Freitag, 29. August 2014

Der Herbst soll vor der Türe bleiben


Der Herbst steht vor der Türe.
Er soll draussen bleiben.
Hören Sie mir auf mit dem Herbst, er ist die bescheuertste Jahreszeit. Man denke nur daran, dass das ganze Unglück ja dadurch entsteht, dass Persephone wieder zurück in die Unterwelt muss und ihre Mutter, die Göttin des  Wachsens und der Fruchtbarkeit, in eine Depression verfällt und dann alles welkt. Also eine Zeit, in der alles den Bach (den Styx) hinuntergeht.

Im Herbst weiss man nie, was man anziehen soll, morgens und abends ist es sibirisch kalt, wenn man aufwacht, hat man schon Eiskristalle in der Nase und mummt sich in vierzehn Schichten, die man bis Mittag, wenn für eine Stunde die Temperaturen wieder auf 34° klettern, abgelegt haben sollte, man ist also die ganze Zeit am Strippen und ab Nachmittag am Anti-Strippen (?)
Mit dem Herbst kommt der Nebel, überall läuft man durch weisse Suppe und knallt gegen Pfosten und Bäume, die man nicht sieht. Wenn sich der Nebel einmal lichtet, dann nur, damit es regnen kann. Es regnet 48 bis 52 Stunden am Stück, es regnet sich aus und regnet sich ein, der Regen übt für den Schnee, die noch blödere Form des Niederschlags, der dann um den 17. November einsetzt, um dann bis Weihnachten wieder weggetaut zu sein.

Und dann das Laub! Diese dumme Angewohnheit der Bäume, ihren Müll abzuladen! Überall fahren abgestorbene und abgeworfene Blätter herum, verstopfen Dachrinnen und Abläufe, Sie schleppen das nasse Laub ins Haus, auf Ihr Parkett, Sie finden Laub in ihren Taschen und in Ihren Laptops, in Ihren Kleidern und in Ihren Spülmaschinen. Wenn Sie ein Haus besitzen, müssen Sie den ganzen Tag Laub rechen und schaufeln, es sei denn, die Gemeinde schickt Laubbläser vorbei, die Sie und Ihre Nachbarn um 6.00 aus dem Schlummer reissen, es sind immer zwei, der eine bläst das Zeug immer dahin, von wo es der andere gerade hergeblasen hat.

Jetzt kommen Sie mir bitte nicht mit „Herrlicher Herbsttag im Jura (oder auf der Schwäbischen Alb)“. Ja, so ein Tag mit azurblauem Himmel, strahlender Sonne und dem Wald, der braun, gelb, rot, blau, grün und pink leuchtet und inmitten dessen die weissen Felsen noch weisser erscheinen, ist etwas Wunderbares. Aber wie oft habe ich das Phänomen „Herrlicher Herbsttag“ erlebt? Vielleicht 10mal  in 50 Lebensjahren. Schlechte Quote. Denn es ist doch so: Ist so ein Wetter, ist man eben nicht im Jura (oder auf der Alb) sondern bei einer Fortbildung in Kloten, oder in Wanne-Eickel, und ist man mal im Jura, ist dort Nebel oder Regen. Ist doch so.

Und kommen Sie mir bitte jetzt auch nicht mit Herbstgedichten. Unsere Dichter mochten den Herbst auch nicht, sie tun nur so romantisch, man muss nur genau lesen.
Georg Binding schreibt über den Apfel:
Ob er hält?
Ob er fällt?
Da wirft ihn geschwind
Der Wind
In die goldene Welt.
Schöner Rhythmus, OK, aber wenn jemand diesen Apfel an den Kopf bekommt? Äpfel, Birnen und Nüsse machen empfindliche Beulen, wenn sie einem herbstlich an die Stirne krachen, und wenn sie einfach zu Boden fallen, dann matschen sie da und ziehen Fliegen an.
Rilke schreibt:
Herr, es ist Zeit.
Der Sommer war sehr gross.
Das können wir ja dieses Jahr eh vergessen, der Sommer WAR NICHT gross, der war klein, mini, verhutzelt, eingeschrumpelt, das war ein Sömmerlein und kein Sommer, insofern stimmt das ganze Gedicht nicht, aber lesen wir ein paar Zeilen tiefer:
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.
Tröstlich, nicht? Gut, wer kein Haus hat, muss auch kein Laub rechen, siehe oben, aber das andere? Status auf „Single“ stellen bis Mai? Da könnte Raini doch gleich schreiben: Nimm dir einen Strick, es gibt ihn auch in schönen Herbstfarben, braun, gelb, rot, blau, grün und pink? Oder: Stürze dich von einem der weissen Jurafelsen, wenn du Glück hast, landest du auch auf einem, dann wirkt das Rot noch besser?
Storm ist mir da lieber:
Der Nebel steigt. Es fällt das Laub.
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja, vergolden.
Das ist doch ein Wort: Alkohol. Der Herbst ist nur mit Alkohol zu ertragen. Und an das werde ich mich halten. Wenn die Temperaturen spinnen und das Laub herumspinnt, wenn ich im Nebel wieder einmal gegen einen Pfosten gerannt bin und der Regen sogar in meine Tasche fliesst: Ich werde saufen. Rotwein. Whiskey. Portwein. Sherry. Und wenn ich dann auf dem Weg ins Bett auf die Nase fliege, halte ich mich wieder an Rilke:
Wir alle fallen.
Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: Es ist in allen.
Geht also auch anderen so.

Der Herbst steht vor der Türe.
Er soll draussen bleiben.
Na denn: Prost.

Montag, 25. August 2014

Früher war spenden klarer oder: Eiswasser

Früher war die Welt der Spender und Spendenempfänger, die Welt der Geberinnen und Nehmerinnen, der Zahler und Erhalter noch überschaubar und geordnet.
Die Mitarbeiter der Kirchen warfen einmal im Jahr ein Tütchen in den Briefkasten, in das man das Geld für BROT FÜR DIE WELT, oder, war man katholisch, für MISEREOR hineintat. Nur wenige Leute, denen die Hilfswerke zu links waren, immerhin wagten die ja manchmal zu sagen, dass es auch an den Besitzverhältnissen in Lateinamerika oder Afrika lag, spendeten für HILFE FÜR BRÜDER.
Neben dem Beitrag für die Kirchlichen Hilfswerke gab man noch für die Kriegsgräberfürsorge und man kaufte den Kalender der behinderten Künstler. Dieser Kalender, mit mund- und fussgemalten Bildern wird, glaube ich in fast jedem Elternhaus meiner Generation irgendwo gehangen sein. Ja, man könnte hier die ganze Meute der Geburtenstarken Jahrgänge darauf untersuchen, welchen Einfluss es hatte, mit mund- und fussgemalten Bildern aufgewachsen zu sein. Mund- und Fussgemaltes hing im Ess- oder Wohnzimmer, oder auch in der Küche, ja man kam um die Mund- und Fussmalerei überhaupt nicht herum. Mich machte dieses Zeug immer rasend, weil ich nicht zeichnen konnte: Wie blöd stehst du da, wenn du mit einer gesunden rechten Hand nicht einmal einen Baum zeichnen kannst, und die malen ganze Wälder mit dem Fuss?
Neben den Kalendern kaufte man Produkte der Blindenwerkstätten. Die durften nämlich an der Haustüre verkaufen, ein Thema, das immer von den Hausfrauen immer wieder beim Bäcker, Metzger oder Friseur durchgehechelt werden konnte: „Kommt da doch neulich so jemand und sagt, er käme von der Beschützten Werkstatt Stetten, wissen Sie, die im Remstal, und da sag ich gleich, Sie sind ein Betrüger, weil die geistig Behinderten, die dürfen ja nicht an der Haustüre, sag ich zu dem und gehen Sie weg, nur die Blinden dürfen ja…“ „Sag ich auch immer zu meinen Kindern, sag ich auch immer, sonst…“ „Nur die Blinden, Frau Schäufele, nur die Blinden…“ So stapelten sich in unseren Schränken Besen und Bürsten, Wischmöppe (sic) und Putzlappen, Gestopftes, Gewebtes und Gedrechseltes für den Haushalt, man hätte Kehrwische (Für die Nichtschwaben: Handbesen) bis 2035 gehabt, aber weil der Verkäufer der Blindenware so ein netter Mann und weil es ja für die Blinden war, nahm man immer wieder Zeug ab.

Dann explodierte irgendwann das Spendenwesen.
Heute kommen Sie in einer Woche locker auf 35 bis 45 Briefe, Glanzprospekte, Schreiben, Drucksachen, die alle nur eines beinhalten: Wir wollen Ihr Geld. Gehen Sie auf die Strasse, werden Sie sofort von einem Spendeneintreiber in grüner, gelber oder roter Jacke angehalten. Die jungen Leute sind keineswegs Mitglieder der Organisation, für die sie werben, es sind Berufsspendensammler. (Ich habe vor etlicher Zeit einem solchen schon einmal einen Post gewidmet, es ging um das Baumkänguru.) Inzwischen sind vor allem die jungen Männer immer sportlicher und durchtrainierter und springen, sollte jemand die abgegriffene Floskel Keine Zeit benützen, auch schon mal potentielle Spender von hinten an und werfen sie zu Boden, um dem Spendengespräch die nötige Zeit zu verschaffen.

Der Kampf um den Euro, den Cent, um den Franken und den Rappen wird immer härter.
Denn es gibt schlicht und einfach zu viele Organisationen.
Es gibt allein im Bereich Natur eine unüberschaubare Menge an Gesellschaften, Hilfswerken und Verbänden, das einem schwindlig werden kann, Gesellschaften, Hilfswerke und Verbände, die zum Teil auch diametral entgegengesetzte Ziele verfolgen. So liegen die Interessen bei der IG DEUTSCHE WILDKAROTTE ® natürlich anders als beim HASENSCHUTZBUND®, der HASENSCHUTZBUND ® freut sich über die Karottenpflege, die IG DEUTSCHE WILDKAROTTE ® würde aber die Hasen am liebsten abknallen oder wenigstens sterilisieren, denn viele Hasen sind der Wildkarotte Tod.

Es ist nun nicht verwunderlich, dass im Kampf um die Aufmerksamkeit der Spenderinnen und Spender  zu sehr ungewöhnlichen Mitteln gegriffen wird. Eines ist die Sozial Media-Challenge: Man fordert Sie auf, irgendeinen Schwachsinn zu tun oder eine bestimmte Summe zu spenden, wenn Sie wollen, dürfen Sie auch spenden UND Schwachsinn machen. Tausende von Leuten lassen sich zur Zeit mit kaltem Wasser übergiessen und es ist schon eine Riesensumme zusammengekommen.
Scheinbar braucht es in der Welt einer völlig aus den Fugen geratenen Hilfswerksexplosion solche Kicks, um nicht in der Flut der Gesellschaften, Hilfswerken und Verbänden unterzugehen.

Nun gut, ich habe zum Glück kein Facebook.
Ich würde nämlich weder das eine noch das andere tun. Ich schwimme zwar in beliebig kaltem Wasser, aber wenn ich stehe und es auf mich runterkommt…Brrrrrr…Ich bin Warmduscher. Spenden würde ich aber auch nix, weil ich meine zwei Clubs habe, denen ich spende und ich alles, was übrig ist, dahin gebe und mich nicht verzettele.

Manchmal sehne ich mich in die Kindheit zurück: Wir sitzen am Küchentisch, in der Ecke liegt das Umschläglein für BROT FÜR DIE WELT, an der Wand hängt ein Kalender mit mund- und fussgemalten Bildern und irgendwo steht unser 35. Besen herum. "Der von den Blinden war wieder da, und der ist doch so nett, und es ist ja auch für die Blinden, und es sind ja nur die Blinden, die an der Türe..."
Früher gab es kein Eiswasser.
Und das war gut so.

 

Donnerstag, 21. August 2014

Nun also das Nackt-Selfie

Nun also das Nackt-Selfie.

Nach dem Nacktwandern, dem Nacktputzen, dem Nacktschreiben (!), nach dem Nacktbaden und Nacktschwimmen, nach dem Joggen, Beachen und Tanzen im Adamskostüm – warum eigentlich nicht Evakostüm? – nun also das Nackt-Selfie. Es wurde ja auch Zeit, diese beiden Trends mit einander zu verbinden. Keine Angst, ich habe zwar schon einen Selfie-Post geschrieben, in dem ich mein Aussehen darstellte, ich habe einen Post textilfrei in den Laptop gehämmert, aber einen Nackt-Selfie-Post wird es nicht geben, das kann ich Ihnen, liebe Leserin, das kann ich Ihnen, lieber Leser nicht zumuten.

Nachdem eine Sekretärin textilfreie Aufnahmen aus dem Bundeshaus verschickt hatte, ist nun der Badener Stadtammann und Nationalrat ja über so eine Geschichte gestolpert und bös auf die Schnauze gefallen, das Pikante war, dass die Nackt-Selfies, die er an eine Frau verschickte, in seinem Büro entstanden waren.

Der Fall werfe Fragen auf, heisst es. Fragen? Für mich liefert der Fall eine Fülle an Antworten, Antworten, nach denen ich schon lange suchte.

Haben Sie sich nie gefragt, warum man auf Ämtern und Behörden immer im Gang warten muss? Warum man Nummern zieht, aufgerufen wird, warum man wartet, wartet, wartet, einen Kaffee holt und weiterwartet? Warum man ausharren muss, bis entweder ein Türspalt aufgeht und eine Stimme sagt: „Herr Schneider bitte“ oder – manche Ämter sind schon sehr modern – ein grünes Lämpchen aufleuchtet? Ich habe einmal, ein einziges Mal versucht, in ein Amtszimmer einfach hineinzugehen. Die Folge war, dass ein „WAAAAAAAAAAAAAAAARTEEEEEEEEEEEEEEEEN“ erscholl und mehrere Gegenstände von innen an die Türe flogen. Jetzt ist mir natürlich alles klar, auf dem Arbeitsamt, dem Sozialamt, der Führerscheinzulassungsstelle, dem Einwohnermeldeamt und der Baubehörde werden tonnenweise Nackt-Selfies geschossen und verschickt, da wird – verzeihen Sie mir das Zitat – geknipst und geguckt, da wird entblösst und nochmal entblösst. Deshalb seien Sie froh, dass Sie dort immer aufgerufen werden und sonst nicht in die Zimmer dürfen, Sie wollen gar nicht wissen, wie Ihr Sachbearbeiter oder Ihre Sachbearbeiterin ohne Hose oder Rock aussieht.

Haben Sie sich nie gefragt, wie die Staatsangestellten und Beamten zu den Überstunden kommen, von denen sie immer reden? Ein Bekannter von mir arbeitet bei der Stelle, die für die Nordwestschweiz Angel- und Fischereischeine ausstellt. Sie können dort eine Wochen-, Monats- oder Jahreserlaubnis abholen, die Sie berechtigt, eine bestimmte Menge Fisch aus den Gewässern zu holen, und zwar montags, mittwochs und freitags 10.00 – 12.00 und dienstags und donnerstags 14.00 – 16.00. Der gute Sachbearbeiter und Fischereischeinaussteller hat 2013 einhundertfünfzig Überstunden gemacht, die er sofort im Januar 2014 abfeierte. Wie kamen die zustande? Bei zehn Stunden Publikumsverkehr pro Woche? Bei einem Metier, bei dem der Andrang im Winter gleich Null ist? Bei einer Sache, die sich ja auch auf wenige Gewässer und Regionen beschränkt? Niemand wird für Dezember eine Angelerlaubnis holen und niemand für Pratteln, wo Sie im Bereich Schweizerhalle die Fischlein aus der Basler Chemietunke ziehen. Gut, ich weiss nun, was der liebe Herr den lieben langen Tag gemacht hat. Nein, das ist jetzt fies, vielleicht hat er auch Computerspiele gemacht oder den früher üblichen Beamtentriathlon: Gummibaumputzen / Bleistiftspitzen / Ablage. Aber vielleicht hat er doch auch alle Hüllen fallen lassen und seinen Adoniskörper in die Welt geschickt.

Die dritte Frage, die jetzt auch geklärt ist, ist, warum so viele Beamten und Staatsangestellte früher in Ruhestand dürfen. Man fragte sich ja immer schon – und das gilt jetzt vor allem für Deutschland – warum der Sachbearbeiter beim Arbeitsamt, dessen Lieblingsspruch „Wer mit 60 noch laufen kann, kann auch arbeiten“  war und der so viele angebliche Grufties noch in jugendlichen Berufen (Landschaftsgärtner, Möbelpacker) unterbrachte, selber mit 58 in Pension ging, „aus gesundheitlichen Gründen“ wie es hiess. Das war eine Strafpensionierung, es bleibt zu hoffen, mit nicht ganz vollen Leistungen, ich will gar nicht wissen, bei was die den ertappt haben.

Nein, wir wollen es eigentlich gar nicht so genau wissen, was da hinter deutschen, Schweizer und österreichischen Amtstüren abgeht, die Vorstellung, dass auch hochrangige Politiker, die Vorstellung, dass irgendwann auch Nackt-Selfies von Angie…

Nein, es gibt Dinge, die übersteigen das menschliche Vorstellungsvermögen.

Nun also der Nackt-Selfie-Boom.
Man ist gespannt, was das 21. Jahrhundert noch so bereithält.

Montag, 18. August 2014

Aus Versehen den Bertholdsbrunnen kaputtgemacht

Ich habe viele Gruppen schon durch Freiburg im Breisgau geführt. (Die eine einmal mit Restalkohol, dafür schäme ich mich noch heute – Gruss an Philipp). Ausser vielen Ahs und Ohs und Freudenschreien gab es immer zwei Enttäuschungen: Die eine, dass die Altstadt so klein ist („Das war alles?“), die andere war der Bertholdsbrunnen. Alle hatten einen grossen, gusseisernen Brunnen erwartet, bei dem oben eine Statue eines stattlichen Fürsten thront und von ihm aus sprudelnde Quellen und Strahlen von Schale in Schale sich ergiessen und schliesslich überquellend im letzten, fundamentalen Becken enden. Stattdessen sahen sie dieses: Einen bulimischen Jüngling – hatte der Stadtgründer wirklich Magersucht? – auf einem rachitischen Ross, der junge Mann macht irre Verrenkungen, von denen man nicht weiss, ob sie Spasmen oder Yoga sind. Das Ganze steht auf einem schmutzigen Steinsockel in einer Wasserpfütze. „Das ist der Berholdsbrunnen?“, wurde ich sicher tausendmal gefragt.

