Dienstag, 15. November 2016

Trumpeltier II: Das unbegreifbare Wahlsystem



Wenn ich hier vom Begreifen von Wahlsystemen schreibe, meine ich nicht, dass wir kapieren, wie das Wahlsystem eines Landes funktioniert. Das ist ja kompliziert genug und Strassenumfragen zeigen, wie wenig manche Zeitgenossen eigentlich checken, was sie da an der Urne tun. So hielten schon 67% der in der BRD befragten die Erststimme für wichtiger als die Zeitstimme (das Gegenteil ist der Fall), nur 35% konnten die Begriffe «kumulieren» und «panaschieren» erläutern und 71% gaben an, wem sie bei der Bundespräsidentenwahl ihre Stimme geben würden (er wird nicht vom Volke gewählt).

Nein, wenn ich vom Begreifen rede, meine ich, dass wir irgendwie verstehen, warum ein Wahlsystem so ist, wie es ist, praktisch, skurril, widersinnig, lustig, schräg oder geheimnisvoll oder alles zusammen. Und ich rede nicht von der Wahl in sogenannten Demokratien, in denen es eh nur einen Kandidaten gibt (der Rest wurde erschossen), der dann – Wunder über Wunder über Wunder – 98% der Stimmen erhält. (Warum eigentlich nur 98%, wenn alle Konkurrenten tot sind?) Nein, ich rede vom Wahlsystem der USA, das uns alle vier Jahre wieder masslos in Erstaunen versetzt.

Stellen Sie sich vor, die Deutschen dürften wirklich den Bewohner von Schloss Bellevue selber bestimmen. Und zwei sehr unterschiedliche Kandidaten stünden zur Elektion: Wilhelm Genazino und Dieter Bohlen. Jetzt gäbe es natürlich die simpelste Möglichkeit, einfach die Prozente aller in der BRD abgegebenen Stimmen zu errechnen. Da erhöbe sich aber die Firma, die immer das Catering nach der Bundesversammlung macht und wiese auf einen 30 Jahre-Vertrag hin. Also gut, dann macht man eben eine Versammlung und jedes Bundesland schickt eine Anzahl Leute, proportional ihrer Einwohner, das Saarland z.B. 10 für Dieter und 5 für Wilhelm.

Aber dann käme jemand auf die Idee, dass, wenn die Wahlleute im gleichen Zug von Saarbrücken nach Berlin sässen, sie vielleicht Streit bekämen und schlüge vor: Jedes Bundesland schickt ALLE seine Leute für den im Land Gewonnenhabenden, also alle 15 für Didi. Das Drittel Saarländer, das den Büchnerpreisträger wollte, wird unter den Tisch gefegt.

Blöd, gell?

Aber genau ist das US-System.
Hier stimmt ein Bundesstaat immer geschlossen, Sie haben also ALLE Elektoren aus Texas oder Ohio oder Sie haben KEINEN Elektor aus Texas oder Ohio, so einfach ist das. Und so wenig zu begreifen. Hinzukommt, dass es Staaten gibt, die immer gleich abstimmen, klare Demokraten- oder Republikanerstaaten und nur wenige, die mal so und mal so entscheiden, die sogenannten Swing States. Wenn Sie nun also in Texas für die Demokraten stimmen möchten, können Sie es genauso gut sein lassen, sich gemütlich eine Tasse Tee machen und MTV gucken, Ihre Meinung fällt unter alle Tische. Wenn Sie in Kalifornien republikanisch wählen möchten, ist das ebenso unsinnig, Sie brauchen Ihr Votum nicht abzugeben, es taucht nirgendwo auf, gehen Sie in schönes Restaurant, essen Sie ein Steak und vergessen Sie die Angelegenheit.

Aber warum ist das so?
Weil das typisch amerikanisch ist.
Es gibt nur schwarz oder weiss, gut oder böse. Schauen Sie sich mal einen klassischen Western an. Der Sheriff und seine Helfer sind glattrasiert, gut angezogen und 100% gut, ohne Fehl und Tadel und die Schurken sind zerlumpt und dreitagesbärtig und 100% böse. Und die Guten gewinnen natürlich.
Ein Mensch ist entweder ein treuer Bürger oder er ist aufmüpfig und lästerlich, dann ist er Kommunist. Mit dieser feindifferenzierten Methode hat McCarthy seinerzeit selbst Grössen wie Charlie Chaplin vor seine furchtbare Kommission gezerrt.
Für die gefühlten 80% Evangelikalen im Land sind Sie Christ, das heisst wiedergeboren, born again, oder Sie sind es nicht, eine verlorene Seele, a lost soul. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so interessante Menschen wie Böll, wie Hüsch, wie die Ranke-Heinemann oder die Sölle, ob ein Gollwitzer oder ein Geissler, oder selbst ein Anselm Grün das Siegel «born again christian» erhalten hätten oder erhalten würden, nein, wahrscheinlich würde man sie zu den verlorenen Seelen zählen und sie mit Traktaten und Einladungen überschütten.
Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.
Und so kann ein Staat eben auch nicht geteilter Meinung sein, er ist immer GANZ Rep oder GANZ Demo.

Das amerikanische Wahlsystem kann man technisch durschauen.
Aber begreifen kann man es nicht.

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