Dienstag, 29. November 2016

Es gibt für mich noch Tabus



Immer wieder bekomme ich von Lesern Themenvorschläge. «Schreiben Sie doch mal über…», heisst es da. Und dann kommen oft Themen, die ins Sexuelle, die ins Fäkalische, Themen, die ins Gewalttätige oder ins Unmenschliche gehen, Ideen, die meine Nackenhaare in eine Senkrechtposition bringen und mir die Schamesröte so sehr in die Wangen treibt, dass ich aussehe wie nach 2 Wochen Ibiza ohne Sonnencreme.
Stets schreibe ich dann zurück:
Es gibt für mich noch Tabus.
Und meistens kommt die Antwort:
??????

Das Wort scheint uns also abhandenzukommen. Also mache ich einen Test und teile meinen Schülern ein Blatt mit der folgenden Aufgabe aus:
DEFINIERE DAS WORT TABU.
Das Ergebnis ist so, wie ich es erwartet habe; 34% konnten eine richtige Definition liefern, 61% schreiben mir die folgenden Antworten:
schwartz-weisses Tir
Computtertaste
Rauhcht mann
Musickinstrument zum Schlagen
Dass bei Ecxel
Fasnet (Papa ist)

Abgesehen von der Orthografie, die jeder Beschreibung spottet, sind die Jungens und Mädels mit Tapir, Tabulator, mit Tabak und Tamburin, mit Tabelle und Tambour gar nicht so weit entfernt. Aber wirklich kennen tun sie das Wort nicht.
Daher hier noch einmal eine gültige Definition:

Ein Tabu beruht auf einem stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk bzw. einer kulturell überformten Übereinkunft, die bestimmte Verhaltensweisen auf elementare Weise gebietet oder verbietet. Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos, sie sind universell und ubiquitär, sie sind mithin Bestandteil einer funktionierenden menschlichen Gesellschaft. (Wikipedia)

Interessant ist doch hier der Passus mit dem Funktionieren der Gesellschaft, eine Gemeinschaft, die inzwischen alle Tabus über Bord geworfen hat, klappt nicht mehr.
Kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit der Kunst – wollten Sie doch, ich sehe es Ihnen an der Nasenspitze an – kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit der Kunst, die ja bekanntlich Tabus brechen, mit Tabus spielen, sie zerstören und in Frage stellen soll.
Wie wollen Sie denn ein Tabu brechen, wenn gar keines mehr da ist? Wie wollen Sie denn einen Skandal hervorrufen, wenn es gar nichts mehr Skandalträchtiges gibt?
Ein Beispiel:
Als Jim Morrison im Song «The End» zum ersten Male die Passage «…and I saw may mother, and I said: Mother, I wanna f… you» vortrug, ging das Licht im Saal an und der Veranstalter brach ab und scheuchte die Doors von der Bühne. Heutzutage ist «motherfucking» ja fast ein gesellschaftsfähiges Wort, auf jeden Fall regt es irgendwie niemand mehr auf.
Bei dem Skandalkonzert mit Morry wäre ich übrigens gerne dabei gewesen. Genauso gerne wie bei der Uraufführung des Sacre, bei dem 1913 die auf der Bühne Geopferten, zusammen mit der in den Ohren der Leute völlig schrägen Musik im Publikum einen Sturm der Entrüstung auslösten. Ebenso hätte ich (ebenfalls 1913!) gerne das sogenannte «Watschenkonzert» gehört, bei dem die Klänge von Schoenberg, von Webern und von Berg zu Prügeleien führten. Und natürlich hätte ich 1976 gerne die Premiere des Chéreau-Rings erlebt, bei der der Grüne Hügel kopfstand und sich Begeisterte und Entsetzte regelrechte Schlachten lieferten, Frisuren wurden ruiniert, Kleider zerrissen und Handtaschen zu Schlagwerkzeugen umgewandelt.

Mit was wollen Sie heute noch schockieren?

Wir haben das Tabu verloren.
Und wenn ich wirklich die vorgeschlagenen Themen, Themen, die sexuell, fäkalisch, gewalttätig, die unmoralisch und aufhetzend, Themen, die einen zitternd und schamrot machen, wirklich behandelte, würde es wahrscheinlich gar niemand aufregen.
Ausser mich selber.
Denn für mich existieren sie noch: Die Tabus.

P.S. Die 5% der Schülerinnen und Schüler, die oben fehlen, haben ein leeres Blatt abgegeben, einer allerdings kein ganz leeres, er hat noch einen Penis draufgemalt.
Und war damit eigentlich wieder ganz nah an der richtigen Antwort dran.   










 

Freitag, 25. November 2016

Das Nicht-Aufhören-Können-Syndrom oder: Angie will noch mal



Als ich neulich das neue Buch von Martin Suter las, Cheers, eine erneute Sammlung seiner Kolumnen über Manager (Business-Class), war ich ein wenig enttäuscht. Abgesehen davon, dass 40% der Texte schon in anderen Bänden vorgekommen waren, hatte man bei vielen Glossen das Gefühl, sie schon zu kennen, sie schon einmal gelesen zu haben, ihnen schon begegnet zu sein. Vielleicht, so dachte ich, sollte Suter einfach mal aufhören mit der ganzen Serie, vielleicht läuft sich das Ganze tot.

«Wenn’s am schönsten ist, soll man aufhören», pflegte meine Mutter – wahrscheinlich wie viele Mütter – zu sagen, und als Kind fand man den Satz schrecklich, er kam nämlich immer im blödesten Moment: Wenn man ins Bett gehen sollte, obwohl man noch 2 Stunden spielen wollte, wenn man von der Rodelbahn nach Hause sollte, weil die Eltern froren, wenn man aus den Ferien heim musste. Aber der Satz ist natürlich völlig korrekt.

Viele Menschen haben Schwierigkeiten mit dem Aufhören. Der 95jährige Schauspieler will unbedingt noch den Lear spielen und denkt nicht an den armen Menschen in der Souffliermuschel, der an einem solchen Abend Schwerstarbeiterzulage verlangen könnte ob der 1437 Hänger. Der 45jährige Sprinter will unbedingt noch einmal zur Olympiade, nicht bedenkend, dass die Zeit, die er vor 20 Jahren lief, heutzutage von jedem Sportstudenten erreicht wird. Der berühmte Schriftsteller will unbedingt noch die runde Zahl vollmachen und sein 50. Buch über den Bodensee schreiben, obwohl schon das 49. kaum lesbar war.

Meine Mutter – ja genau die, die den obigen Satz sagte – erzählte von drei Tenören, die nach Vorstellungen am Staatstheater Stuttgart ausgebuht wurden: Wolfgang Windgassen, Josef Traxel und Helge Rosvaenge. Alle drei waren Heldentenöre, alle drei grossartige Sänger, ständige Gäste auf allen grossen Bühnen, alle drei hatten den Moment verpasst, an dem ihr c’’, das sogenannte Hohe C von «noch ertragbar» auf «nicht mehr auszuhalten» gekippt war.
Aufhören können.
Auch Federer hätte wahrscheinlich vor zwei Jahren mit einer grandiosen Siegserie seinen Ausstieg nehmen und sich entweder seinen Zwillingen oder caritativen Projekten widmen sollen. Geld kann es ja nicht sein, das ihn zum Weitermachen treibt, Geld hat er genug, es ist dieses Ich-kann-nicht-Aufhören-Syndrom.

Und nun will es auch Angie noch einmal wissen. Mit Erstaunen vernahmen wir dieser Tage, dass die Chefin der Nation, dass Mutti, dass die Herrin der Raute für eine weitere Amtszeit kandidiert. Auch sie kann es nicht lassen, kann nicht beenden, kann nicht aufhören, nicht gehen. Gut, Merkel ist – um hier mal eine Wortschöpfung zu benutzen, die auf sie zurückgeht – alternativlos. Es hat in der CDU zurzeit niemand, dem man die Bundesgeschäfte in die Hand legen wollte. Warum das so ist, müsste an anderer Stelle diskutiert werden. Aber das ist ja nicht Angies Problem. Wenn Sie jetzt entschieden hätte, sich auf ihr Altenteil zurückzuziehen, auszuschlafen, auf dem Sofa zu liegen und Wagner zu hören, ein gutes Buch zu lesen oder all die Kochrezepte auszuprobieren, die sie auf ihren Reisen kennengelernt hat, wenn sie beschlossen hätte, dass ein Tag am Badestrand schöner ist als ein Tag im Kanzleramt, dann könnte niemand sie zwingen.
Allein der Wechsel im White House wäre doch schon ein Grund. Will sie wirklich regelmässig mit dem Trumpeltier telefonieren, konferieren, zusammensitzen? Will sie wirklich ein Vertrauensverhältnis zu jemand aufbauen, der kein Vertrauen verdient? Will sie, die in ihrem eigenen Land – und das ist eine ihrer grössten Leistungen – eine Kultur der Offenheit und Willkommenheit durchgesetzt hat, wirklich mit jemandem zusammenarbeiten, der Mauern und Zäune bauen will? Sie könnte stattdessen mit ihrem guten Freund Barak am Kudamm einen Kaffee trinken und die beiden könnten über ihre Nachfolger kichern, sie könnten das auch in New York oder Miami, in Rom oder Paris tun, und jetzt nur noch mit leichtem Personenschutz und keinem 10fachen. Oder sie könnte Obama auf den Grünen Hügel mitnehmen und nach dem Rheingold mit ihm bei Bier und Bratwurst über den Castorf-Ring lästern.
Aber sie tut das alles nicht. Sie leidet, wie so viele Menschen am Nicht-Aufhören-Können-Syndrom.  

«Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören.» Und da dies niemand beherzigt, werden wir irgendwann von Leuten umgeben sein, die ihren Aufgaben eigentlich nicht mehr gewachsen sein werden. Wir werden dann von 90jährigen Chirurgen operiert, die ein Leben ausserhalb des OP einfach nicht akzeptieren können, denen aber die Hand so zittert, dass ein Wiedererwachen Glücksache ist, wir werden dann von 100jährigen Chauffeuren kutschiert, die einfach die Strasse und das Steuer brauchen auch wenn sie zwar Steuerrad, aber nicht mehr die Strasse sehen können, der 95jährige Kellner wird dann unsere Bestellung schon auf halbem Weg zur Theke vergessen haben, und wenn er doch schliesslich bestellt hat, wird uns eine klumpige Sauce serviert, weil der 107jährige Koch keine Kraft mehr zum Rühren hat.

Aufhören können.

Es gibt aber doch auch leuchtende Beispiele. Beat Raaflaub hat neulich mit einem fulminanten, musikalisch eindrücklichen, beeindruckenden, exzellenten Verdi-Requiem sein Abschiedskonzert gegeben und seine Chöre in jüngere Hände gelegt, und das zu einer Zeit, in der er sicher noch zehn Jahre hätte weitermachen können.
Chapeau.















Montag, 21. November 2016

Alle 12 Minuten verlieben? Vom Internetdaten



Alle 12 Minuten verliebt sich ein Single über LOVEFOREVER®

Das lese ich auf einem Plakat am SBB und ich denke, wie blöde muss denn dieser Single sein, dass er sich alle 12 Minuten verguckt, und vor allem wie unbeständig, alle 12 Minuten, das ist ja eine unglaubliche Frequenz, bis ich irgendwann begreife, dass es nicht derselbe Single ist, sondern das Ganze eine statistische Angabe.

Also rechne ich noch einmal ein wenig herum: LOVEFOREVER® hat als grösste Online-Partnerbörse nach eigenen Angaben 132.000 User, wenn also alle 12 Minuten ein Verliebungsvorgang stattfindet, dann bedeutet das für jede(n) Einzelne(n) einmal Verlieben pro Woche, laut meiner Rechnung, mein Erzengel kommt auf andere Daten. Ist das normal? Wahrscheinlich schon. Man muss natürlich von Singles ausgehen. Für einen verheirateten Menschen wäre es ja ziemlich doof, sich jede Woche zu verlieben, es sei denn – Romantik herrscht! – jede Woche erneut in die eigene Frau, in den eigenen Mann. Aber für einen Single ist die Wochenfrequenz sicher eine gute Rechenbasis.

