Dienstag, 30. Mai 2023

Tina Turner und der Lauf der Zeit

Der Tod von Tina Turner hat mir (wieder einmal) gezeigt, wie die Zeit vergeht und wie alt ich bin.

Im Sommer 1984 hatten wir das Abitur in der Tasche. Solche Zeiten NACH etwas (Schule) und VOR etwas (Zivildienst, Militär, Lehre, Studium) sind ja immer besondere Zeiten. Man fühlt sich frei und stark und unbesiegbar, das Leben liegt vor einem und nichts kann einen aufhalten.
Wir feierten diesen Sommer mit einer Reise nach Südfrankreich, bei der wir auf der Hin- und Rückfahrt Städte der Provence anschauten und in der Mitte eine Woche in Argelès-sur-Mer (Languedoc-Roussillon) zum Baden waren.

Ich will jetzt nicht zu offen aus der Schule plaudern, aber es waren Leute dabei, die Sie kennen könnten, der eine (damals junge) Mann ist heute ein anerkannter Wirtschaftsexperte, war Wirtschaftsweiser und ist heute bei einer Bank in Frankfurt und immer wieder einmal im Fernsehen zu sehen, die andere (damals junge) Dame ist heute hochrangige Politikerin in Baden-Württemberg.

Jedenfalls: Wir waren zu 15 und fuhren mit vier Autos (darunter zwei Enten) durch den französischen Süden. Und hörten Musik bei offenen Autofenstern.

Und jetzt kommt Tina ins Spiel.

Am 22. Mai 1984 war «Private Dancer» auf den Markt gekommen, das legendäre Comeback-Album von Frau Turner, das ausser dem Titelsong so wunderbare Nummern wie «What´s Love Got to Do with It?» und «I Can`t Stand the Rain» enthielt.
Wir hatten die Musikkassette im Auto und hörten sie quasi in Dauerschleife. Und wenn dann die Stelle kam, wo es hiess:

It's physical
Only logical
You must try to ignore that it means more than that

Dann holten wir tief Luft, ganz, ganz, ganz tief Luft und schrien und grölten mit:

… OH OH
WHAT'S LOVE GOT TO DO, GOT TO DO WITH IT?
WHAT'S LOVE BUT A SECOND HAND EMOTION?


Wahrscheinlich können Sie sich jetzt keine grölenden und schreienden Bankiers und Politikerinnen vorstellen, aber so war es.

Das alles ist nun lange, lange her.
Die Enten (für Spätgeborene: Citroën 2CV) gibt es seit dreissig Jahren nicht mehr, auch die Kassette hat irgendwann der CD und dann den rein digitalen Formaten Platz gemacht.
Selbst die Region Languedoc-Roussillon existiert nicht mehr, sie ging zusammen mit der Region Midi-Pyrénées in der neuen Region Okzitanien auf.
Wir fünfzehn Leute haben uns alle irgendwie mehr oder weniger aus den Augen verloren.
Tina Turner hörte irgendwann auf und machte eine Abschiedstournee – und zog in die Schweiz, merkwürdigerweise in das gleiche Land wie ich…

Und nun ist die grösste Popsängerin aller Zeiten gestorben.

Und mir wird auf merkwürdige Weise bewusst, dass man alt geworden ist und dass das Leben nicht endlos ist.
Nun werden Sie einwenden, dass das Binsenweisheit ist und dass man das ja immer wissen müsste. Gut, einverstanden, ja, Sie haben (wie immer) Recht. Aber es sind halt stets so spezielle Punkte, an denen einem ein Memento Mori entgegenschlägt:
Wenn z. B. alte Fotos betrachtet werden und eine Freundin sagt zu mir: «Du warst ein schöner junger Mann» und natürlich damit meint, heute ist man weder jung noch schön. (Ist neulich wirklich passiert.)
Wenn Schülerinnen und Schüler erzählen, wie wenig sie am Wochenende geschlafen haben und ich überlege, dass ich in diesem Alter auch ohne Schlaf auskam (zum Beispiel im Frühsommer 1984, ich hatte das Abitur in der Tasche und fühlte mich frei und stark und unbesiegbar, das Leben lag vor einem und nichts konnte einen aufhalten…)
Wenn man an Orte reist, an denen man lange nicht war.
Wenn man alte Bekannte trifft und merkt, wie alt die geworden sind (und genau weiss, dass die genauso über einen denken.)

Oder eben jetzt, als die Nachrufe von Tina Turner über die Bildschirme flimmerten. Ich war auf einmal vierzig Jahre neben der Zeit und grölte innerlich mit:

… OH OH
WHAT'S LOVE GOT TO DO, GOT TO DO WITH IT?
WHAT'S LOVE BUT A SECOND HAND EMOTION?




 

 

 

Freitag, 26. Mai 2023

Der Mega-Feiertag

Ich hatte nach dem letzten Post einen ganz verrückten Traum:
In diesem Traum hatte ein neoliberales Regime aus Spargründen alle Feiertage des Frühlings zusammengelegt; aus Ostern, Erster Mai, Himmelfahrt, Muttertag und Pfingsten wurde der Mega-Day «Erster Pfongster-Himmeltag».

Schweissgebadet wachte ich auf und grübelte über dieses Zusammentreffen nach. Vor allem grübelte ich darüber, welche Daten aufeinander fallen könnten. Um es gleich zu sagen: Es sind nicht sehr viele.
Die Sonntage Ostern und Pfingsten können aufgrund ihrer Berechnung (Pentecosta = 50 Tage) natürlich nie zusammenliegen, ebenso Himmelfahrt als Donnerstag 10 Tage vor Pfingsten.
Der 1. Mai als flexibler Tag könnte nur mit Himmelfahrt zusammenfallen, denn Ostern ist spätestens am 25. April und Pfingsten frühestens am 10. Mai.
Der Muttertag ist der zweite Sonntag im Mai, kann also nie am Ersten Mai sein, aber er könnte an Pfingsten sein.
Es gibt also gar nicht so viele Möglichkeiten.

Ich hatte nach dem letzten Post einen ganz verrückten Traum:
In diesem Traum hatte ein neoliberales Regime aus Spargründen alle Feiertage des Frühlings zusammengelegt; aus Ostern, Erster Mai, Himmelfahrt, Muttertag und Pfingsten wurde der Mega-Day «Erster Pfongster-Himmeltag».

Wie würden wir einen solchen absurden Feiertag begehen?
Nun, da die meisten Leute sowieso nicht mehr an irgendwelche religiösen Dinge glauben, sind die Rituale für Himmelfahrt und Pfingsten eh nicht klar.
Die Bewohner des Kantons Baselland haben an Auffahrt (so sagt man in der Eidgenossenschaft) ein eigenes Brauchtum: Sie laufen die Gemeindegrenzen ab. Was früher notwendige kartographische Kontrolle war (Haben die bösen Nachbarn vom anderen Dorf etwa den Grenzstein versetzt?) ist heute einfach Volksfest.
Aber Pfingsten?
Vielleicht könnte man den «Erster Pfongster-Himmeltag» so begehen: Die Mutter muss ihren Blumenstrauss selber zusammensuchen, währenddessen singen alle «Brüder, zur Sonne, zur Freiheit». Oder auch anders.

Die meisten Festivitäten haben ja eh nur noch ein einziges Ziel: Alkohol trinken.
Glauben Sie mir nicht? Es fällt Ihnen nicht auf, mir fällt es seit letztem Jahr auf. Nach dem Ostergottesdienst gibt es einen Apéro und zum Essen dann auch, und hinterher einen Schnaps, während die Kinder die Eier suchen, am Ersten Mai, nach der Demo ein Bier, usw. usw. usw.
Würde jetzt am «Erster Pfongster-Himmeltag» der Alkoholkonsum zusammengelegt? Dann hätten wir aber Tausende von Schnapsleichen…

Ich hatte einen absurden, verrückten und widersinnigen Traum, in dem alle Frühlingsfeiertage zu einem Riesenevent zusammenfielen, einem Total-Feiertag.

Bemerke ich jetzt gerade bei einigen Chefs ein gewisses Wohlwollen für diese Idee? Könnte ich verstehen, wenn sie in einer Branche arbeiten, in dem die Auftragsbücher voll sind und die Zeit drängt. Wenn Sie in Deutschland zum Beispiel Wärmepumpen einbauen oder Häuser isolieren. Dann könnten Sie bis zur CO2-Neutralität rund um die Uhr arbeiten. Ganz böse gesagt: Wenn Sie 2024 an einem Herzinfarkt sterben, dann stossen SIE garantiert kein CO2 mehr aus. Das ist sicher.

Generell aber müsste man doch mehr Feiertage bekommen und nicht weniger, denn die Arbeit wird ja in 20 bis 30 Jahren zu einem Teil von Androiden übernommen. Oder ich liege da falsch und die KI (oder AI) begreift irgendwann den Sinn von Ostern, Erster Mai, Himmelfahrt, Muttertag und Pfingsten. Und will dann auch frei. Was aber macht ein Androide in seiner Freizeit? Spielt er Golf? Spielt er Schach? Geht er spazieren? Geht er ins Freibad? Singt er im Chor? Oder ist nicht alles langweilig, weil er (er?) oder sie (sie?) ja perfekt ist, weil er natürlich jedes Golfloch trifft und beim Schach eine Milliarde Züge im Voraus berechnet.
Nein.
Wahrscheinlich brauchen die Roboter nicht frei und wird haben noch viele, viele, viele, viele zusätzliche Feiertage, also keine Zusammenlegung, sondern Hinzufügung. Warum nicht Mariae Verkündigung oder Mariae Empfängnis feiern? Warum nicht den Tag der Heiligen Barbara? Lichtmess? Den Berchtoldstag? Peter und Paul?
Sie lachen vielleicht, aber das waren alles einmal Feiertage. Die Abschaffung haben uns die Reformatoren beschert. Und haben damit den westlichen Kapitalismus begründet.

Ich hatte nach dem letzten Post einen ganz verrückten Traum:
In diesem Traum hatte ein neoliberales Regime aus Spargründen alle Feiertage des Frühlings zusammengelegt; aus Ostern, Erster Mai, Himmelfahrt, Muttertag und Pfingsten wurde der Mega-Day «Erster Pfongster-Himmeltag».

Und dabei bräuchten wir doch mehr freie Tage. Wir müssten Sie nur richtig benennen.

Warum feiern wir nicht den 4. September? Das wäre der Jahrestag des ersten Posts. Das wäre doch würdig…

Dienstag, 23. Mai 2023

Ach ja, der Muttertag!

Ach ja,…
Der Muttertag…
Wir haben gar nicht über den Muttertag gesprochen.

Wobei das jetzt ein wenig eine blöde Aussage ist, denn Sie haben ja gar keinen Einfluss darauf, was wir hier erörtern, disputieren und diskutieren. Wenn ich also hier von «wir» rede, dann ist das fies, weil Sie ja vielleicht etwas anderes als ich erörtern, disputieren und diskutieren wollen und Sie sehr wohl den Muttertag erörtern, disputieren und diskutieren wollten. Aber lassen wir das.

Der Muttertag also.
Mein Partner und ich haben den Muttertag dieses Jahr nur an einem Ort zu spüren bekommen, unsere beiden Mütter sind lange tot, wir merkten es an anderer Stelle.
Wir waren am 14. Mai in einem Konzert im Basler Stadtcasino, in dem das Orgelkonzert von Poulenc aufgeführt wurde, ein Werk, das ich liebe wie kaum ein anderes und auch schon selber dirigiert habe. Beim Ausgang wurde von reizenden Kindern an die Mütter – es war ja Muttertag – ein Geschenk abgegeben. Wir bekamen keines.
Nun kann man sich natürlich fragen, wie die reizenden Kinder an den Ausgängen wissen konnten, wer Mutter ist und wer nicht. Die klare Antwort ist: Sie wussten es nicht. De facto bekam jede Frau ein solches Geschenk. (Es war ein Schokoladenherz.) Jede Frau kann ja Mutter sein. Auch die Grossmütter und Urgrossmütter, denn auch die waren ja einmal Mütter…

Der Muttertag also.

Der Muttertag ist ein Tag zu Ehren der Mutter und der Mutterschaft. Er hat sich seit 1914, beginnend in den Vereinigten Staaten, in der westlichen Welt etabliert. Im deutschsprachigen Raum, den USA und anderen Ländern wird er am zweiten Sonntag im Mai gefeiert. Im Vereinigten Königreich wird hingegen der vierte Sonntag in der Fastenzeit als Muttertag begangen.
(so Wikipedia)

Die Feier zu Ehren der Mutter setzt sich in den 20er Jahren durch.
In Deutschland geschieht das im Jahr 1923, deshalb kann man in der BRD «100 Jahre Muttertag» begehen. In der Schweiz ist man 7 Jahre später dran. Da der Muttertag kein offizieller Feiertag ist – das Schenken ist ja auch freiwillig – gab es KEINE Volksabstimmung, KEIN Referendum und KEINEN Urnengang.

Der Mother`s Day wird – das ist kein Witz – vor allem von den Gärtnern, Floristen und Blumenhändlern propagiert.
Das ist – obwohl es kein Witz ist – natürlich trotzdem lustig. Es ist lustig, wenn die, die am meisten profitieren, eine Sache vorantreiben und dann rufen können: «Wir waren es nicht».
Das ist so wie bei Nessie: Das Ungeheuer in dem sagenumwobenen See in Schottland, das Monster, das noch niemand traf, das Tier der Urzeit wurde angeblich zum ersten Mal von einem Hotelier gesichtet. Mehr muss man dazu nicht sagen…

In Deutschland also 100 Jahre und es ist interessant, dass 1923 sonst ein Katastrophenjahr war: Inflation, Marsch zur Feldherrnhalle, hohe Arbeitslosigkeit und Separistenversuche. Und da war es natürlich angebracht, Inflation, Marsch zur Feldherrnhalle, hohe Arbeitslosigkeit und Separistenversuche mit einem schönen Blumentag zu kaschieren. Ja, und als später die hohe Arbeitslosigkeit und alle Separistenversuche erledigt wurden, da konnten sich die neuen Herren natürlich des Muttertags bedienen. Was dem Tag in der BRD die ganze Zeit so ein Gschmäckle verliehen hat.

Muttertag.
Für die meisten Mütter ja ein Albtraum. Denn manche Kinder schenken ja nicht einfach Blumen oder Schokolade. Nein: Sie «machen das Frühstück». Und wüten dafür in der Küche, wenn frau Glück hat, dann geht nix kaputt und geht nix zu Bruch, es gibt nur Sauerei. Jedenfalls muss jede Mutter – nachdem dem sie ein paar Male den Satz gesagt hat, wie schön das sei, dass sie diesen Sonntag nix tun muss – dann sehr, sehr, sehr, sehr, sehr lange die Küche aufräumen. Wenn die Mutter ganz besonderes Pech hat, haben die Kinder einen Kuchen gebacken und die eingetrockneten Teigreste sind nur mit dem Spachtel wegzubekommen.

Ich habe ja mit dem Muttertag ein spezielles Erlebnis: Wir mussten in der Grundschule den Text von einem Lied aufschreiben und mit Blümchen verzieren:

Liebe Mutter, liebe Mutter,
wir bringen dir heut
ein Lied und ein Blümchen,
ein Herz voller Freud.

Liebe Sonne, liebe Sonne,
schein hell und schein klar!
Und schenke der Mutter
ein fröhliches Jahr!

Kurz vor der Übergabe merkte ich, dass ich einen Schreibfehler gemacht hatte und flickte einen Buchstaben ein. Das wäre jetzt nicht so schlimm gewesen, wenn meine Mutter das Blatt nicht aufgehängt hätte – zum Glück nur in einem ganz privaten Bereich.
Erzengel, wo warst du?

Hatten Sie eigentlich einen schönen Muttertag? Wenn Sie Glück hatten, dann haben Ihre Kinder KEIN Frühstück gemacht und Sie waren in dem Konzert im Stadtcasino.
Nicht wegen des Geschenkes – der Poulenc war nämlich richtig gut…



 

 

      

 

Freitag, 19. Mai 2023

Namen verwechseln?

Sicher kennen Sie Dialoge wie diesen:

«Hast du mitbekommen, dass der Schäublin aus Human Resources schwul ist?»
«Der Urs Schäublin?»
«Ja, genau der.»
«Schäublin mit ä und u?»
«Genau.»
«Der ist nicht schwul, ich hätte kein Problem damit und du – hoffentlich! – auch nicht, aber der Urs Schäublin mit ä und u aus der HR ist nicht schwul.»
«Aber, ich bin neulich durch Binningen gefahren und der kommt mit einem Mann aus dem Haus und die verabschieden sich mit Kuss. Mit Zungenkuss, nicht mit Bruderkuss.»
«Schäublin wohnt aber nicht in Binningen, der wohnt in Muttenz. Mit seiner Freundin.»
«Aber…»
«Aber…»



Sie ahnen es längst: Es gibt in der Abteilung Human Resources, obgleich sie nur 40 Nasen zählt, zwei Urs Schäublins.
Fiktion? Natürlich. Aber möglich? Durchaus.

In einer Basler Primarschule haben Sie Probleme, wenn Sie die Schulleiterin sprechen wollen und nur den Nachnamen wissen. Beide heissen gleich, und obwohl es vom Namen vier Schreibweisen gibt, werden Sie auch gleich geschrieben. Allerdings unterscheidet sich ihr Vorname…

Es gab im Raum Basel zwei Kirchenmusiker gleichen Vor- und gleichen Nachnamens, allerdings einen katholischen und einen evangelischen. Der eine nahm dann noch den einen anderen familiären Namen als Doppelnamen-Teil dazu, weil die beiden mehrere Stunden pro Woche damit beschäftigt waren, falsch angekommene Post, Mails und Anrufe auszutauschen.

Besondere Schwierigkeiten scheinen ja Briefträger zu haben. Wenn ein Horst Schmid im Haus 34 und ein Horst Schmid im Haus 36 wohnt, dann ist es immer so, dass die Hälfte der Post falsch landet, obwohl die Adresse ja different ist, das Gleiche passiert bei einem Horst und einem Hans Schmid im gleichen Haus. In Stuttgart sahen wir einmal das folgende Schild:

LIEBE POST! WENN NOCH EINMAL DIE POST FÜR CLAUDIA MEIER AUS HAUS 2 IN UNSEREM BRIEFKASTEN LANDET, DANN WERDEN WIR UNSEREN RECHTSANWALT EINSCHALTEN. UNSERE GEDULD IST AM ENDE.
ROBERT UND CLAUDIA MEIER (HAUS 8)

Da musste sehr viel Genervtsein vorausgegangen sein.

Interessant ist es aber auch, wie oft man angesichts solcher Namensgleichheit an einander vorbeiredet, wenn nur der Nachname und die Profession gleich ist.

So lese ich zum Beispiel, dass sowohl das Kunstmuseum Basel als auch die Fondation Beyeler Videos in Anderson-Ästhetik veröffentlicht haben. Ich habe dann grosse Schwierigkeiten, mir das vorzustellen. Ist das nicht ein wenig Anti-Werbung? Der Film Eine Taube sitzt ist auf einem Zweig und denkt über das Leben nach beginnt in einem Museum, in einem Naturkundemuseum, in dem alles altbacken und verstaubt ist, der Teppich, die Wände, die Glaskästen mit ausgestopften Tieren. Ein gelangweiltes Paar schlendert dort durch den Raum. Das soll Werbung sein? Ich brauche eine Weile, bis ich kapiere, dass hier WES AnderSon (Grand Budapest Hotel) und nicht der skurrile Schwede ROY AnderSSon gemeint ist.

Wenn – um ein weiteres Beispiel zu nennen – vom Schriftsteller Walser die Rede ist, kann es auch zu Verwechslungen kommen. Wobei es eigentlich klar sein müsste: Robert Walser war ein Genie und Martin Walser war es nicht, Robert hat geniale Bücher verfasst und Martin hat es nicht, aber das ist vielleicht eine andere Geschichte.

Die einfachste Sache wäre nun doch, das weltweit zu vereinheitlichen.
Erschrecken Sie nun nicht: Wir haben meterlange IBAN und kilometerlange IP-Adressen, aber eigentlich würden 7 Zeichen genügen, um jeden Menschen zu erfassen. (26 Buchstaben, 9 Ziffern, 4 Operationszeichen gibt 40 Zeichen, hoch 7 sind das über 100 Milliarden).
Also:
In Zukunft werden Dialoge so beginnen:
«Hallo, 98uz //4»
«Hallo, hg44 7-k»
«Hast du mitbekommen, dass gf7+ z*u aus der HR schwul ist?»
«Natürlich, der ist doch mit t**6 if5 aus dem Marketing zusammen»

Schöne neue Welt.
Aber nun die Bitte: Dann nicht mehr handschriftlich schreiben, nur noch per PC oder App.

Sonst kommt es vielleicht bei il/l i/l und bei //li l/i und bei ii// l/l doch zu Verwechslungen…

Dienstag, 16. Mai 2023

Ein wenig Planung, bitte!

Am letzten Samstag haben wir eine schöne Erledigungs-Tour gemacht.
Ich hatte beim besten Optiker der Region eine Brille abzuholen. Der beste Optiker der Region residiert in einem Vorort von Basel, den man bequem mit dem Tram erreicht. Gleichzeitig hatte ich bei meiner Stammbuchhandlung Bücher bestellt, die ich auch abzuholen gedachte. Meine Stammbuchhandlung ist in einem Teil von Basel, der jenem Vorort nicht zu unfern liegt. (Das war jetzt schön ausgedrückt.) Da der beste Optiker der Region samstags um 15.00 und meine Stammbuchhandlung um 16.00 schliesst, lag die Tour fast klar: Mit dem Tram zur Brille und dann zu Fuss zu den Büchern. Und dann mit einem anderen Tram wieder heim.

Nun rief meine Schwägerin an und sagte, sie bringe uns noch Blumen vorbei, die bei ihr einem Gemüsebeet weichen müssten. Allerdings sollten wir uns um einen Topf kümmern. Nun liegt ein grosser Bau- und Gartenmarkt, der BUJOM®, nicht zu unfern (schön, gell?) des Optikers. Allerdings spaziert man nicht gerne mit einem Grossblumentopf in der Hand, also wurde die Tour modifiziert:
Mit der Strassenbahn zum besten Optiker der Region.
Zu Fuss zum BUJOM®.
Mit Bussen (einmal umsteigen) zur Stammbuchhandlung.
Mit dem Tram heim.
(Der BUJOM® – das wäre noch zu sagen, schliesst wie die meisten Baumärkte samstags um 18.00, änderte also nichts an der zeitlichen Reihenfolge.)

Als ich am Sonntag einem Kollegen von dieser Tour erzählte, war er völlig angefüllt mit Bewunderung: «Du kannst immer so planen! Wahnsinn!». Ich gab zu bedenken, dass es ja gar nicht so viel zu planen gab, da ja Orte und vor allem die Öffnungszeiten feststanden. Aber der Kollege blieb bei seinem Ausruf: «Du kannst immer so planen! Wahnsinn! Du kannst immer so planen! Wahnsinn! Du kannst immer so planen! Wahnsinn!»

Gut, ich stelle mir vor wie der Kollege – nennen wir ihn Hapf – es gemacht hätte. Hapf hätte schon grundsätzlich einmal sich nicht nach den Öffnungszeiten erkundigt. Wobei «erkundigt» hier schon hochgestochen ist, das sind ein paar Klicks, allerdings ein paar Klicks, die man machen muss. Hapf hätte dann im Baumarkt begonnen, hätte dann den Riesentopf zur Buchhandlung geschleppt, hätte dann von Y., der Buchhändlerin, die auch Kundin des besten Optikers ist, erfahren, dass dieser in 30 Minuten schliesst und wäre 14.59 in einem Hechtsprung in den Laden geschossen. Man könnte fast sagen «hineingehapft.»

«Du kannst immer so planen! Wahnsinn!»

Warum fällt es so vielen Menschen so schwer ein wenig Planung an den Tag zu legen? Oder warum finden so viele Menschen planen extrem uncool? Häufig habe ich die Diskussion bezüglich der Ferien geführt. Hapf – um hier mal irgendein Beispiel zu nehmen – fuhr in eine Kleinststadt, die Bern nicht unfern liegt. (Ganz schön, nicht wahr?). Natürlich hatte er sich in keiner Weise über die Topographie des Ortes informiert, das macht er grundsätzlich nicht, er «lässt sich treiben», denn «man sieht immer etwas Interessantes». Nun, in jener Kleinstadt lief Hapf zwei Stunden durch ein Industriegebiet, eine Wohnsiedlung und einen Feuchtacker. Den historischen Kern mit gotischer Kirche und Wasserburg sah er nicht, denn für Gotik und Wasserburg hätte es ein wenig Planung (also 10 Minuten Google Maps) gebraucht, das hätte einen dann von Industriegebiet, Wohnsiedlung und Feuchtacker ferngehalten.
Übrigens halte ich sehr viel von «mich treiben lassen», aber eben in der wunderschönen Fussgängerzone und nicht zwischen Metalldepots und Matschackern.

«Du kannst immer so planen! Wahnsinn!»

Hapf freut sich auf die Meta-Welt. Im neuen virtuellen Universum wird es keine Planung mehr brauchen. Oder doch? Wird der beste Optiker seinen virtuellen Laden dann komplett seinem Avatar überlassen oder immer noch selber online sein? Wenn ja, dann wird der virtuelle Hapf eben auch im Metaverse vor einem (virtuellen) Schild stehen:
SORRY – WIR SIND MORGEN WIEDER FÜR DICH DA.
Wird die Stammbuchhandlung dann 24 Stunden offen sein oder wird auch im Metaverse eine Tür da sein, die man schliessen kann?
Wir werden sehen.

Ich habe jedenfalls einen sehr entspannten Samstag erlebt, eben dadurch, dass ich 15 Minuten ganz unentspannt eine Planung durchgezogen habe.

P.S.
Dieser Post ist am Sonntagmorgen entstanden. Hapf wäre natürlich am Montag um 23.00 eingefallen, dass am nächsten Tag Dienstag ist…

P. P. S.
Ich danke Hartmann von Aue für das schöne Zitat:
Ez ist ein wälhischez lant
Equitânjâ genant,
und lît dem mere unverre

 

 

 

 

   

Freitag, 12. Mai 2023

Die Cantica

Sie werden sich vielleicht ob der Verwendung eines Canticums gewundert haben.

Ach, Sie wissen gar nicht, was ein Canticum ist?
Ein Canticum ist ein Lobgesang, und zwar im engeren Sinne einer drei «offiziellen» Lobgesänge von Hannah, Maria oder Simeon (wobei Maria bei Hannah geklaut hat) Die Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?) von Maria und Simeon sind bekannt, weil sie tausende Male vertont wurden: Das Magnificat und das Nunc dimittis.

Diese Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?) bilden den Abschluss einer Vesper. Nun wissen Sie vielleicht auch nicht so genau, was eine Vesper ist. Ich dachte auch lange, dass ein Vespergottesdienst eine Messe ist, bei der gegessen wird. Ich wurde aber dann jedes Mal enttäuscht. Es gab weder Wurst noch Brot. Eine Vesper ist eine der klösterlichen Gebetszeiten, nämlich die vor Sonnenuntergang, hat also umgekehrterweise doch etwas mit Essen zu tun, aber das Vespern kommt von der Vesper und nicht umgekehrt…
Eine Vesper besteht – ganz grob gesagt – aus Psalmen und schliesst mit einem Canticum. Die bekannteste ist sicher die Marienvesper von Monteverdi (kennen Sie: Daaa – dadldidl dam da dam da dam da dam da daaaa…).

Nun wundern Sie sich noch mehr.
Sie wundern sich ob der Verwendung eines Canticums im letzten Posts und ob meiner profunden Kenntnisse über Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?)
Gut, dann muss ich Ihnen jetzt die Geschichte von der «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» erzählen.

Die «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» war ein Ereignis.
Sie fand um 16.30 statt, ging ein halbe Stunde und wurde mit dem Turmblasen vorm Turm (der grössten Kirche der Stadt) beendet. Die Einwohnerinnen und Einwohner strömten aber schon um 16.00 in die Bänke, denn sie kamen von ihren samstäglichen Einkäufen und freuten sich nun auf eine halbe Stunde Zuhören, Singen, Beten und Kurzpredigt. Um 16.20 war die grösste Kirche der Stadt berstend voll.

In die «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» eingeladen zu werden, war gar nicht so einfach, Chöre mussten schon einmal zwei Jahre auf einen Termin warten. Und dann gab es hammerharte Bedingungen: Das erste Lied musste sich auf den Bibeltext der Woche, heisst also den vom letzten Sonntag, beziehen, wenn man mit seinem Chor auch am folgenden Sonntag in der eigenen Kirche auftreten wollte, dann konnte man eigentlich nicht das gleiche Stück singen. Das zweite Stück musste (und hier waren die Verantwortlichen absolut streng), musste, musste ein Canticum sein. Eines der Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?), also ein Magnificat oder ein Nunc dimittis.
Und hierher rühren also meine Kenntnisse der Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?), denn ich hatte jahrelang den Chor der Silasgemeinde im Stadtteil Schwesternwald.

Betrachten wir heute die «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» haben wir eine völlig andere Situation:
a) Die Leute strömen nicht mehr in die Bänke, sie gehen gar nicht mehr zum Einkaufen, sondern shoppen vom Sofa aus, oder wenn sie shoppen gehen, dann gehen sie nach dem Warenhaus gleich in die Kneipe. Die Bänke der grössten Kirche der Stadt sind also eher leer, niemand muss schon um 16.20 da sein, um einen Platz zu bekommen.
b) Die Chöre oder anderen Musiker müssen auch nicht jahrelang warten. Man ist froh, wenn jemand singt oder musiziert und auch in der Wahl der Stücke kann man sich Strenge nicht mehr erlauben. Völlig wurscht, ob der Chor eines der Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?) singt oder ganz etwas anderes.

Warum ist das so?
Ich frage verschiedene Menschen – und bekomme ganz verschiedene Antworten, die mich aber nicht befriedigen.

Man habe keine Zeit mehr, das Leben sei so anstrengend geworden.
Gut, das Leben ist anstrengend, und das war es immer, aber eine halbe Stunde, 30 Minuten für etwas Besinnung, das müsste ja noch drin sein, zumal man ja diese halbe Stunde nichts machen muss ausser zuhören, zum Singen wird niemand gezwungen.

Man habe die Skandale leid, vor allem den Missbrauch und die Verstrickungen des Vatikan.
Völliger Quatsch, die Vesper ist und war und bleibt reformiert.

Die Zeit der kirchlichen Anlässe sei vorbei, der Mensch sei nun eher privat-spirituell, man höre zum Beispiel keine Predigt, man lese ein gutes (vielleicht sogar ein theologisches oder philosophisches) Buch…
Gut, aber die Orgelmusik? Der Chorgesang? Holt man die sich dann von YouTube? Wer einmal das Brausen einer grossen Orgel erlebt hat, der will das immer wieder live erleben.

Die Zeit der grossen Kirchen sei überhaupt vorbei, man gehe in diese tollen neuen jungen freien Kirchen.
Auch gut und schön, die sind ja auch wirklich voll. Aber sie machen mir Angst. Schon allein, weil sie gegen Schwule sind. Aber haben Sie einmal die Musik gehört? Das will man sicher nicht ständig um sich haben.

Man kann also nur hoffen, dass es mit der «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» wieder besser wird. Und sie wieder voll ist. Und es wieder Wartelisten gibt. Und man unbedingt ein Canticum singen muss, eines der Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?), Nunc dimittis oder Magnificat, das spielt keine Rolle.