nämlich doch Teilschuld), dann findet man im Kofferraum eine Kiste mit 10000000 in Bar, mit dem Geld wollte er sich ein Haus kaufen, das geht nämlich auch nur in der BRD, willkommen im Geldwäscherland. Wenn Sie hemmungslos kiffen wollen, dann gehen Sie nach Holland, zum Sterben in die Schweiz und zum Steuersparen nach Malta, wenn Sie umgekehrt aber Ihre Meinung sagen wollen, dann gehen Sie nicht nach Ungarn oder Polen.

Uneinigkeit, wohin man schaut…
Daher mein Vorschlag:
Als Symbol der Uneinigkeit, der Zerrissenheit, als Darstellung des Flickenteppichs und des Auseinanderdriftens in Moral und Ethos wählt sich jedes Land eine eigene Zeit. Und zwar sind – und jetzt wird es lustig – auch Verschiebungen um Spannen ungleich einer Stunde möglich. Natürlich werden sich einige Länder doch einigen und dann könnte eine Tabelle folgendermassen aussehen:

Wenn es 10.00 in Berlin ist, dann ist es in

Amsterdam

10.45

Beneluxzeit

BLZ

Brüssel

10.45

Beneluxzeit

BLZ

Luxemburg

10.45

Benelux

BLZ

Warschau

8. 30

Ost-Zeit

OZ

Budapest

8.30

Ost-Zeit

OZ

Rom

14.15

Südeuropäische Zeit

SEZ

Madrid

14.15

Südeuropäische Zeit

SEZ

Stockholm

11.50

Nordeuropäische Zeit

NEZ

Kopenhagen

11.50

Nordeuropäische Zeit

NEZ



Interessant, nicht?
Wir sehen, dass bestimmte Länder uns voraus sind, die Beneluxstaaten und die Skandinavier.
Und bestimmte Länder sind ihrer Zeit eben hinterher. Entschuldigung, zeigt nicht die Errichtung von LTGB-freien Zonen, dass man seiner Zeit weit, meilenweit, lichtjahreweit hinterher ist? Und das sind in Polen ja keine Einzelstädte mehr, fast ¼ des Landes hat die «Kommunale Charta der Rechte von Familien» unterzeichnet.
Die SEZ ist sicher das Interessanteste: Sie geht jetzt generell nur von 14.00–16.00, rückt also nur in ganz kleinen Schritten vor. Es ist also ab nun in Südeuropa immer Siesta.
Machen wir es also so: Zeigen wir auch mit den Uhrzeiten, wie uneinig wir in Europa sind.

Wir haben die Uhren wieder einmal zurückgestellt. Also, wir haben die Uhren ja gar nicht zurückgestellt, sie sind von irgendeiner Zentrale angetrieben worden, ein kleines Männlein hat da auf einen Knopf gedrückt.
Wir haben nun wieder die Winterzeit, also die normale, so wie jedes Jahr und wie jedes Jahr schwebt die Hoffnung über uns, diese Zeitumstellung möge die letzte gewesen sein.

Man muss sich nur noch einigen…
Nein.
Muss man nicht.

Freitag, 23. Oktober 2020

Der Papierberg vor meinem Haus

Liebe Leserin, lieber Leser
Sie dürfen mit der Dienstag-Freitag-Glosse machen, was Sie mit ihr machen wollen. Sie dürfen Sie lesen, sich an ihr freuen, sie weiterempfehlen, sie kopieren, in eigene Texte einfügen, sie dürfen sie aber auch haten, sie beschimpfen, sie blöd finden, sie dürfen sie kommentieren oder eben nicht kommentieren, sie dürfen sie in den Himmel loben oder zur Hölle wünschen, sie dürfen sie an Ihre Omas und Ihre Neffen weitergeben oder Ihre Tante oder Ihre Enkel vor ihr warnen.
Sie dürfen alles.
Ausser…
Drucken Sie bitte keine Posts aus.

Heute Morgen war wieder einmal (wie immer einmal im Monat) Papier- und Kartonabholung. Und wie immer einmal im Monat starrte ich auf den Haufen, der ungefähr die Grösse, Breite und Länge eines ausgiebigen Kleiderschrankes hatte. Und das war nur vor der Kleberstrasse 81, wo ich wohne, vor Kleberstrasse 83 stand noch einmal ein Kleiderschrank, und vor 85 waren es noch einmal 10 Kubikmeter und vor dem überüberübernächsten Haus auch noch einmal 12.

Hier muss ich nun zunächst die Bewohnerinnen und Bewohner von Kleberstrasse 81, Kleberstrasse 83, Kleberstrasse 85 und natürlich selbstverständlich auch die Leute, die in der Kleberstrasse 87 wohnen, in Schutz nehmen: Ganz viel Papier, das vor den vier Häusern steht, haben diese Menschen unfreiwillig bekommen.
So befanden sich zum Beispiel in dem Grosshaufen, der vor meinem Fenster auf die Papier-in-den-LKW-Werfer harrte, 10 Exemplare von UNSere Zeitung, dem Kundenmagazin der UNS-Bank, der unser Haus gehört. Ein Machwerk mit 30 Seiten, das die aktuellen Entwicklungen der UNS-Bank beschreibt und von niemand im Gebäude gelesen wird. Ich bitte Sie, ich habe zweimal einen Blick auf die Schlagzeilen geworfen, diese Bank scheint eine NGO zu sein, eine karitative Einrichtung und ihr CEO steht kurz vor seiner Heiligsprechung, genauso sieht es natürlich bei UBS und Credit Suisse aus, ebenso natürlich bei der Deutschen Bank oder der Dresdner Bank.
Zu diesen UNS-Bank-Zeitungen kommen diverse Periodika der Krankenversicherungen, Haftpflichtversicherungen, der Gaswerke, E-Werke, Zeitungen der Post und der Telefongesellschaften, alles Journale, auf die w-l-ww-Regel zutrifft:
Niemand will sie.
Niemand liest sie.
Jeder wirft sie weg.

In Basel herrscht gerade Wahlkampf und diese Kampagne beschert uns ebenfalls eine Flut von Papier, die epidemische Ausnahme angenommen hat. Wenn man bedenkt, dass gar nicht hinter (oder neben) jedem Briefkasten ein Mensch wohnt, der wählen darf (in Basel sind es zig Tausende ohne Stimmrecht), wenn man bedenkt, dass es 15 Listen gibt und wenn man jetzt auch noch bedenkt, dass ganz, ganz viele wissen, ob sie links, mittig oder rechts wählen (weil sie das seit Jahrzehnten tun), dann kann man sich vorstellen, welcher Berg an Papier hier angehäuft wird.

Auch haben einige Restaurants noch nicht begriffen, dass der Corona-Lockdown vorbei ist, sie bombardieren die Briefkästen mit Menü-Vorschlägen. Dass es Menschen gibt, die nicht ins Wirtshaus gehen, weil sie selber kochen, dass es Haushalte gibt, in denen jeden Abend jemand am Kochtopf steht, dass es Menschen gibt, die man mit vergilbten Fotos von Nudelgerichten nicht anlocken kann, das scheint nicht in deren Köpfe zu gehen.

Nun muss aber doch mit dem Finger auf Leute gezeigt werden, mit dem Finger, dem nackten Zeigefinger, auf die Bewohner der Kleberstrasse 81, 83, 85 und 87, mit dem Zeigefinger natürlich auch auf mich, den Finger in die Wunde, aufs Herz, aber da sagt man ja eher Hand aufs Herz, es wird also nun gedeutet und gezeigt und gesagt:
So ganz unschuldig sind wir an dem Papierberg nicht.

Word® bietet beim Drucken drei Möglichkeiten: Aktuelle Seite, Ganzes Dokument und Seitenbereich. Das sind schöne Möglichkeiten, man muss also nicht immer seitenweise Papier verschwenden, sondern kann gezielt das printen, was man braucht. Wenn Sie also z. B. etwas in der Hand haben wollen, wenn Sie im bei buchen.com gebuchten Hotel an der Rezeption stehen, genügt die erste Seite. Auf den nachfolgenden sind unter anderem die Angebote des Hotels gezeigt, aber wollen Sie wirklich der Rezeptionistin ein Foto des hoteleigenen Schwimmbades zeigen? Sie WEISS, dass das Hotel einen Pool hat – hoffentlich.
Und wenn Sie den Wikipedia-Artikel über die Publizistin Holla Holderbusch (1967–2005) papierig in den Händen halten wollen, dann überlegen Sie sich bitte, ob Sie die ganze Liste der Veröffentlichungen der – leider viel zu früh verstorbenen – Dame brauchen. Da Sie vor allem in ZEIT, Süddeutscher, FAZ und taz schrieb, ist die Liste sehr, sehr, sehr lang. Und eine Reduzierung auf den Text über ihr Leben würde das ausgedruckte Doc um die Hälfte verringern.

Natürlich können Sie jetzt sagen, das ist ein Tropfen auf den…
Aber überlegen Sie mal: Wenn jede Baslerin und jeder Basler jeden Tag eine Seite weniger ausdruckt (und dann wegwirft), dann sind das 200000 DIN A4-Seiten pro Tag in dieser Stadt und 73 Millionen Seiten pro Jahr.

Liebe Leserin, lieber Leser
Sie dürfen mit der Dienstag-Freitag-Glosse machen, was Sie wollen. Sie dürfen Sie vertonen, ein Musical oder eine Oper aus ihr machen, Sie dürfen Sie öffentlich rezitieren, in der Strasse oder im Park, Sie dürfen Sie an Hauswände schmieren oder in Bäume ritzen.
Nur eines nicht:
AUSDRUCKEN





 

 

Dienstag, 20. Oktober 2020

Ich möchte meinen Lieblingsbettlern weiterhin etwas geben dürfen

Es ist 8.30, als ich am Bahnhof SBB aus dem Bus steige. Sofort laufe ich Jimmy in die Arme, meinem Lieblingsbettler – und das meine ich nicht ironisch. Jimmy ist ein Nachkomme des Hauptmann von Köpenick, er hat keine Wohnung, weil er keine Arbeit hat, und er hat keine Arbeit, weil er keine Wohnung hat. Groteskerweise weigern sich Vermieter, ihm ein Appartement anzubieten, obwohl das Sozialamt dem Mietzins übernehmen würde, und das Amt ist der zuverlässigste Zahler, den man sich vorstellen kann. Natürlich bekommt Jimmy sein Geldstück von mir, das ist Ehrensache.

Über die Wirklichkeit, die die Literatur nachahmt, habe ich ja schon oft geschrieben, das ist ja ein Lieblingsthema von mir. Und wie Jimmy eine Imitation der Figur von Zuckmayer ist, scheint die Bettlerin, die mir 100 Meter später entgegenschlurft, eine Fleischwerdung der Gestalten aus der Dreigroschenoper. Dort schickt der alte Peachum Bettler auf die Tour, die dann das Geld bei ihm abliefern müssen. Und die Frau in den dreckigen Wickelröcken mit dem schmutzigen Kopftuch muss ihr Geld auch abgeben, genauso wie ihre 30 Kolleginnen, die den Bahnhofsvorplatz überschwemmen, genauso auch wie der alte Mann mit Krücke (die er übrigens abends nicht mehr braucht, ich habe es mit eigenen Augen gesehen…) Dass die Frau einen Fake produziert, zeigt auch ihr Schild:
HABÄ HUNGGER – BITE ESEN FÜR KINDERR – BITE GLEINNE SPÄNDE
Jeder andere Bettler würde sich ein Schild von jemand schreiben lassen, der die deutsche Sprache beherrscht.
Natürlich bekommen die Berufsbettler von mir keinen Rappen.

Vor dem Bahnhofseingang steht dann auch wieder die Drogensüchtige, die einfach in die Menge ruft: „Bitte geben Sie mir etwas Geld! Bitte! Bitte! Ich brauche Geld!“ Auch Sie erinnert mich an Literatur, ich weiss nur nicht mehr, an was. Eine Gestalt aus der Griechischen Tragödie? Bei Brecht? Ich weiss nur, dass ich ihr wieder nichts geben werde, aber das mit einem leichten schlechten Gewissen. Aber was tue ich mit meiner Spende? Ich werde ihr Problem nur verlängern, nur perpetuieren, ich werde eine Lösung nur hinauszögern.

Was mir so wichtig ist: Ich möchte selbst entscheiden können, wem ich etwas gebe und wem nicht. Ich möchte nicht, dass der Staat eingreift, ich möchte kein Verbot, ich bin selbst mündig und habe ein wenig Verstand. Ich möchte, dass Jimmy – und die vielen anderen, die höflich und nett sind – sein Geld bekommt und nehme deshalb die Berufsbettler in Kauf. Wenn niemand diesen Horden Knete gibt, dann werden sie sicher irgendwann verschwinden.

Guck, da kommt ein Neuer! Den kenne ich ja noch nicht. Er sei Künstler, sagt er, und er werde mal sehr berühmt, und wenn ich ihm etwas gebe, sagt er, dann könne ich in sein Atelier, also in das Kellerloch, in dem er hause und Objekte mache, da könne ich hinkommen und er werde mir ein kleines Objekt gebe, das werde einmal sehr, sehr, sehr wertvoll…
Totaler Quatsch?
In den 50er Jahren bettelten auf den Strassen von Paris manchmal ein Mann und eine Frau, er auf der rechten und sie auf der linken Strassenseite, und hätte man für eine Spende damals eine Arbeit verlangt, hätte man sehr viel Geld damit machen können, es waren nämlich Eva Aeppli und Daniel Spoerri, die in fast allen internationalen Sammlungen zu finden sind. Der dritte im Bunde – das ist jetzt auch wirklich wahr – bettelte nicht. Er klaute. Er fragte in Tante-Emma-Läden nach leeren Pappkartons, und wenn die Besitzerin dann nach hinten ging, stopfte er sich die Taschen voll. Es war der damalige Partner Evas: Jean Tinguely.

Und hier sind wir bei den schrecklichen Dingen, die die Bettlerinnen und Bettler tun werden, wenn man das Betteln verbietet: Sie werden klauen.
Und mir wäre lieber, wenn ich das nächste Mal im Zug geweckt und gefragt werde, ob ich nicht die 20 Franken und 10 Euro einfach hergeben kann. Das erspart mir 15 Stunden in den Hotlines von Mastercard®, UBS®, Bahncard®, SBB®, etc., etc. Und mein Portemonnaie bleibt bei mir, es ist ein Unikat, Fairtrade aus Lederresten, ich habe darüber geschrieben.

Die Bettlerinnen und Bettler könnten aber noch etwas viel, viel, viel Schrecklicheres tun als Stehlen, grausamer und gemeiner, fieser und tödlicher.
Nein, nicht morden.
Nein, nicht erpressen.
Nein, nicht betrügen.

Sie könnten Musik machen.
Und wenn ich mir vorstelle, dass die osteuropäische Frau im Schmuddelkleid und mit Schmuddelkopftuch sich eine Klampfe schnappt, und auf der ungestimmten Laute – diese Leute wissen gar nicht, wozu die kleinen Drehknöpfe dienen – herumpatscht und dazu grölt:
Häutä Naaaaaaacht – oyoyoyoyoyoy
Häutä Naaaaaaacht – oyoyo – oyoyoy – oyoyo
Kommmmmmmmmmmmmmmmst du zu mirrrrrrrr.
Oyoyoyoyoyoyo.
Ja, dann jagen mir solch kalte Schauer über den Rücken, dass ich mir ernsthaft überlege, ob ich nicht doch auch den Berufsbettler etwas geben sollte.

Und wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, doch auch endlich etwas zahlen wollen für diesen Blog:
Ich stehe heute von 13.00 – 15.30 vor der Hauptpost. 

P.S.: Den ersten Teil habe ich ein wenig hingebogen. Denn natürlich ist der Hauptmann keine Erfindung von Zuckmayer, es gab ihn wirklich... 

 

Freitag, 16. Oktober 2020

Der Leonidas-Wert oder: Männer auf verlorenem Posten

Kennen Sie die Einheit Leonidas?
Vielleicht nicht. Gut, lassen Sie mich erklären: Leonidas (die offizielle Abkürzung, die ab jetzt verwendet wird, lautet LND) ist eine soziologische/psychologische Einheit, beschreibt also kein Mass wie Gewicht, Strecke, Geschwindigkeit usw. sondern sie beschreibt die Gewichtung einer Situation, in der sich Menschen befinden.
Leonidas (LND) ist die Einheit des Auf-verlorenem-Posten-stehen.
Der Name geht – natürlich, das muss ich meinen humanistisch gebildeten Leserinnen und Lesern sicher nicht erklären, aber vielleicht hat sich ja in der Antikenkenntnis eine kleine Lücke gebildet – auf den Spartanerkönig Leonidas zurück, der am Thermopylenpass verzweifelt versuchte, den Persern standzuhalten. Sein Fall und Tod (und der seiner Getreuen) mündete dann in das berühmte Wort
Wanderer, kommst du nach Sparta…

Nun gilt also die Eichung
0 LND = Du stehst auf gewonnenem Posten, nichts kann schiefgehen.
Wirklich Null LND gibt es natürlich in der Realität nicht, es kann immer etwas passieren, immer etwas geschehen, irgendein Detail kann einem immer einen Strich durch die Rechnung machen oder den Weizen verhageln, aber Werte von z.B. 0,5 LND sind sicher möglich.
100 LND = Absolut verlorener Posten, es gibt keine Chance, dass es gut gehen kann.
Exakt 100 LND gibt es natürlich auch nicht. «There`s always hope», sagt Gandalf zu dem jungen Krieger am Abend vor der Schlacht um Gondor im Herr der Ringe – und behält ja dann auch recht. «Die Hoffnung stirbt zuletzt», ja, so sagt man auch.

Nun wollen Sie aber sicher ein paar Beispiele, ich werde zeigen, wie die Internationale Gesellschaft für soziologische Psychologie (IGSP) und die Internationale Vereinigung für psychologische Soziologie (IVPS) die höchsten Zahlen sehen. Obwohl beide Organisationen sich in vielen Punkten uneinig sind, ist die Hitliste gleich, trotz unterschiedlicher Zahlen.

Platz 4: Der Verantwortliche des Auswärtigen Amtes für den Kaukasus
(IGSP: 70,3 LND / IVPS: 75,2 LND)
Platz 3: Michael Ballweg, Initiator von «Querdenken»
(IGSP: 78,8 LND / IVPS: 77,00 LND)
Platz 2: Olav Scholz
(IGSP: 87,4 LND / IVPS: 85,2 LND)
Platz 1: DFB-Präsident Fritz Keller
(IGSP: 96,6 LND / IVPS: 99,1 LND)

Zu den Begründungen:

Platz 4
Wieder einmal ist die internationale, damit auch die europäische, damit natürlich auch die deutsche Politik gefordert, einen Konflikt zu beenden, der eigentlich nicht zu lösen ist: Der Streit um Bergkarabach. Es wird immer wieder beschönigend, sehr beschönigend, extrem beschönigend gesagt, dass der Bergkarabachkonflikt am Ende der UDSSR entstanden sei, das ist aber falsch, wenn man ehrlich wäre, würde man anerkennen, dass Armenien und Aserbaidschan schon 1918 um dieses Gebiet stritten, und wenn man ganz ehrlich wäre, würde man sogar sehen, dass die Wurzeln dieses Zankes bis ins Mittelalter zurückgehen.
Damit müsste man aber zugeben, dass man wo steht? Natürlich: Auf verlorenem Posten. Warum sollen sich zwei Länder, die seit 100 Jahren um ein (übrigens kleines, aber landschaftlich sehr hübsches Gebiet) zanken, ausgerechnet jetzt einigen?

Platz 3
Michael Ballweg hat wahrscheinlich keine Chance mehr. So wichtig die Impulse waren, in der Corona-Thematik auch mal anders zu rechnen (z.B. die Fallzahlen in Beziehung zu der Testmenge zu setzen oder die Letalität mit der Formel Tote durch Infizierte und nicht Tote durch Getestete zu berechnen…), seine Querdenken-Bewegung hat zu viele Querdenker mit angelockt, und er schafft es nicht mehr, kritische Virologen von absoluten Spinnern zu trennen.

Platz 2
Ach, Herr Scholz! (Wäre ich SPD-Mitglied dürfte ich Olaf und du sagen, aber welcher klardenkende Mensch ist denn heutzutage noch Sozialdemokrat?)
Sie waren das arme Schwein, das die Corona-Schulden aufnehmen musste, und damit haben Sie die Schwarze Null aufgegeben, die solange der höchste Stolz der Regierung war, gut, konnten Sie nicht dafür, der WUMMS musste sein, aber was war mit Wirecard®? Und dann treten Sie arme Sau mit der Vision Rot-Rot-Grün an, einer Kombi, die in allen Umfragen die 50% nicht erreicht, und zwar eindeutig. Herr Scholz, checken Sie es? Sie werden nicht Bundeskanzler, wenn es Schwarz-Rot gäbe, und niemand ich Ihrer Partei will das, dann wären Sie (wieder, wieder, ach wieder!) Vize-Kanzler.

Platz 1
Fritz Keller ist ein Guter. Ich kenne ihn persönlich, ich habe seinen drei Söhnen die Kunst des Pianofortes, das Klavierspielen beigebracht. Dass keiner der dreien Konzertpianist wurde, kann übrigens weder ihm noch mir angelastet werden… Nein, Keller ist ein Guter, ein Anständiger, und deshalb hat man ihm ja auch den Posten gegeben, weil er der einzige Anständige in einer kriminellen Vereinigung namens DFB ist. Keller steht absolut auf verlorenem Posten, wenn er den DFB retten will, muss er Vorgänger und Mitstreiter ans Messer liefern, oder er macht es nicht, und dann wird er unglaubwürdig. Seine LND-Zahlen sind verdient.

Liebe Leserin, lieber Leser
Was haben Sie heute vor? Egal, was es ist: Ich wünsche Ihnen einen LND-Wert unter 10.



Dienstag, 13. Oktober 2020

12. Oktober 1960 - Meilensteine der Debattenkultur

Es gibt Meilensteine der Rede und Gegenrede, des Angriffes und der Provokation, Meilensteine, bei denen eine neue Stufe der sprachlichen Attacken erreicht wurde.

Am 8.November 63 vor Christus warf Cicero bei der berühmten Senatssitzung, an der wider alles Erwarten auch derjenige, um dessen Entlarvung es ging, teilnahm, warf also Cicero gegen alle Rhetorik und gegen jeden Redenaufbau dem Verschwörer sein legendär gewordenes „Quo usque tandem abutere, Catilina, patientiam nostram?“ (Wie lange noch, Catilina, wirst du unsere Geduld missbrauchen?)

Am Konzil von Nicäa 325 nach Christus wurde die kirchliche Debatte auf eine neue, frische Stufe gehoben: Der Heilige Nikolaus klärte den sogenannten Arianischen Streit, ob Jesus Christus Gott oder nur gottgleich gewesen sei, indem er Arius einfach verprügelte, er hieb ihm solange auf den Kopf, bis jener seine These zurückzog. Nicht ganz geklärt ist, ob Martin Luther im Jahre 1529 den Abendmahlstreit mit Zwingli auf ähnliche Weise klären wollte, einfach durch die harte Faust, zuzutrauen wäre es dem Hitzkopf aus Thüringen…

Am 12. Oktober 1960 – das jährte sich gestern genau zum sechzigsten Mal und das ist natürlich auch Anlass für diesen Post – hielt Nikita Chruschtschow seine in die Annalen eingegangene Rede vor der UNO. Dabei zog er seinen Schuh aus und schlug ihn zu seinen Worten heftig und rhythmisch aufs Rednerpult, um den Inhalt seiner Ansprache zu verdeutlichen. So sagt es die Legende, komischerweise ist die Faktenlage sehr, sehr, sehr unsicher. Das berühmte Bild ist wahrscheinlich eine Montage.

In seinem Film The Doors bringt Oliver Stone eine Szene, in der der Veranstalter Jim Morrison den Ton und das Licht abstellt, weil dieser in dem Song The End den inzwischen normalen Satz Mother – I wanna fuck you brachte, leider konnte ich die Episode nicht verifizieren, Stone bringt eine Reihe solcher nicht ganz belegter Geschichten, wie auch die, in der Morrison von Warhol ein Telefon bekommt, mit dem man (angeblich) mit Gott telefonieren kann…

Während der Stammheim-Prozesse wurde die Prozessordnung geändert und diese Änderungen (übrigens konträr zu jedem Recht) auf das laufende Verfahren angewandt. Eine dieser Modifizierungen war die Möglichkeit, Angeklagte bei Störungen und Frechheiten vom Prozess auszuschliessen. Sie selbst durften allerdings nicht einfach gehen, dass sie die Richter erst beleidigen mussten, um dann den Saal zu verlassen. So kam es zu den wunderbaren Dialogen zwischen Baader/Ensslin und Richter Prinzing, die dann in Äusserungen wie «Sie sind ein faschistisches Arschloch» gipfelten.

Bisher unbehelligt von fiesen Angriffen, Beleidigungen, Schuh klopfen, etc. waren die Debatten der Kandidaten auf Regierungsämter, denn man will sich ja seinen Wählerinnen und Wählern oder eben seinen potentiellen Wählerinnen und Wählern als einigermassen seriös, besonnen und anständig präsentieren und nicht als einen Rüpel oder eine Sau, die sich niemand als Staatsoberhaupt oder Regierungschef vorstellen kann. Hier haben aber nun Biden und Trump auch einen Meilenstein gesetzt: Aus dem TV-Duell wurde eine verbale Schlammschlacht, derer selbst der erfahrene Moderator nicht Herr wurde.
(Kleiner Exkurs: Hier bekommt das Wort «Moderator» endlich wieder seine eigentliche Bedeutung zurück, bei den meisten müden Diskussionen, wo sich alle so öde und fad einig sind, muss eine Frau Illner oder ein Herr Scobel ja animieren und vorantreiben. «Moderieren» heisst eigentlich «mässigen», also Hitzköpfe und Choleriker am Schlimmsten hindern.)
Eine verbale Schlammschlacht also, bei der Sätze wie «Halt die Klappe, Mann!» noch die harmloseren waren.

Und nun fange ich an, mir die Diskussionen der Zukunft vorzustellen. Diskussionen, bei der alle Elemente der oben erwähnten historischen Ereignisse mit einfliessen.
Vielleicht haben wir in der nächsten Talkrunde aller Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten, der sogenannten «Elefantenrunde» folgenden Ticker:

20.15
Der FDP-Mann entdeckt, dass auch der GRÜNE gekommen ist, was ihn unglaublich schockiert und er ihm an den Kopf wirft, er würde alle nerven.

20.20
Der CDU-Mann versucht, der SPD-Frau an den Kopf zu gehen und ihr ein paar Haare auszureissen, was diese damit beantwortet, dass sie ihm eine Ohrfeige gibt, worauf jener sie in die Hand beisst. Nur mit Mühe können die Sicherheitsleute die beiden trennen.

20.23
Der LINKE-Kandidat zieht seine Krawatte ab und fängt an, damit auf den Tisch einzudreschen. Das entstehende Geräusch erinnert ziemlich stark an eine Auspeitschung, wobei unklar bleibt, wer oder was hier ausgepeitscht wird.

20.34
Der AfD-Mann springt auf den Tisch und beginnt das Horst-Wessel-Lied in die Kamera zu singen. Für 5 Minuten müssen Bild und Ton abgeschaltet werden.

20.39
Das Licht geht wieder an, der AfDler ist nicht mehr da. Nun aber fangen alle Kandidatinnen und Kandidaten den Moderator als parteiisch, uninformiert, als debil und senil, beginnen ihn als Arschloch, Schwanzlutscher und Vollpfosten zu beschimpfen. Der Moderator verweist alle Teilnehmer des Studios und macht allein weiter…

Natürlich ist das eine grausame Vision. Und es bleibt zu hoffen, dass man auf dieser verrückten Welt wieder zu einer sachlichen Diskussion zurückkehren kann. Aber es ist eine leise, zarte und sehr brüchige Hoffnung.

P.S.
Es gibt eine Theorie, nach der Chruschtschow bemerkte, dass wie seine Sohle sich ablöste und diese durch das Klopfen wieder annageln wollte, um beim Verlassen des Rednerpultes nicht auf die Schnauze zu fallen.
Es gibt eine weitere Theorie, nach der der Besagte sich – auf den 2. Aufzug der Meistersinger anspielend – als Hans Sachs gebärden und die Fehler der UN-Beckmesser ankreiden wollte.
Ich halte beide Theorien für unglaubwürdig.



 

 

 

Freitag, 9. Oktober 2020

Was ist "zu viel"? Was ist "genug"?

Liebe Leserin, lieber Leser
Haben Sie gewusst, dass wir uns in fast allen Punkten einig sind? Glauben Sie nicht? Ich habe hier ein paar Beispiele:
Thema Essen:
Es ist nicht gut, Speisen zu sehr zu salzen.
Zu süsse Desserts schmecken nicht gut.
Thema Gesundheit:
Man soll nicht zu viel Alkohol trinken.
Man soll genug Sport treiben um den Körper fit zu halten.
Thema Kultur:
Man soll sicher nicht Mozart zu langsam spielen.
Ein zu langes Buch langweilt den Leser.

Sehen Sie?
Nun werden Sie sicher zu Recht einwenden, dass das alles Quatsch ist. Quatsch, weil ja diese Wörtchen «zu» und «zu viel» und «genug» das Streitthema sind, und nicht die Sache an sich. Was bedeutet denn «zu» und «zu viel» und «genug»?

