Freitag, 30. Oktober 2020

Genug ist nicht genug????

Ach, mir schwirrt der Kopf. Mein armer Kopf, er schwirrt. Ich bin ganz verdudelt und vernudelt. Jetzt habe ich neulich über genug und viel und zu viel geschrieben, und alles war eigentlich ganz eindeutig. Jetzt schickt mir mein Erzengel ein Gedicht, dessen erste Strophe lautet:

Genug ist nicht genug! Gepriesen werde
Der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte!
Tief beugt sich mancher allzureich beschwerte,
Der Apfel fällt mit dumpfem Laut zu Erde.

Ja, wie denn nun? Wir waren uns doch einig, dass es von bestimmten Dingen genug haben muss – aber nun ist genug gar nicht genug? Es braucht noch mehr?
Und da fallen mir noch einige andere Zeilen ein, die das Gleiche sagen (die obigen sind übrigens von C. F. Meyer, das Gedicht heisst Fülle). Konstantin Wecker singt zum Beispiel

Dieser Stadt schwillt schon der Bauch
Und ich bin zum großen Knall bereit
Auf den Dächern hockt ein satter Gott
Und predigt von Genügsamkeit
Genug ist nicht genug
Ich lass mich nicht belügen
Schon Schweigen ist Betrug
Genug kann nie genügen

Und im Titelsong des Musicalfilms FAME heisst es – gesungen von Irene Cara

Baby I'll be tough, too much is not enough, no
I can ride your heart 'til it breaks
Oh, I got what it takes

O, mir schwirrt der Kopf, mein armer Schädel brummt und die Gedanken sausen in meiner Hirnschale umeinander. Genug ist nicht genug? Und ist dann zu wenig immer noch zu viel? So nach dem einen Satz von Richard Strauss, der dem Sinn nach schrieb, dass, wenn man der Meinung sei, das Blech spiele zu leise, es noch einmal zwei Stufen herunterdämpfen solle.

Was bedeutet das nun, wenn man solche Gedankenspiele auf Welt und Politik und Gesellschaft und Kultur anwendet?
Das wird ganz schrecklich. Man stelle sich nur vor: Bisher ist man angetreten um z. B. der Menschheit genug zu Essen zu bringen. Was aber, wenn jetzt die Menschheit sich auf die Hinterbeine stellt und ruft: «Genug ist nicht genug! Genug kann nie genügen! Too much is not enough!» Das würde ja bedeuten – ich werde vor Schrecken bleich – dass es nicht nur Brot für die Welt (in der Schweiz Brot für alle) geben müsste, sondern auch Wurst für die Welt/Wurst für alle und Käse für die Welt/Käse für alle. Ok, damit könnten wir ja noch leben. Aber, wenn sie immer noch rufen: «Genug ist nicht genug! Genug kann nie genügen! Too much is not enough!»? Dann müssten wir ja gar auch unsere Lebkuchen, Schnapspralinen, unsere Kobe-Steaks und Austern mit ihnen teilen, sprich unseren ganzen Wohlstand – und das kann nun wirklich nicht die Meinung sein.
Hat es genug Frauen in den Vorständen?
Hat es genug Frauen in der Politik?
Tun wir genug für die Kultur?
Ist die Schule genug digitalisiert?
Immer wieder stehen Leute auf und schreien: «Genug ist nicht genug!»

Und umgekehrt?
Was wäre, wenn man den Spruch «zu wenig ist immer noch zu viel» auf aktuelle Sachverhalte anwenden würde? Da kämen ja auch die totalen Katastrophen heraus.
So ist es ja eindeutig, dass zurzeit die Leute zu wenig fliegen – wo sollen sie denn auch hinjetten, wenn überall Risikogebiet ist, wenn man in Quarantäne muss, entweder beim Hinfliegen oder Heimkommen – aber was wäre, wenn jetzt FFF schreit: «Zu wenig ist immer noch zu viel»? Da hat man Werte gesenkt, hat weniger Gift im Essen, weniger Kohlendioxyd in der Luft, man hat weniger Pestizid im Gemüse und weniger Abfall, aber doch sagen Menschen, zu wenig sei immer noch zu viel.

Ach, mir schwirrt der Kopf. Mein armer Kopf, er schwirrt. Ich bin ganz verdudelt und vernudelt. Jetzt habe ich neulich über genug und viel und zu viel geschrieben, und alles war eigentlich ganz eindeutig.
Aber ist nicht auch ein Blog selbst ein Beispiel für ein Genug-ist-nicht-genug? Wie ein Tagebuch, wie Annalen, wie andere literarische Dinge hat er ja kein klares Ende, keine Peripetie oder Katastrophe, er webt und schwebt sich immer weiter, mäandernd und schillernd, er wird weitergehen, bis ich sterbe (oder keine Lust mehr habe…)
Oder wie Meyer sagt:

Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen
Schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses,
Das Herz, auch es bedarf des Überflusses,
Genug kann nie und nimmermehr genügen!

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