Nun wird seit Juli der gesamte Gleiskörper der Strassenbahnen um dieses Monument erneuert. Die Baustelle ist mit einem hohen Zaun gesichert und das Denkmal mit einem Gerüst geschützt.
Ich frage mich, warum.
Wäre es nicht überaus sinnvoll gewesen, den Bertholdsbrunnen vor allen Blicken zu schützen und dann im Sommer eine Baupanne passieren zu lassen? Nach dem Motto: Sorry, wollten wir nicht, aber wir haben aus Versehen das Teil abgefräst, kleingehackt, plattgemacht, ein Bohrer kam irgendwie dran und dann ist die Planierraupe drüber.
Alle wären glücklich.

Ist meine Idee so abwegig?
Jeder hat doch schon mal eine Scheusslichkeit „aus Versehen“ zu Bruch gehen lassen, da hat man bei der Tante ihre widerlichste Untertasse versehentlich vom Tisch gestossen, da hat man beim Umzug des Kumpels die zwei Meter hohe Keramikgiraffe, die einen immer so genervt hat, unabsichtlich die Treppe hinuntergeworfen, da hat man Dinge, die eklig und fies anzusehen waren, vergessen, zu sehr geschüttelt oder zu sehr gerührt.
Garfield stösst in einem der Cartoons "aus Versehen", also für den Leser eigentlich mit gut sichtbarer Absicht, an eine Vase und spricht in Anlehnung an Armstrong dazu: "A little push for a cat, but a big push for good taste."

Warum lässt man in einer der pfälzischen Städte, wo zurzeit immer Bomben gefunden werden – alle Blindgänger des Zweiten Weltkriegs sind komischerweise in der Pfalz – so einen Sprengkörper nicht einfach mal hochgehen? Ich meine natürlich nach der vollständigen Evakuation aller Menschen. Die Innenstädte von Kaiserslautern, Pirmasens oder Idar-Oberstein könnten nur gewinnen, wenn man einige der Sechziger Jahre- Katastrophenbauten einfach wegsprengt. Bin ich zynisch? Wahrscheinlich schon. Aber wer braucht denn noch diese Fussgängerzonen aus Glas und Beton, die alle gleich aussehen und in denen es auch die genau gleichen Geschäfte hat? (OK, in Kaiserslautern hat es keinen NEW YORKER und in Pirmasens keinen BODY SHOP, aber das ist der einzige Unterschied.)

Aber kehren wir die Kiste mal um ins Positive: Warum haben die Bauarbeiter, die jetzt acht Wochen lang die Strecke Basel – Delemont revidiert haben, nicht die Pläne „ein wenig falsch“ gelesen und das zweite Gleis, auf das man seit 1928 wartet – der Schnellzug nach Genf muss jeden Morgen auf den Gegenzug warten – einfach dazu gebaut? Es hätte Riesenärger gegeben, man hätte getobt, geschrien, wer hier zu blöde ist einen Plan zu lesen, aber am Ende wären alle glücklich gewesen.

Das Prinz-von-Homburg-Thema: Man missachtet einen Befehl, deshalb gewinnt man die Schlacht… und hat dann ein ziemliches Problem, aber das nimmt man in Kauf.

Jedenfalls sollten wir viel mehr aus Versehen, unabsichtlich, ohne Fleiss Dinge verschwinden lassen, die eh alle nerven.
Oder eben Gleise, Verbindungen, Tunnel, Brücken, die dem ÖV nützen, einfach "aus Versehen" bauen. 
Heute war ich noch mal in Freiburg. Ich habe mir den jungen Herrn ein weiteres Mal genau angesehen. Das ist kein Yoga! Das ist irgendetwas zwischen Voltigieren und Qui Gong, verbunden mit einem Spasmus.

Und der Berthold steht immer noch.
Aber der Sommer ist ja noch lang.
Bestimmt wird einem Arbeiter der Bohrer ausrutschen.
Es ist zu hoffen.

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Donnerstag, 14. August 2014

Metamorphosen: Neue Haarschnitte

Detlev, mein Coiffeur, hat einen neuen Text über dem Spiegel hängen:
Herr Keuner traf einen Mann, den er lange nicht gesehen hatte. “Sie haben sich ja gar nicht verändert“, sagte dieser. „Oh“, sagte Herr K. und erbleichte.
„Gut, ne? Das is‘ von Pilava.“ Ich gebe zu bedenken, dass die Geschichte von Bertold Brecht ist, Pilava sie nur zitiert hat und dass es in ihr nicht hauptsächlich um Frisuren gehe.
Detlev lächelt sein schwulstes Lächeln:  „Um was denn sonst, Süsser, um was denn sonst?“ Dann beginnt er mir mit spitzen Fingern die Haare einzuschäumen.

Nachmittags ruft mich meine Freundin Dolly an. Sie will wieder einmal abnehmen und hat sich als Motivation einen Vers an die Badezimmerwand gepinnt:
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.
„Dolly“, sage ich, „du wirst doch nicht im Ernst die schönen Stufen von Hesse als Diäthilfe missbrauchen.“ „Aber das ist doch soooo passend: Das verfettete Herz nimmt Abschied von den Pfunden und wird gesund.“
Dazu fällt mir nichts mehr ein.

