Freitag, 12. Mai 2023

Die Cantica

Sie werden sich vielleicht ob der Verwendung eines Canticums gewundert haben.

Ach, Sie wissen gar nicht, was ein Canticum ist?
Ein Canticum ist ein Lobgesang, und zwar im engeren Sinne einer drei «offiziellen» Lobgesänge von Hannah, Maria oder Simeon (wobei Maria bei Hannah geklaut hat) Die Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?) von Maria und Simeon sind bekannt, weil sie tausende Male vertont wurden: Das Magnificat und das Nunc dimittis.

Diese Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?) bilden den Abschluss einer Vesper. Nun wissen Sie vielleicht auch nicht so genau, was eine Vesper ist. Ich dachte auch lange, dass ein Vespergottesdienst eine Messe ist, bei der gegessen wird. Ich wurde aber dann jedes Mal enttäuscht. Es gab weder Wurst noch Brot. Eine Vesper ist eine der klösterlichen Gebetszeiten, nämlich die vor Sonnenuntergang, hat also umgekehrterweise doch etwas mit Essen zu tun, aber das Vespern kommt von der Vesper und nicht umgekehrt…
Eine Vesper besteht – ganz grob gesagt – aus Psalmen und schliesst mit einem Canticum. Die bekannteste ist sicher die Marienvesper von Monteverdi (kennen Sie: Daaa – dadldidl dam da dam da dam da dam da daaaa…).

Nun wundern Sie sich noch mehr.
Sie wundern sich ob der Verwendung eines Canticums im letzten Posts und ob meiner profunden Kenntnisse über Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?)
Gut, dann muss ich Ihnen jetzt die Geschichte von der «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» erzählen.

Die «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» war ein Ereignis.
Sie fand um 16.30 statt, ging ein halbe Stunde und wurde mit dem Turmblasen vorm Turm (der grössten Kirche der Stadt) beendet. Die Einwohnerinnen und Einwohner strömten aber schon um 16.00 in die Bänke, denn sie kamen von ihren samstäglichen Einkäufen und freuten sich nun auf eine halbe Stunde Zuhören, Singen, Beten und Kurzpredigt. Um 16.20 war die grösste Kirche der Stadt berstend voll.

In die «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» eingeladen zu werden, war gar nicht so einfach, Chöre mussten schon einmal zwei Jahre auf einen Termin warten. Und dann gab es hammerharte Bedingungen: Das erste Lied musste sich auf den Bibeltext der Woche, heisst also den vom letzten Sonntag, beziehen, wenn man mit seinem Chor auch am folgenden Sonntag in der eigenen Kirche auftreten wollte, dann konnte man eigentlich nicht das gleiche Stück singen. Das zweite Stück musste (und hier waren die Verantwortlichen absolut streng), musste, musste ein Canticum sein. Eines der Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?), also ein Magnificat oder ein Nunc dimittis.
Und hierher rühren also meine Kenntnisse der Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?), denn ich hatte jahrelang den Chor der Silasgemeinde im Stadtteil Schwesternwald.

Betrachten wir heute die «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» haben wir eine völlig andere Situation:
a) Die Leute strömen nicht mehr in die Bänke, sie gehen gar nicht mehr zum Einkaufen, sondern shoppen vom Sofa aus, oder wenn sie shoppen gehen, dann gehen sie nach dem Warenhaus gleich in die Kneipe. Die Bänke der grössten Kirche der Stadt sind also eher leer, niemand muss schon um 16.20 da sein, um einen Platz zu bekommen.
b) Die Chöre oder anderen Musiker müssen auch nicht jahrelang warten. Man ist froh, wenn jemand singt oder musiziert und auch in der Wahl der Stücke kann man sich Strenge nicht mehr erlauben. Völlig wurscht, ob der Chor eines der Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?) singt oder ganz etwas anderes.

Warum ist das so?
Ich frage verschiedene Menschen – und bekomme ganz verschiedene Antworten, die mich aber nicht befriedigen.

Man habe keine Zeit mehr, das Leben sei so anstrengend geworden.
Gut, das Leben ist anstrengend, und das war es immer, aber eine halbe Stunde, 30 Minuten für etwas Besinnung, das müsste ja noch drin sein, zumal man ja diese halbe Stunde nichts machen muss ausser zuhören, zum Singen wird niemand gezwungen.

Man habe die Skandale leid, vor allem den Missbrauch und die Verstrickungen des Vatikan.
Völliger Quatsch, die Vesper ist und war und bleibt reformiert.

Die Zeit der kirchlichen Anlässe sei vorbei, der Mensch sei nun eher privat-spirituell, man höre zum Beispiel keine Predigt, man lese ein gutes (vielleicht sogar ein theologisches oder philosophisches) Buch…
Gut, aber die Orgelmusik? Der Chorgesang? Holt man die sich dann von YouTube? Wer einmal das Brausen einer grossen Orgel erlebt hat, der will das immer wieder live erleben.

Die Zeit der grossen Kirchen sei überhaupt vorbei, man gehe in diese tollen neuen jungen freien Kirchen.
Auch gut und schön, die sind ja auch wirklich voll. Aber sie machen mir Angst. Schon allein, weil sie gegen Schwule sind. Aber haben Sie einmal die Musik gehört? Das will man sicher nicht ständig um sich haben.

Man kann also nur hoffen, dass es mit der «Samstagsvesper in der grössten Kirche der Stadt» wieder besser wird. Und sie wieder voll ist. Und es wieder Wartelisten gibt. Und man unbedingt ein Canticum singen muss, eines der Cantica (Canticen? Canticums? Canticümmer?), Nunc dimittis oder Magnificat, das spielt keine Rolle.



 

 

 

 

 

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