Dienstag, 13. Oktober 2020

12. Oktober 1960 - Meilensteine der Debattenkultur

Es gibt Meilensteine der Rede und Gegenrede, des Angriffes und der Provokation, Meilensteine, bei denen eine neue Stufe der sprachlichen Attacken erreicht wurde.

Am 8.November 63 vor Christus warf Cicero bei der berühmten Senatssitzung, an der wider alles Erwarten auch derjenige, um dessen Entlarvung es ging, teilnahm, warf also Cicero gegen alle Rhetorik und gegen jeden Redenaufbau dem Verschwörer sein legendär gewordenes „Quo usque tandem abutere, Catilina, patientiam nostram?“ (Wie lange noch, Catilina, wirst du unsere Geduld missbrauchen?)

Am Konzil von Nicäa 325 nach Christus wurde die kirchliche Debatte auf eine neue, frische Stufe gehoben: Der Heilige Nikolaus klärte den sogenannten Arianischen Streit, ob Jesus Christus Gott oder nur gottgleich gewesen sei, indem er Arius einfach verprügelte, er hieb ihm solange auf den Kopf, bis jener seine These zurückzog. Nicht ganz geklärt ist, ob Martin Luther im Jahre 1529 den Abendmahlstreit mit Zwingli auf ähnliche Weise klären wollte, einfach durch die harte Faust, zuzutrauen wäre es dem Hitzkopf aus Thüringen…

Am 12. Oktober 1960 – das jährte sich gestern genau zum sechzigsten Mal und das ist natürlich auch Anlass für diesen Post – hielt Nikita Chruschtschow seine in die Annalen eingegangene Rede vor der UNO. Dabei zog er seinen Schuh aus und schlug ihn zu seinen Worten heftig und rhythmisch aufs Rednerpult, um den Inhalt seiner Ansprache zu verdeutlichen. So sagt es die Legende, komischerweise ist die Faktenlage sehr, sehr, sehr unsicher. Das berühmte Bild ist wahrscheinlich eine Montage.

In seinem Film The Doors bringt Oliver Stone eine Szene, in der der Veranstalter Jim Morrison den Ton und das Licht abstellt, weil dieser in dem Song The End den inzwischen normalen Satz Mother – I wanna fuck you brachte, leider konnte ich die Episode nicht verifizieren, Stone bringt eine Reihe solcher nicht ganz belegter Geschichten, wie auch die, in der Morrison von Warhol ein Telefon bekommt, mit dem man (angeblich) mit Gott telefonieren kann…

Während der Stammheim-Prozesse wurde die Prozessordnung geändert und diese Änderungen (übrigens konträr zu jedem Recht) auf das laufende Verfahren angewandt. Eine dieser Modifizierungen war die Möglichkeit, Angeklagte bei Störungen und Frechheiten vom Prozess auszuschliessen. Sie selbst durften allerdings nicht einfach gehen, dass sie die Richter erst beleidigen mussten, um dann den Saal zu verlassen. So kam es zu den wunderbaren Dialogen zwischen Baader/Ensslin und Richter Prinzing, die dann in Äusserungen wie «Sie sind ein faschistisches Arschloch» gipfelten.

Bisher unbehelligt von fiesen Angriffen, Beleidigungen, Schuh klopfen, etc. waren die Debatten der Kandidaten auf Regierungsämter, denn man will sich ja seinen Wählerinnen und Wählern oder eben seinen potentiellen Wählerinnen und Wählern als einigermassen seriös, besonnen und anständig präsentieren und nicht als einen Rüpel oder eine Sau, die sich niemand als Staatsoberhaupt oder Regierungschef vorstellen kann. Hier haben aber nun Biden und Trump auch einen Meilenstein gesetzt: Aus dem TV-Duell wurde eine verbale Schlammschlacht, derer selbst der erfahrene Moderator nicht Herr wurde.
(Kleiner Exkurs: Hier bekommt das Wort «Moderator» endlich wieder seine eigentliche Bedeutung zurück, bei den meisten müden Diskussionen, wo sich alle so öde und fad einig sind, muss eine Frau Illner oder ein Herr Scobel ja animieren und vorantreiben. «Moderieren» heisst eigentlich «mässigen», also Hitzköpfe und Choleriker am Schlimmsten hindern.)
Eine verbale Schlammschlacht also, bei der Sätze wie «Halt die Klappe, Mann!» noch die harmloseren waren.

Und nun fange ich an, mir die Diskussionen der Zukunft vorzustellen. Diskussionen, bei der alle Elemente der oben erwähnten historischen Ereignisse mit einfliessen.
Vielleicht haben wir in der nächsten Talkrunde aller Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten, der sogenannten «Elefantenrunde» folgenden Ticker:

20.15
Der FDP-Mann entdeckt, dass auch der GRÜNE gekommen ist, was ihn unglaublich schockiert und er ihm an den Kopf wirft, er würde alle nerven.

20.20
Der CDU-Mann versucht, der SPD-Frau an den Kopf zu gehen und ihr ein paar Haare auszureissen, was diese damit beantwortet, dass sie ihm eine Ohrfeige gibt, worauf jener sie in die Hand beisst. Nur mit Mühe können die Sicherheitsleute die beiden trennen.

20.23
Der LINKE-Kandidat zieht seine Krawatte ab und fängt an, damit auf den Tisch einzudreschen. Das entstehende Geräusch erinnert ziemlich stark an eine Auspeitschung, wobei unklar bleibt, wer oder was hier ausgepeitscht wird.

20.34
Der AfD-Mann springt auf den Tisch und beginnt das Horst-Wessel-Lied in die Kamera zu singen. Für 5 Minuten müssen Bild und Ton abgeschaltet werden.

20.39
Das Licht geht wieder an, der AfDler ist nicht mehr da. Nun aber fangen alle Kandidatinnen und Kandidaten den Moderator als parteiisch, uninformiert, als debil und senil, beginnen ihn als Arschloch, Schwanzlutscher und Vollpfosten zu beschimpfen. Der Moderator verweist alle Teilnehmer des Studios und macht allein weiter…

Natürlich ist das eine grausame Vision. Und es bleibt zu hoffen, dass man auf dieser verrückten Welt wieder zu einer sachlichen Diskussion zurückkehren kann. Aber es ist eine leise, zarte und sehr brüchige Hoffnung.

P.S.
Es gibt eine Theorie, nach der Chruschtschow bemerkte, dass wie seine Sohle sich ablöste und diese durch das Klopfen wieder annageln wollte, um beim Verlassen des Rednerpultes nicht auf die Schnauze zu fallen.
Es gibt eine weitere Theorie, nach der der Besagte sich – auf den 2. Aufzug der Meistersinger anspielend – als Hans Sachs gebärden und die Fehler der UN-Beckmesser ankreiden wollte.
Ich halte beide Theorien für unglaubwürdig.



 

 

 

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