Keiner will zu salzige Speisen, aber was für den einen völlig, aber total und wahnsinnig versalzen ist, so versalzen, dass er fast erbricht, ist für den anderen fade, entsetzlich fade. Die eine isst schon keine Erdbeeren, weil sie ihr zu süss sind, die andere kippt auf die Erdbeeren noch ein Kilogramm Raffinade.

Der eine hält zwei Gläschen Weisswein zum Apéro, 6 dl Rotwein zum Essen und drei Whiskey als Absacker für völlig normal, für einen anderen ist ein Glas Bier die Woche schon der Beginn des Alkoholismus (man erinnere sich nur an den wunderbaren Satz von John Malkovich aus Burn after Reading: «I have a drinking problem? Oh, fuck you, Percy, you are a Mormon, for you everybody has a drinking problem.») Die eine findet, zweimal die Woche laufen sei schon genug Sport, und auch zu diesen zwei Mal muss sie sich zwingen, die andere verbringt jeden Tag drei Stunden im Fitnessstudio und findet das das absolut minimale Quantum.

Und wann ist Mozart zu langsam gespielt? Man höre sich da mal nur durch die Aufnahmen bei You Tube, da können zwischen Celibidache und einem Vertreter der historischen Aufführungspraxis locker, aber wirklich locker 40 Metronomstriche liegen. Und ein zu langes Buch? Für den einen ist ein Buch mit 10 Seiten zu lang, eigentlich schon ein Buch mit einer Seite, denn er ist ein Nichtleser, der andere hätte auch im Zauberberg gerne noch 400 Seiten mehr und grämt sich, weil der Mann ohne Eigenschaften nicht noch einen weiteren Teil hat.

Und genau diesen Punkt macht sich die Politik in den Wahlkämpfen zu Nutzen.

KEINE ÜBERREGULIERUNG FÜR DIE WIRTSCHAFT
So wirbt ein Basler FDP-Politiker von Plakaten. Und alle sind einverstanden, denn eines ist klar: Überregulierung will ja niemand. Aber was ist Über-Regulierung?
Für einen Bonzen von 1880 wären sicher schon eine Begrenzung der Wochenarbeitszeit, Lohnfortzahlung, Ferienanspruch, etc., etc. ein Mass von Überregulierung, das ihn wütend machen würde. Der Staat will mir vorschreiben, wie viele Stunden der Arbeiter am Band verbringt? Vorschreiben, dass ich ihm weiter Lohn zahle, wenn er krankfeiert? Vorschreiben, dass ich ihm Urlaub gewähre? Das ist ja völlig undenkbar, völlig abstrus, völlig daneben, das ist ja hoffentlich ein Aprilscherz…
Für manche Arbeitsrechtler sollte alles am Arbeitsplatz geregelt werden, das Recht auf ausgiebigen Klogang, auf eine Raumtemperatur, die den medizinischen Kriterien entspricht, Recht auf 3 Tage frei bei der Hochzeit der Kusine (wenn ein enges Freundschaftsverhältnis besteht)…
Was ist nun Über- und was Unterregulierung?

Und so könnte man jeden Slogan auseinandernehmen:

NICHT ZU VIELE AUSLÄNDER
Gut, aber was ist «zu viel»? Für einen linken Sponti kann es nicht multi-kulti genug sein, da freut man sich über jede Nation im Quartier, die neu auftaucht, für einen AfD-Menschen bringt schon der eine Marokkaner im Dorf ein Ausmass der Überfremdung, das die Dorfgemeinschaft völlig durcheinanderbringen wird.

NICHT ZU HOHE STEUERN
Genau das Gleiche. Der eine zahlt bei minimalem Jahreseinkommen nur 450.—und findet das zu hoch. Der Superverdiener mit Millioneneinkommen zahlt 100 000.—und findet das auch zu hoch. Schliesslich muss er seine Putzfrau, seinen Gärtner, seinen Chauffeur und seinen Butler auch bezahlen, ihm wird ja auch nichts geschenkt, und die Häuser in St. Moritz und St. Tropez müssen nun ja auch unterhalten werden…

Wie lange soll ein Post sein? Nicht zu lange.
Sehen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch hier sind wir uns schon wieder einig.
Aber…
Aber…
Der oder dem einen ist jetzt schon langweilig, aber die oder der andere würden gerne noch weiterlesen.

Daher jetzt ganz autoritär:
Auf Wiedersehen.



 

 

Dienstag, 6. Oktober 2020

Übersetzer dürfen nicht wirklich übersetzen


Ich habe neulich die Rolle der Übersetzer erwähnt. Und hier müssen wir uns zunächst mit dem Babelfisch beschäftigen. Sie kennen ihn nicht? Gut, dann lassen wir doch erst Wikipedia zu Wort kommen:
Der Babelfisch (englisch Babel Fish) ist ein fiktives Lebewesen aus dem Roman "Per Anhalter durh die Galaxis" von Douglas Adams. Der populäre Internet-Übersetzungsdienst Babel Fish benannte sich nach dem Vorbild aus Adams’ Roman. Der Babelfisch wird in dem Roman als kleine Kreatur beschrieben, die sich ins Ohr einführen lässt und dem Träger ein Verständnis aller gesprochenen Sprachen ermöglicht. […] Die absurde Darstellung des Babelfisches ist eine Parodie Adams’ auf die Unplausibilität der in der SF-Literatur beschriebenen Übersetzungsmaschinen. Im Allgemeinen wurde die Vielfalt der Sprachen von den Science-Fiction-Autoren lediglich als lästige Unbequemlichkeit und die Hervorhebung linguistischer Schwierigkeiten als nicht leserfreundlich betrachtet. […] Auch die bis auf die Bibel zurückgehende Utopie einer Spracheinigkeit, die die Vorstellung impliziert, dass die bloße Überwindung der Sprachbarrieren gleichzeitig ein gegenseitiges Verständnis bewirke, greift Adams in satirischer Weise auf: Zwar hebt er in seinem Roman mit Hilfe des Babelfischs den nachbabylonischen Zustand der Sprachverwirrung auf, er lässt jedoch eben dadurch dieses Wesen „mehr und blutigere Kriege“ verursachen „als sonst jemand in der ganzen Geschichte der Schöpfung“.

Vor allem der letzte Absatz ist spannend. Der Übersetzerfisch soll für Kriege verantwortlich sein, obwohl er doch bewirkt, dass sich die Leute verstehen?
Genau.
Häufig ist es eben besser, sich nicht genau zu verstehen.

Diese Geschichte ist jetzt wirklich wahr:
Bei der Konzerttournee der KKB in der Ukraine stand ich vor der Aula der Uni Ostroh und rauchte. Eine dicke, schlecht angezogene Dame kam aus dem Gebäude und schrie mich an. Ich verstand natürlich nichts, es klang ungefähr wie SCHDONNO WUSWI TIMSCHNO SCHDINNI GUMSCH GIMSCH WUTSCHÜ. Ein wenig Nachdenken brachte mich aber weiter – Kontext, das ist das, was ich meinen Schülerinnen und Schülern immer einbläue: im Kontext denken – ich dachte darüber nach, was an mir falsch sein könnte. Ich war angekleidet, das konnte es nicht sein. Ich zerstörte keine Bausubstanz und machte nichts dreckig, was war es? Natürlich: Die Zigarette. Ich hob den Glimmstängel in die Höhe und siehe da: Die dicke, schlecht angezogene Dame wies mich in Richtung Ausgang. Die Raucherecke ist in Ostroh VOR dem Campus.
Man stelle sich nun vor, ich hätte die dicke, schlecht angezogene Ukrainerin Wort für Wort verstanden. Vielleicht eine Katastrophe. Vielleicht hat sie gerufen: «Wenn du die verfickte Scheisszigarette nicht ausmachst, dann stopfe ich sie in deine verfickte Scheissnase.» oder vielleicht auch: «Mach die Kippe aus, du ausländischer Hurensohn, sonst schlag ich dich so zusammen, dass du sechs Monate nicht mehr rauchen kannst.»
Und dann hätte ich sicher – wenn ich des Ukrainischen mächtig wäre – zurückgegeben. Und es wäre zu einem sehr unschönen Wortwechsel und eventuell auch zu einem Faust-, Tritt-, Schlag- und Ohrfeigenwechsel gekommen.

Nein.
Manchmal ist es besser, nicht korrekt zu übersetzen.
Stellen Sie sich vor, Sie wären die Dolmetscherin oder der Dolmetscher von – nehmen wir doch mal eine ganz beliebige Person auf diesem Globus – Donald Trump.
Sie könnten doch nie eine wortwörtliche, korrekte, eine genaue und präzise, könnten nie eine richtige und dem Wortlaut entsprechende Übersetzung liefern.
Tun die Dolmetscher des White House auch nicht.
Ich habe zufällig eine Sammlung von Umformulierungen in der Hand, die quasi als Handbuch bei den «Interpreters» in Washington kursieren:

Trump: I know you for a long time, and I ever thought that you are a brainless son-of-a-bitch.
Übersetzer: Ich kenne Sie sehr lange, ich war aber nicht immer mit Ihrer Politik einverstanden.

Trump: If you don´t agree, I will break your nose and rape your daughter.
Übersetzung: Es wäre für mich sehr, sehr wichtig und entscheidend, dass Sie meinem Vorschlag zustimmen.

Trump: I warn you: You will let your fucking dirty hands from this country.
Übersetzung: Wir werden mit einer Verletzung der territorialen Souveränität dieses Landes nicht einverstanden sein.

Jeder der Dolmetscher, der für die USA, aber auch jeder, der für Putin, für China, jeder der für Bolzonaro oder Kim arbeitet, har den Friedensnobelpreis verdient.
Wenn die Garde der Übersetzer wirklich ÜBERSETZEN würde, dann stünde die Welt schon lange nicht mehr.