Als wir eine Woche später das Goetheanum besichtigen, hören wir eine Menge über Metamorphosen. Die Verwandlung und Veränderung ist ja grosses Thema bei Goethe und bei Steiner. Auch der Bau im Ganzen drückt in seiner organischen Gestaltung diese Wandlungsmöglichkeiten aus. „Metamorphose“, sagt Günter, „ich kaufe mir morgen so ein blaugestreiftes Hemd.“

Hallo? Warum sehen wir Veränderung nur noch äusserlich? Und nicht mehr politisch wie Brecht, religiös wie Hesse  und spirituell wie Steiner?
Zugegeben:
In keinem Jahrhundert war die Möglichkeit zur Veränderung so gross. Man kann die Haare nicht nur blond, schwarz oder mit Henna färben, man kann sich z.B. einen grasgrünen Hahnenkamm um pissgelbe Stoppeln stehen lassen, aus dem rote Strähnchen quellen. Und ist dann nicht einmal besonders innovativ.
Stellt man dann fest, dass Ohren, Nase, Kinn und Teint zur Frisur nicht passen: Es ist jede Art von Glätten, Heben, jedes Aussaugen, Aufspritzen und  Unterhobeln möglich, zur Not gibt es Botox, Liften, Peeling und Abfräsen. Die Nase wird stumpfer, die Ohren spitzer, das Kinn mehr melonenförmig und der Teint wieder jung und schön.
Ist man gerade am Saugen, kann man auch ein wenig Fett absaugen, das, das bei den Apfel-, Birnen-, Nudel-, Sprudel  und Pudeldiäten nicht weggegangen ist. Ist die Taille dann immer noch zu breit für XXXS (bietet A&F wirklich an!), dann sollte man sich die Hüfte verkleinern lassen, eine nur  achtstündige Operation, die nur selten zum Verlust der Lauffähigkeit führt. (Cher kann immer noch stolzieren!)
Wenn man dann schon am Knochen sägen, am Teilen und Einschieben ist, ändert man noch die Grösse, kleiner, riesiger, alles von 1,54 m bis 2,13 m ist möglich. 
Insofern wird der Begriff Unveränderliche Kennzeichen, den wir in Personalausweisen finden, zum Problem: Unveränderlich ist  eben die Grösse nicht mehr, und auch die Augenfarbe ist es keineswegs. Ein Französischer Arzt lasert Ihnen seit einiger Zeit rote, blaue, grüne oder pinke Augen. Was das soll, da es ja auch farbige Kontaktlinsen gibt, weiss niemand, aber er kann sich vor Zulauf nicht retten.
Unveränderliche Kennzeichen gibt es also optisch nicht mehr, nur noch der Geburtsort und das Geburtsdatum bleiben Ihnen als Anker in der Zeit.
Wenn Sie nun mit rot-gelben Haaren, angelegten Ohren und geplätteter Nase, wenn Sie mit grünen Augen, spitzerem Kinn  und gebotoxtem Teint in ihrer Wohnung stehen und in den Spiegel schauen, aus dem Ihnen ein mageres Wesen in A&F-XXXS (dank halb so grosser Hüfte) entgegengrinst. Wenn Sie sich dann überhaupt nicht mehr wiedererkennen, dann sollten Sie sich doch überlegen, was mit Veränderung gemeint sein könnte.
Die Geschichten von Herrn Keuner, Stufen und die Herren Goethe und Steiner könnte man doch so auslegen:
Was nutzt die neue Augenfarbe, wenn du eigentlich ausser deinen SMS nichts siehst?
Was nützt die neue Hünenform, wenn du der alte Giftzwerg bleibst?
Was nützt die XXXS-Grösse, wenn trotzdem von dir immer noch zu viel da ist?

Ab heute vielleicht einmal ein wenig denken, der IQ gehört übrigens auch zu den Unveränderlichen Merkmalen.
Einfach mal anfangen, ein wenig zu denken.
Denn jedem Anfang liegt ein Zauber inne

Montag, 11. August 2014

Nörgeln für Anfänger: 5 Regeln

Wenn ich alt bin, werde ich nur noch nörgeln.
Das wird ein Spass!
So ein Spruch auf einer Postkarte.

Aber Vorsicht!
Nörgeln will gelernt sein.
Richtig gutes Motzen, richtig gekonntes Meckern, Bruddeln, Beschweren, professionelles Wäffeln erfordert eine gute Ausbildung und langes Training.
Nicht die Alten sind die guten Nörgler, sondern Menschen, die ihr Leben lang gemotzt haben, die sind dann im Alter richtig gut. Ziegen können deshalb so toll meckern, weil sie schon als Geissen damit begonnen haben.

RR war so unglaublich gut im Schlechtmachen, Herziehen, Herumbruddeln, weil er sein Leben lang nichts Anderes tat. Michael Ende hat ihm im Sataalkolloischlügen… Satanlügenalkoll…, jedenfalls in diesem Buch, das kein Mensch aussprechen kann, ein Denkmal gesetzt: In der Figur des Büchernörgele, ein kleiner Gnom, der nur glücklich ist, wenn er pro Tag zwei bis drei Bücher benörgeln kann.
Frauen können keine Bücher schreiben.
Ich lese keine Bücher, in denen Bettenverkäufer vorkommen.
Das ist grossartig, das ist wunderbar, das ist Bruddeln auf höchstem Niveau.

Auch der Simon, der Titelheld von Tommy Jauds Millionär kommt durch stundenlanges Verweilen in den Beschwerdehotlines zu einer Meisterschaft:
Das Duschgel LIMETTE & APFEL riecht überhaupt nicht nach Limette.
Die Chips aus der kleinen Packung sind viel würziger als die aus der grossen.

Um Ihnen nun den Einstieg zu ermöglichen, habe ich mir die Erlaubnis eingeholt, aus dem im September erscheinenden Buch Der Weg zum guten Nörgeln von Steffen B. Schwär die
FÜNF GOLDENEN REGELN DES MECKERNS
hier abzudrucken.

Regel Eins
Meckern Sie ausschliesslich über Dinge, die schwer, wenn nicht gar überhaupt nicht veränderbar sind. Das Wetter ist hier natürlich Ausgangspunkt, es ist zu heiss, zu kalt, zu viel Regen, zu wenig Regen, dann aber arbeitet man sich über die DB, die Steuern und die Politiker zu Dingen wie die Krümmung von Bananen, die Krümmung der Erdoberfläche, die Geradheit der Wasserfläche oder die Zahl Pi vor.

Regel Zwei
Nörgeln Sie stets grundlos und ohne Anlass, motzen Sie bevorzugt in Situationen, in denen es niemand erwartet. Schauen Sie darauf, dass keiner eine Fluchtmöglichkeit hat. Besonders gut eignen sich hier Wartezimmer, Behördenflure, Kinosäle kurz vor der Vorstellung und natürlich der gesamte ÖV inklusive Flugzeuge. Sagen Sie also z.B. ganz laut im Grossraumabteil des ICE:
Dass die Scheissbananen immer so krumm sein müssen.
Das ist dann schon ziemlich gut.

Regel Drei
Stören Sie grundsätzlich Leute, die a) nicht gestört werden wollen und/oder b) gute Laune haben. Stören Sie z.B. mich, wenn ich morgens im Zug durch den sonnendurchfluteten Jura düse und meinen Post schreibe. Meckern Sie niemals, niemals bei Leuten, die gerade nichts tun und/oder schlecht gelaunt sind. Sie könnten der gleichen Meinung  sein und Ihnen beipflichten. Dann müssen Sie ganz schnell die Seite wechseln!!!
Ich meinte natürlich gerade, die Scheissbananen sind viel zu gerade.

Regel Vier
Ziehen Sie stets Vergleiche. Sagen Sie, dass das, was Sie bemeckern,  bemotzen,  benörgeln an anderem Ort und zu anderer Zeit besser ist oder war.
Früher heisst hier ein Zauberwort und in meiner Jugend.
Lokal unbedingt eine Örtlichkeit wählen, die da, wo Sie sind, extrem unbeliebt ist.
Sagen Sie also im Tram in Zürich:
In Basel sind die Bananen viel besser gekrümmt / nicht so scheisskrum, je nachdem.
Gut geht hier auch Köln und Düsseldorf.

Regel Fünf
Sollte es sich nicht vermeiden lassen, jemand zu involvieren, der mit der Sache zu tun hat, niemals den direkten Verursacher wählen. Motzen Sie also am Infostand über den Zustand der Toiletten, im WC über den Kaffee im Bahnhofscafé und im Bahnhofscafé über die Uninformiertheit der Infoleute. Meckern Sie den Koch wegen der Tischtuchflecken und den Kellner wegen der Suppe an.

So, nun mal schön üben, Sie haben ja bis zum Alter noch ein wenig Zeit.   

Freitag, 8. August 2014

Anette, du bist die Grösste!


Liebe Anette,

du bist grossartig, du bist wundervoll, du bist prächtig.
Du bist die Kaiserin der Glosse, die Königin der Satire, die Fürstin aller Humoristen und Kabarettistinnen. Du hast jeden Orden verdient, den wider den tierischen Ernst, die goldene Pflaume, die silberne Zitrone und die diamantene Banane. Man sollte alle Karnevalslieder und alle Büttenreden auf dich umtexten.
Anette, du bist ein Hammer!
Wer hätte gedacht, dass ich noch einmal über dich schreiben darf, wer hätte geahnt, dass du noch einmal eine Glosse ergibst, wer hätte vermutet, dass du auf alle deine Peinlichkeiten und Fettnäpfigkeiten noch eine draufsetzt? Wer hätte gedacht, dass du noch für einmal auf das Parkett der lustigen Geschichten aus aller Welt zurückkehrst?
Anette, ich liebe dich.
In deinem neuesten Lebenslauf schreibst du hinter deinen Doktortitel bis 2013.
Das ist grosses Kino, das ist ganz grosses Tennis.
Du reihst dich also ein in die Reihe von Persönlichkeiten, die degradiert wurden, denen Titel, Amt und Würde aberkannt und die zu normalen Menschen gemacht wurden. Wie z.B. der Baron de Framboises-aux-Chocolat, den die trikolorisierten Revolutionsgarden zur Abdankung zwangen und der sich fortan nur noch Bürger Erdbeere nennen durfte. Aber einen klitzekleinen Unterschied übersiehst du elegant, Anettchen: Der Baron de Framboises-aux-Chocolat WAR  wirklich Baron. Er war Baron, bis 1785 die Steine auf sein Schloss prasselten und auf dem Schlosshof die Marseillaise erklang. Du warst nie Doktorin, das beinhaltet die Annullierung deiner Arbeit.
Aber du wärst nicht die Königin der Glosse, würdest du dich um solche Feinheiten kümmern.

Die irrige Vorstellung, etwas gewesen zu sein, könnte ein ganz neues Krankheitsbild ergeben: Das Anette-Syndrom, ein Schawahnhaftes Erleben, ja ein Schawahnismus. Wer an ihm leidet, meint, er oder sie sei eine Zeit lang reich, schön, berühmt, promoviert, habilitiert, adlig oder Präsident gewesen.
So Bob „Schlimmfinger“ Bolle, der stets schreibt, er sei 1998-2003 Amerikanischer Staatsbürger gewesen: 1998 erhielt er seinen Pass, 2003 wurde ihm die sehr schlecht gemachte Fälschung abgenommen, als er zum ersten Mal versuchte, sie zu benutzen und in die USA einzureisen.
So Josef „Taunuskönig“ Schleicher, der schreibt, er habe 1995-20015 die Firma SCHLEICHER FLACHBAU besessen, die die ganzen zehn Jahre nur aus einem Briefkasten bestand.
So Dr. (ein echter, ein echter!!) Tupoldt Rumlinger, Chefkurator der Gemäldesammlungen der Stadt Hameln, der in jeder Presseverlautbarung immer noch äussert, das Museum habe 1997-2011 das Gemälde Mann mit Frettchen und Giesskanne von Rembrandt besessen. Mann mit Frettchen und Giesskanne wurde 2011 unter die Lupe genommen, weil keiner der Rembrandtexperten je von diesem Bild gehört hatte. Es entpuppte sich dann doch als sehr schlecht gemachtes Plagiat, vor allem weil der Fälscher das made in Taiwan auf der Plastikgiesskanne mit abgemalt hatte.
Alle drei, Bob, Josef und Dr. (echt) Rumlinger leiden an dem Anette-Syndrom, an der Schawahnhaften Störung.
Von allen Sportlern, die Weltmeistertitel hatten, wollen wir gar nicht reden.

Liebe Anette,
du bist doch jetzt an Ort und Stelle, wie wäre es, wenn du dich um etwas kümmerst, was dir nicht aberkannt werden kann: Selig- oder Heiligsprechung. Das Bild der Heiligen Jungfrau an deiner Schlafzimmerwand, eine heilende Quelle, Stigmata, irgendetwas  wird doch schon zu machen sein. Und ein Sancta vor deinem Namen kann nie mehr verschwinden.
Aber Vorsicht!
Eben weil  der Heiligtitel, der Seligzusatz nicht aberkannt wird, prüfen die schon genau. Die päpstliche Kommission ist ein anderes Kaliber als eine Gruppe deutscher Professoren. Anders formuliert: Im Gegensatz zu deutschen Unis, wo jeder Depp sich eine Promotion erschleichen kann, ist Rom ein strenges Pflaster. Versuche also nicht zu tricksen.
Oder nein, versuche es!
Ich freue mich schon auf die Titel:
SCHAVANS MARIA KAM VOM BEAMER
HEILWASSER GEGEN AKNE WAR CLERASIL
STIGMATA MIT REISSNÄGELN GEMACHT
Denn, liebe Anette, dann bleibst du die Königin der Glosse, die Kaiserin der Satire, ich will nämlich noch viele Posts über dich schreiben.

Keine ist  wie du.
Ich liebe dich.

  

 

Dienstag, 5. August 2014

Die schönsten Verleser

Ich erhebe Legasthenie zur Kunstform schreibt Sten Nadolny in seinem Erstling Netzkarte.
Immer wieder verliest er sich dort auf höchst amüsante Weise, allerdings ist das alles Fiktion.
Axel Hacke hat in seiner Trilogie des Weissen Neger Wumbaba Verhörer gesammelt, und zwar wirklich passierte. (Der Titel kommt von einem falsch gehörten Weissen Nebel wunderbar aus Der Mond ist aufgegangen)
Auch ich verhöre und verlese mich ständig und zwar nicht nur auf Reisen (ich bin wieder einmal, passend zu Nadolny mit einer Netzkarte durch die BuRePu unterwegs), sondern auch im Alltag.

Hier kommen meine schönsten Verleser:

MESSIESTADT
lese ich in Halle, und sofort stelle ich mir diese Situation vor, also nicht nur eine Stadt voller Messies, in der niemand eine Wohnung findet, weil alle Zimmer vollgemüllt sind, sondern auch eine Kommune, die alles aufhebt, in riesigen Hallen stapeln sich ausrangierte Ampeln der 60er, Plakate, die auf die Stadtfeste der Jahre 2001, 2002, 2003 hinweisen, alte Polizeiautos und Polizeiwaffen, sowie 1000 gesamte Aktensätze der Vorwendezeit. Ob es hier überhaupt einen Recyclinghof gibt??
Da merke ich den Fehler: Halle ist eine MESSESTADT

DREAMKUCHEN
lese ich in Allschwil. Da soll noch einer mal sagen, die Schweiz sei nicht tolerant. Scheinbar fertigt hier eine Grossbäckerei herrliche Kuchen und Torten, die nicht nur lecker schmecken, sondern einen auch sehr entspannen. Eine Firma für Spacecakes! Ich bin gerade dabei, mir die Mailadresse zu notieren, um für meinen Fünfzigsten eine Schokotorte und eine Zitronentorte zu bestellen, mit der Aufschrift Fifty Years Rolfing Stone, da entdecke ich, dass die Firma Herde, Kühlschränke und Arbeitsflächen herstellt und einbaut:
DREAMKÜCHEN

IRISCHE POMMES FRITES
lese ich am Frankfurter HBF und versuche mir auszumalen, was die Irischen Pommes von deutschen, holländischen und englischen unterscheidet. Es ist ja meist die Sauce. Während die Oranier Erdnusssauce draufkippen und in Liverpool Essig reingeschüttet wird, das Ganze zu Fisch dazu, gibt es bei den Teutonen Majo und Ketschup, Pommes Schranke. Was verwenden nun die Kelten? Die Flüssigkeiten, in deren Konsum sie den Weltrekord halten? Tee oder Whiskey? Gerade die Verbindung von Kartoffel und Hochprozent stelle ich mir sehr nett vor.
Alles Quatsch, es sind FRISCHE POMMES FRITES.

KEBAB SÄCKE
lese ich in Solothurn. Scheinbar ist der Kebab zu einem solchen Massenphänomen geworden, dass er auch massenweise abgegeben wird. Ähnlich der „Schläggsäggli“, in denen tonnenweise Süsskram wie Bonbons, Fruchtgummi und Schoggi gefüllt wird und die man teilen oder alles allein aufessen kann, Letzteres mit Bauchschmerzgarantie, füllt man hier also riesige Säcke mit Döner Kebab. Auch hier kann man teilen oder die 15 Kebab alleine essen, auch hier mit Bauchschmerzgarantie. Während ich mich noch frage, ob da dann nicht im Sack alles durcheinanderfällt und man eigentlich einen Matsch aus Fleisch, Gurken, Tomaten und Brot kauft, mit Alles und mit Scharf, merke ich, dass es Säcke der KEhrichtBeseitigungsAG

MIT HEIDNISCHEN ZUTATEN GEBRAUT
lese ich in Freiburg. Nun weiss ich, warum ich kein GANTER mag. Die kippen da allerlei Hexenkraut, Teufelszeug und Odinsmilch rein. Wahrscheinlich treffen sich die Braumeister alltäglich um Mitternacht um die Hefe und das Malz mit Blut und Schwefel zu verrühren und unter Absingen von Gesängen, die die Gottheiten der Kelten und der Germanen preisen, das Pils und das Export zum Aufwallen, Überkochen und Überschwappen bringen. Nun weiss ich warum ich kein GANTER mag.
Ein zweiter Blick belehrt mich des Besseren:
Das Bier in Freiburg wird mit HEIMISCHEN Zutaten gemacht.

SCHUSSSIGNAL
lese ich in Lindau am Bahnhof. Finde ich schön, dass jetzt in Deutschland die Abfahrt und Ankunft der Züge mit einem kräftigen Böllerschuss angezeigt wird, da kein Zug pünktlich an- oder abfährt, ist hier doch Abhilfe geboten. Oder werden nun doch - wie schon angekündigt - die Raucher abgeschossen, wenn sie den Smokersbereich verlassen? Da sehe ich: Es ist das Schusssignal der ÖBB. Wieso dürfen jetzt die Aussies in der BRD rumschiessen?
Alles falsch, es ist ein SCHLUSSSIGNAL

PIAZZA BRA
lese ich in Verona. Ein Platz in der Form eines BHs, eines Büstenhalters, oder eine Piazza, auf der man besonders schöne und wohlgefüllte BHs sieht?
Nein, ich habe mich gar nicht verlesen: Ein Schild klärt mich auf: Bra kommt von einem alten norditalienischem Wort und das Ganze heisst so viel wie: Grosser Platz. An diesem Ort steht übrigens auch die weltberühmte Arena.


In diesem Sinne: Allen eine frohe restliche Reisezeit.
Und:
Mögen Sie sich oft verlesen.
Es macht viel Spass.
 

   

Freitag, 1. August 2014

Welcher war der Nacktpost?

Liebe Onliner,

heute kommt die Auflösung der entscheidenden Frage:
WELCHES WAR DER NACKTPOST?
Hier noch mal zur Erinnerung die Liste der Juli-Einträge:

Schleswig-Holstein, das Appenzell / die Basilicata / das Panama Deutschlands 
Bin ich unsichtbar?
Liebe LuL
Die Schwimmbad-Rumsteher
Agentin ihrer Majestät
Ist 7:1 ein wirklich h(y)sto(e)risches Ereignis?
Suárez lehrt uns beissen
Der versteckte Zwangswunsch

Nun, welchen Post habe ich unbekleidet geschrieben, nackt, im Adamskostüm, ohne irgendeine Faser am Leib? Wirklich den mit den jungen Männern, die in der Badi ihre schönen Körper präsentieren müssen? Wäre das Logischste, gell?
Oder war es einer der WM-Beiträge? Vielleicht der Biss-Post, bei dem ich mir die aggressiven Zahnattacken an meiner nackten Haut vorgestellt habe? Oder der 7:1-Post, denn hier wurden den Brasilianern ja die Hosen ausgezogen und sie quasi nackt gemacht?
Oder war es …?
Ja, welcher?

Hier kommt nun die Lösung:
Der nacktgeschriebene Post war …(Trommelwirbel)

BIN ICH UNSICHTBAR?

Haben sicher nicht alle erwartet.
Bitte, bitte, versuchen Sie jetzt nicht irgendwelche Assoziationen zu finden wie z.B. die Salatgurke in der ersten Zeile oder sonst einen Blödsinn. Es ging ja auch gar nicht nur um Inhalte, sondern auch um Stil. Nein, wir müssen ganz lapidar und schlicht festhalten:

DER STIL EINES TEXTES IST NICHT DAVON ABHÄNGIG, WELCHE KLEIDUNG DER/DIE SCHREIBENDE TRÄGT ODER NICHT TRÄGT.

Es ist egal, ob Sie eine Novelle im Schlafanzug oder im Smoking schreiben, es ist egal, ob Sie nackt oder in der Badehose dichten, es ist wurscht, ob ihr Drama in der Badewanne, im Bett, am Schreibtisch oder im ICE entsteht.

Und wissen Sie, warum?
Gewöhnung.
Lassen Sie mich kurz von meiner Erfahrung mit dem Nacktschreiben berichten. 
Ich kam in mein Hotelzimmer in Kiel, packte meine Sachen weg, zog mich aus und setzte mich auf mein Bett. Da ich frisch vom Strand kam, war mein Körper noch warm von der Sonne und duftete nach Meer, sprich, ich fühlte mich sehr wohl, das muss wohl gesagt werden, wäre ich verschwitzt und stinkend von der Arbeit gekommen, wäre das anders gewesen, da hätte es vielleicht erst eine Dusche gegeben. Ich klappte meinen Laptop auf und startete ihn. Ich begann zu schreiben. Die ersten Minuten waren sehr ungewohnt. Dann aber richtete sich meine Aufmerksamkeit immer mehr weg von meinen nackten Lenden zum Bildschirm und zum Text.

Wir gewöhnen uns.
Wir gewöhnen uns an die Kleidung, die wir anhaben, und wir gewöhnen uns an die Kleidung, die wir nicht anhaben. Wir gewöhnen uns an den Regen und wir gewöhnen uns an die Sonne, an Wärme, an Kälte, an Geräusch, an Stille, an Enge, an Weite.
Wir gewöhnen uns an das scheussliche Kränzchen, das die Nachbarin an ihre Wohnung hängt und an den Gartenzwerg beim Haus nebenan.
Wir haben uns sogar an den Euro und - halten Sie sich fest -
an Angela Merkel gewöhnt.
Wenn dem nicht so wäre, würden wir ja wahnsinnig werden.
Nein, wenn wir eine Krawatte anhaben, dann denken wir doch nicht den ganzen Tag: Ich trage einen Schlips, ich trage einen Schlips, ich trage einen Schlips. Genauso werden Sie, wenn Sie ein paar Stunden nackt in der Wohnung herumlaufen, versuchen, sich etwas in die Tasche zu stecken, weil Ihnen Ihre Blösse gar nicht mehr bewusst ist.

Schlimm sind Uniformträger, bei denen diese Gewöhnung nicht funktioniert. Die Uniform ist ja ein Zeichen für andere, der Träger sollte sie nicht mehr bemerken. Wer jetzt also den ganzen Tag herumstolziert im Bewusstsein ICH TRAGE EINE UNIFORM wird ein Zeitgenosse der schlimmeren Sorte.
Wir gewöhnen uns also an die Situation und das künstlerische Produkt ist davon ausgenommen.
 
Aber ganz ehrlich gesagt, Spass gemacht hat es, das Nacktschreiben, vielleicht mache ich das doch öfter. 

 

 



 
 



















































 
 

 





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