Nehmen wir zum Beispiel meinen Kumpel Herbert, der verliebt sich permanent und aus den diffusesten Gründen. Er verliebt sich in den Mann an der Supermarktkasse, weil der so geile Grübchen hat, er verliebt sich in den Schalterbeamten wegen dessen Händen, er verliebt sich in die Stimme des Busfahrers der Linie 97 und in das Sixpack des Kerles in der Schwimmbaddusche. Er verliebt sich, wenn ihn ein Typ anlächelt, wenn ein Typ ein gutes Buch liest und wenn ein Typ ihn auf der Rolltreppe vorlässt. Neulich hat er sogar den Koch vom Ristorante Roma, von dem er nur seine Produkte kannte, wunderbare Gnocchi al Salmone und ein hauchzartes Bistecca, aus der Küche holen lassen, um ihm einen Heiratsantrag zu machen. Allerdings musste er ob des Alters (70), des Aussehens und der eklatanten Heterosexualität von Giovanni Hibardi dann doch davon absehen.

Alle 12 Minuten verliebt sich ein Single über LOVEFOREVER®

Kann also sein.
Aber wäre es nicht spannender herauszufinden, wie oft sich Menschen ineinander verlieben? Ich meine, das ganze Problem bei der Liebe liegt doch in der Einseitigkeit. Dass ich mich verliebe, ist nur die eine Seite, die andere ist, wer sich in mich verliebt.

Ein Jüngling liebt ein Mädchen
Das hat einen andern erwählt
Der andere liebt eine andere
Und hat sich mit dieser vermählt.

So dichtet Heine. Oder nehmen sie doch nur einmal den Sommernachtstraum, der ganze Schlamassel beginnt damit, dass Demetrius in Hermia verknallt ist, die aber Lysander nachrennt, Demetius aber nun von Helena verehrt wird, die aber keine Chance hat, weil ja…

Es ist eine alte Geschichte
Doch ist sie immer neu
Und wem sie jüngst passierte
Dem bricht das Herz entzwei.

Wäre es also nicht viel spannender, wenn man angeben würde, wie oft sich Menschen ineinander verlieben? Oder gibt es darüber keine Infos? Oder passiert das bei LOVEFOREVER® gar nicht? Das wäre für eine Partnerfindungsheimseite allerdings ziemlich doof. Manchmal frage ich mich, ob diese Datingportale es überhaupt bringen. Was erfahren Sie dort überhaupt über einen Menschen? Gut, Sie sehen sein Foto. Das sieht meistens erfrischend nett aus, Fotoshop sei Dank. Und Sie erfahren die Basics, hat er oder sie einen Hund, lebt sie oder er auf dem Land oder in der Stadt, sie können sich über Beruf, Hoobys, über Lieblingsreiseziele oder Lieblingsessen informieren, über (positive) Charaktereigenschaften und (positive) Ziele. Die entscheidenden Fakten, die für die Anbahnung einer Beziehung doch ganz hilfreich wären, wird man tunlichst verschweigen. «Schnarcher.» oder «Bin pleite.» oder «Kann nicht aufräumen.»

Was völlig fehlt, sind Stimme und Geruch. In einem seiner unglaublich witzigen Programme lässt das Kabarettpaar Maul- & Clownseuche den Mann beim ersten Date in breitestem und widerlichstem Schwäbisch sagen: «Bisch du die Loolaa? I ben dr Wenfried.» Später meint Lola zu ihrem Roommate, dieses Detail sei ihr beim Chatten gar nicht aufgefallen. Kunststück.
Gut, aber das könnte man mit Sounddateien ja noch regeln; völlig verborgen bleibt das Odeur. Dabei weiss man doch inzwischen, dass der Geruch, die ausgesendeten feinen Duftpartikel, über Sympathie oder Antipathie entscheiden. Der Satz Ich kann ihn nicht riechen ist also absolut wörtlich gemeint. Was nützt es also, wenn die Profile zweier Menschen so unglaublich schön zu einander passen, so passen wie Topf und Deckel, wie ein Puzzlestück zum anderen, aber die Nase beim Date sofort verkündet: Nein, den/die nicht!

 Alle 12 Minuten verliebt sich ein Single über LOVEFOREVER®

Es wäre hilfreicher, die anderen Statistiken zu erfahren: Wie oft verlieben sich zwei Menschen ineinander? Wie oft entsteht wirklich eine Beziehung? Und wie oft eine, die länger als drei Tage hält? Aber den Machern von LOVEFOREVER® geht es ja nicht darum, Leute glücklich zu machen. Es geht um Klicks, und der verzweifelt Suchende, die verzweifelt Spähende klickt eben dauernd, wer gefunden hat, klickt nicht mehr.