Freitag, 5. Mai 2023

Der Tag der Guten Tat und wie man ihn vermeidet

Morgen ist der «Tag der Guten Tat». Ein schwieriges Datum für Urs, denn Urs ist ein Tag- und Zeiten-Boykottier.

Urs stellt nie einen Weihnachtsbaum auf, auch keine Tannenzweige oder Kerzchen, er hängt keine Sterne in die Fenster und hört keine Engel-Lieder. Ebenso würde Urs nie Ostereier bemalen oder suchen. Er hat noch nie Halloween gefeiert und am 14. Februar schenkt er keine Blumen. Und an Sylvester? Ja, Urs gehört zu den wenigen Menschen, die wirklich am 31. 12. um 23.00 ins Bett gehen…

Morgen nun aber hat Urs ein Problem: Wie boykottiert man den «Tag der Guten Tat»?

Wir müssen dazu das Folgende feststellen: Urs ist ein netter, sympathischer Mensch, der, obwohl er keine Weihnachtsbäume hat, keine Kerzchen und keine Zweige, obwohl er Ostereier und Valentinskarten meidet und an Sylvester ins Neue Jahr schläft, obwohl er Halloween und Pfingsten ignoriert, doch mit seinen Mitmenschen gut auskommt.

Urs springt zum Beispiel, wenn jemand zum Tram hinrennt und er schon drinsitzt, auf und drückt auf den Türöffnungsknopf. Eine Tugend, die vor 40 Jahren selbstverständlich war, heute der Menschheit aber abhanden gekommen ist. Das haben Sie sicher auch schon gemerkt: Wenn auch jeder sieht, dass Sie gerade versuchen den 15er zu erreichen, bleiben doch alle hocken und grinsen dümmlich vor sich hin.

Urs kümmert sich auch rührend um seine alte Tante im Altersheim, ruft sie jeden zweiten Tag an und geht am Samstag für eine Stunde vorbei, und das, obwohl Tantchen über keine Sparkonten verfügt. Aber Tantchen ist trotz ihrer 95 geistig noch hellwach und weiss stets, wer sie da besucht.

Und wenn Urs am Migros-Band steht und der Mensch hinter ihm ist jemand mit nur einer Cola, dann lässt er ihn oder sie natürlich vor.

Morgen ist der «Tag der Guten Tat». Ein schwieriges Datum für Urs, denn Urs ist ein Tag- und Zeiten-Boykottier.

Wie wird Urs nun diesen Tag begehen? Jede gute Regung, jedes Höflichsein, jedes Nettsein könnte ihm als Gute Tat ausgelegt werden. Also wird er, muss er, sollte er einen ganzen Tag lang unhöflich und unnett sein.

Urs wird morgen im 14er, 15er oder 16er in der Nähe einer Tür sitzen und Leute beobachten, die versuchen diese Trams noch zu erwischen. Er wird dann die Arme verschränken und die Männer oder Frauen anblicken, mit einem Blick, der so zwischen «armes Schwein» und «selber schuld» changiert. Ganz besonders toll würde das in einem Lift, denn hier könnte man noch den Pfeil-nach-rechts-und-Pfeil-nach-links-Button drücken, der die Türen schliesst. (Im Gegensatz zum Pfeil-nach-links-und-Pfeil-nach-rechts-Button, der die Türen offen hält, das gilt es ja morgen unbedingt zu vermeiden.)

Urs wird seine Tante morgen nicht besuchen. Das wird Tantchen vielleicht gar nicht so gross schmerzen, denn das Altersheim wird voller Firmenleute sein, die eben bewusst hier eine «Gute Tat» begehen. Coop® bietet ein Offenes Musizieren an, die Migros® bastelt mit den Alten, Novartis® organisiert einen Ausflug in den Zoo und die Roche® ein gemeinschaftliches Backen. Alle diese Firmen zeigen damit, wie sozial und caritativ sie sind.

Für die Supermarkt-Band-Story hat sich Urs einen besonderen Gag überlegt: Er wird seinen Einkaufswagen bewusst mit Nudeln, Bier, Klopapier, Erdnüssen und Kartoffeln vollbeugen, und wird dann mit diesem Wagen voll Nudeln, Bier, WC-Papier, Peanuts und Erdäpfel eine Weile herumdüsen, bis er einen jungen Menschen, zum Beispiel einen KV-Lehrling in der Mittagspause sieht, der oder die mit einem Sandwich und einem Mineralwasser Richtung Kasse strebt. Er wird dann in einer Formel 1-reifen Leistung mit seinem Wagen voll Pasta, Jever, Klopapier, Erdnüssen und Knollenfrüchten diese arme Sau überholen und mit einem hämischen Grinsen WC-Papier, Bier, Nüsse, Penne und Kartoffeln auf das Band werfen. Vielleicht noch eine Frucht, die er – besonders perfide – nicht abgewogen hat, das kommt besonders gut.

Urs überlegt sich zusätzlich noch ein paar Dinge:
Soll er vielleicht all die Wurfzeitschriften und Werbeflyer, die er im Altpapier hat in den Briefkasten seines Nachbarn stopfen?
Soll er endlich einmal wieder Tuba üben – morgens um 3.00?
Soll er…?
Soll er…?

Morgen ist der «Tag der Guten Tat». Ein schwieriges Datum für Urs, denn Urs ist ein Tag- und Zeiten-Boykottier.

Aber der «Tag der Guten Tat» ist ein Schweizer Phänomen; eventuell wäre es gut, wenn Urs einfach das Land verlassen würde. Gibt es noch einen Flug nach London? Immerhin ist dort ja Big Party…

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen