Wenn ich
hier vom Begreifen von Wahlsystemen schreibe, meine ich nicht, dass wir
kapieren, wie das Wahlsystem eines Landes funktioniert. Das ist ja kompliziert
genug und Strassenumfragen zeigen, wie wenig manche Zeitgenossen eigentlich
checken, was sie da an der Urne tun. So hielten schon 67% der in der BRD
befragten die Erststimme für wichtiger als die Zeitstimme (das Gegenteil ist
der Fall), nur 35% konnten die Begriffe «kumulieren» und «panaschieren»
erläutern und 71% gaben an, wem sie bei der Bundespräsidentenwahl ihre Stimme
geben würden (er wird nicht vom Volke gewählt).
Nein, wenn
ich vom Begreifen rede, meine ich, dass wir irgendwie verstehen, warum ein
Wahlsystem so ist, wie es ist, praktisch, skurril, widersinnig, lustig, schräg
oder geheimnisvoll oder alles zusammen. Und ich rede nicht von der Wahl in
sogenannten Demokratien, in denen es eh nur einen Kandidaten gibt (der Rest
wurde erschossen), der dann – Wunder über Wunder über Wunder – 98% der Stimmen
erhält. (Warum eigentlich nur 98%, wenn alle Konkurrenten tot sind?) Nein, ich
rede vom Wahlsystem der USA, das uns alle vier Jahre wieder masslos in
Erstaunen versetzt.
Stellen Sie
sich vor, die Deutschen dürften wirklich den Bewohner von Schloss Bellevue
selber bestimmen. Und zwei sehr unterschiedliche Kandidaten stünden zur
Elektion: Wilhelm Genazino und Dieter Bohlen. Jetzt gäbe es natürlich die
simpelste Möglichkeit, einfach die Prozente aller in der BRD abgegebenen
Stimmen zu errechnen. Da erhöbe sich aber die Firma, die immer das Catering nach
der Bundesversammlung macht und wiese auf einen 30 Jahre-Vertrag hin. Also gut,
dann macht man eben eine Versammlung und jedes Bundesland schickt eine Anzahl
Leute, proportional ihrer Einwohner, das Saarland z.B. 10 für Dieter und 5 für
Wilhelm.
Aber dann
käme jemand auf die Idee, dass, wenn die Wahlleute im gleichen Zug von
Saarbrücken nach Berlin sässen, sie vielleicht Streit bekämen und schlüge vor:
Jedes Bundesland schickt ALLE seine Leute für den im Land Gewonnenhabenden,
also alle 15 für Didi. Das Drittel Saarländer, das den Büchnerpreisträger
wollte, wird unter den Tisch gefegt.
Blöd, gell?
Aber genau
ist das US-System.
Hier stimmt
ein Bundesstaat immer geschlossen, Sie haben also ALLE Elektoren aus Texas oder
Ohio oder Sie haben KEINEN Elektor aus Texas oder Ohio, so einfach ist das. Und
so wenig zu begreifen. Hinzukommt, dass es Staaten gibt, die immer gleich
abstimmen, klare Demokraten- oder Republikanerstaaten und nur wenige, die mal
so und mal so entscheiden, die sogenannten Swing States. Wenn Sie nun also in
Texas für die Demokraten stimmen möchten, können Sie es genauso gut sein
lassen, sich gemütlich eine Tasse Tee machen und MTV gucken, Ihre Meinung fällt
unter alle Tische. Wenn Sie in Kalifornien republikanisch wählen möchten, ist
das ebenso unsinnig, Sie brauchen Ihr Votum nicht abzugeben, es taucht
nirgendwo auf, gehen Sie in schönes Restaurant, essen Sie ein Steak und
vergessen Sie die Angelegenheit.
Aber warum
ist das so?
Weil das
typisch amerikanisch ist.
Es gibt nur
schwarz oder weiss, gut oder böse. Schauen Sie sich mal einen klassischen
Western an. Der Sheriff und seine Helfer sind glattrasiert, gut angezogen und
100% gut, ohne Fehl und Tadel und die Schurken sind zerlumpt und
dreitagesbärtig und 100% böse. Und die Guten gewinnen natürlich.
Ein Mensch
ist entweder ein treuer Bürger oder er ist aufmüpfig und lästerlich, dann ist
er Kommunist. Mit dieser feindifferenzierten Methode hat McCarthy seinerzeit
selbst Grössen wie Charlie Chaplin vor seine furchtbare Kommission gezerrt.
Für die
gefühlten 80% Evangelikalen im Land sind Sie Christ, das heisst wiedergeboren, born again, oder Sie sind es nicht, eine verlorene Seele, a lost soul. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass so interessante Menschen wie Böll, wie Hüsch, wie die
Ranke-Heinemann oder die Sölle, ob ein Gollwitzer oder ein Geissler, oder selbst
ein Anselm Grün das Siegel «born again christian» erhalten hätten oder erhalten
würden, nein, wahrscheinlich würde man sie zu den verlorenen Seelen zählen und
sie mit Traktaten und Einladungen überschütten.
Wer nicht
für mich ist, ist gegen mich.
Und so kann
ein Staat eben auch nicht geteilter Meinung sein, er ist immer GANZ Rep oder
GANZ Demo.
Das
amerikanische Wahlsystem kann man technisch durschauen.
Aber
begreifen kann man es nicht.
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