Dienstag, 30. Mai 2023

Tina Turner und der Lauf der Zeit

Der Tod von Tina Turner hat mir (wieder einmal) gezeigt, wie die Zeit vergeht und wie alt ich bin.

Im Sommer 1984 hatten wir das Abitur in der Tasche. Solche Zeiten NACH etwas (Schule) und VOR etwas (Zivildienst, Militär, Lehre, Studium) sind ja immer besondere Zeiten. Man fühlt sich frei und stark und unbesiegbar, das Leben liegt vor einem und nichts kann einen aufhalten.
Wir feierten diesen Sommer mit einer Reise nach Südfrankreich, bei der wir auf der Hin- und Rückfahrt Städte der Provence anschauten und in der Mitte eine Woche in Argelès-sur-Mer (Languedoc-Roussillon) zum Baden waren.

Ich will jetzt nicht zu offen aus der Schule plaudern, aber es waren Leute dabei, die Sie kennen könnten, der eine (damals junge) Mann ist heute ein anerkannter Wirtschaftsexperte, war Wirtschaftsweiser und ist heute bei einer Bank in Frankfurt und immer wieder einmal im Fernsehen zu sehen, die andere (damals junge) Dame ist heute hochrangige Politikerin in Baden-Württemberg.

Jedenfalls: Wir waren zu 15 und fuhren mit vier Autos (darunter zwei Enten) durch den französischen Süden. Und hörten Musik bei offenen Autofenstern.

Und jetzt kommt Tina ins Spiel.

Am 22. Mai 1984 war «Private Dancer» auf den Markt gekommen, das legendäre Comeback-Album von Frau Turner, das ausser dem Titelsong so wunderbare Nummern wie «What´s Love Got to Do with It?» und «I Can`t Stand the Rain» enthielt.
Wir hatten die Musikkassette im Auto und hörten sie quasi in Dauerschleife. Und wenn dann die Stelle kam, wo es hiess:

It's physical
Only logical
You must try to ignore that it means more than that

Dann holten wir tief Luft, ganz, ganz, ganz tief Luft und schrien und grölten mit:

… OH OH
WHAT'S LOVE GOT TO DO, GOT TO DO WITH IT?
WHAT'S LOVE BUT A SECOND HAND EMOTION?


Wahrscheinlich können Sie sich jetzt keine grölenden und schreienden Bankiers und Politikerinnen vorstellen, aber so war es.

Das alles ist nun lange, lange her.
Die Enten (für Spätgeborene: Citroën 2CV) gibt es seit dreissig Jahren nicht mehr, auch die Kassette hat irgendwann der CD und dann den rein digitalen Formaten Platz gemacht.
Selbst die Region Languedoc-Roussillon existiert nicht mehr, sie ging zusammen mit der Region Midi-Pyrénées in der neuen Region Okzitanien auf.
Wir fünfzehn Leute haben uns alle irgendwie mehr oder weniger aus den Augen verloren.
Tina Turner hörte irgendwann auf und machte eine Abschiedstournee – und zog in die Schweiz, merkwürdigerweise in das gleiche Land wie ich…

Und nun ist die grösste Popsängerin aller Zeiten gestorben.

Und mir wird auf merkwürdige Weise bewusst, dass man alt geworden ist und dass das Leben nicht endlos ist.
Nun werden Sie einwenden, dass das Binsenweisheit ist und dass man das ja immer wissen müsste. Gut, einverstanden, ja, Sie haben (wie immer) Recht. Aber es sind halt stets so spezielle Punkte, an denen einem ein Memento Mori entgegenschlägt:
Wenn z. B. alte Fotos betrachtet werden und eine Freundin sagt zu mir: «Du warst ein schöner junger Mann» und natürlich damit meint, heute ist man weder jung noch schön. (Ist neulich wirklich passiert.)
Wenn Schülerinnen und Schüler erzählen, wie wenig sie am Wochenende geschlafen haben und ich überlege, dass ich in diesem Alter auch ohne Schlaf auskam (zum Beispiel im Frühsommer 1984, ich hatte das Abitur in der Tasche und fühlte mich frei und stark und unbesiegbar, das Leben lag vor einem und nichts konnte einen aufhalten…)
Wenn man an Orte reist, an denen man lange nicht war.
Wenn man alte Bekannte trifft und merkt, wie alt die geworden sind (und genau weiss, dass die genauso über einen denken.)

Oder eben jetzt, als die Nachrufe von Tina Turner über die Bildschirme flimmerten. Ich war auf einmal vierzig Jahre neben der Zeit und grölte innerlich mit:

… OH OH
WHAT'S LOVE GOT TO DO, GOT TO DO WITH IT?
WHAT'S LOVE BUT A SECOND HAND EMOTION?




 

 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen