Freitag, 29. November 2019

Nicht mit dem Erstes-Mal-Blick in einen Laden


Menschen in einer für sie ungewohnten Umgebung haben einen bestimmten Blick. Ich nenne ihn den Erstes-Mal-Blick.

Den Erstes-Mal-Blick haben Neuschwule kurz nach ihrem Coming-Out, wenn sie zum ersten Mal in eine Schwulenbar gehen. Vorsichtig blicken sie die Theke entlang zu den Tischen hin, vorsichtig schweift ihr Blick an die Wände, wo Bilder mit nackten Hintern und Fotos von Kerlen mit Wahnsinnsmuskeln hängen. Wie macht man das jetzt hier richtig? An die Theke? An einen Tisch? Und was trinkt man als Schwuler? Prosecco? Oder gibt es hier auch…Bier?

Den Erstes-Mal-Blick haben Touristen, die zum ersten Mal fliegen. O meine Güte, ist der Flughafen gross! Wie soll man da irgendetwas finden? Und was bedeutet «Gate»? Und «Check-In»? Völlig verloren stehen Sie unter dem riesigen Glasdach und hoffen, dass irgendjemand kommt und sie an der Hand nimmt und an alle die Orte führt…

Den Erstes-Mal-Blick haben Menschen, die zum ersten Mal einen katholischen Gottesdienst besuchen. Sie haben gehört, dass man hier ständig irgendwas machen muss, aufstehen und absitzen, sich bekreuzigen, Sätze antworten, die sie natürlich nicht kennen und sie wissen, sie werden schlicht und einfach ALLES FALSCH MACHEN.

In allen drei Fällen wandelt sich der Erstes-Mal-Blick aber bald in ein Lächeln und die Anspannung weicht.
Die Bartunte wird einen bald entdecken, begrüssen und auf die Getränketafel hinter sich weisen, auf der natürlich auch Bier steht (und Wein und sogar Kaffee, es gibt in der Szene keinen Proseccozwang) und mit einem kühlen Jever in der Hand ist man schon viel entspannter.
Im Zürich Airport oder Flughafen Frankfurt wird man nach 5 Minuten ein Schild INFORMATION entdecken und dort wird einem alles erklärt, der ganze Weg vom Check-In mit Gepäckabgabe über die Sicherheitskontrolle bis zum Gate.
Und bei den Katholiken? Die sind so froh, so glücklich, so selig, dass ein neues Gesicht unter 80 mal wieder ihre Gefilde betritt, dass man alles, aber auch wirklich alles falsch machen kann, und man wird immer noch geliebt.

Nur in einem Fall hat der Erstes-Mal-Blick verheerende Folgen:

Im Einzelhandel.

Wenn eine Kundin oder ein Kunde mit Erstes-Mal-Blick einen Laden betritt, dann sehen das die Verkäuferinnen und Verkäufer natürlich sofort. Und dann gehen sie im Geiste alle die Ladenhüter durch, die sie unbedingt vor Ende des Monats noch loswerden wollen und sie wissen: Heute schlagen wir zu. Dieser Mensch hat keine Ahnung, er ist in unbekannten Gefilden und wir können ihm alles, aber auch alles aufschwatzen.

Wenn Sie z.B. in einen Elektronikladen gehen, um einen Drucker zu kaufen und sie haben den Erstes-Mal-Blick, dann wird man Sie nicht fragen, für welchen Zweck Sie das Gerät brauchen, wie viele Seiten sie im Monat drucken und ob sie grössere Massen in kurzer Zeit brauchen, nein, sie bräuchten eigentlich einen kleinen Drucker für den Schreibtisch, weil sie ca. 10 Seiten im Monat rauslassen, aber Sie gehen mit dem SISTER 78 XCX heim, einem Bürogerät, das 2000 Seiten in der Stunde ausspucken kann, die Ausmasse eines Kleiderschrankes hat und Sie 399.- kostet. Dazu kommen dann noch die 79.- für eine Patrone schwarz-weiss und 89.- für eine farbig.

Aber nicht nur in der Elektronik ist das so: Wenn Sie mit dem Erstes-Mal-Blick in eine Boutique gehen, dann Gnade Ihnen Gott! Da fallen dann Sätze wie
«Das geht beim Waschen sehr stark ein»
«Das weitet sich beim Tragen»
«Das ist die Modefarbe der nächsten Saison»
«Der Schnitt ist diesen Herbst genau so»
Und wenn Sie die maisgelbe, viel zu enge Hose mit dem schlabberweiten aschgrauen Pulli zum ersten Mal tragen und alle kichern und köchern, lachen und lächeln, dann wissen Sie, dass man Ihnen die letzten Ladenhüter angedreht hat.

Muss hier noch vom Sportgeschäft berichtet werden, wo man Menschen mit Erstes-Mal-Blick Volleybälle als Fussbälle verkauft? (Es hat noch zu viele im Lager)
Oder vom Floristen, der Menschen mit Erstes-Mal-Blick welke Blumen andreht?

Menschen in einer für sie ungewohnten Umgebung haben einen bestimmten Blick. Ich nenne ihn den Erstes-Mal-Blick. Menschen, die genau wissen, was Sache ist, genau drauskommen, haben einen Kennerblick. Und auch diesen erkennen Verkäuferinnen und Verkäufer sofort. Nehmen Sie also als Neuling immer einen Kennerblickler mit in den Laden.
Gehen Sie nie alleine mit Erstes-Mal-Blick.

Es lohnt sich.
Auch heute am Black Friday. 


                                  

Dienstag, 26. November 2019

Baden-Württemberg, einst das Land der Dichter, bald das Land der Analphabeten


Das damalige Herzogtum Württemberg führte schon im 15. Jahrhundert die allgemeine Schulpflicht ein. (Drei Jahrhunderte vor den Preussen, die immer behaupten, die ersten gewesen zu sein.) Seitdem galt und gilt das Lesen und Schreiben, das Dichten und Denken, gilt und galt das Notieren und Philosophieren, aber auch das Grübeln und Erfinden als ein Motor dieses kleinen Ländchens. Was sollten die Schwaben auch anderes tun, ausser Lesen und Schreiben, Dichten und Denken, ausser Notieren, Philosophieren, Grübeln und Erfinden? Württemberg besass (besitzt) keinerlei Bodenschätze, keine wirklich fruchtbaren Regionen, die Alb-Bauern ernten vor allem Jura-Kalksteine und der Wein des Neckartales ist dünn und sauer, da war es eben gut, wenn man sagen konnte:

Der Schelling und der Hegel,
Der Schiller und der Hauff:
Das ist bei uns die Regel,
Das fällt uns gar nicht auf.

Später kamen zu den Dichtern und Denkern noch die Erfinder und Unternehmensgründer dazu, Daimler und Bosch und Co., und so wurde in Württemberg nicht nur der Benzinmotor, sondern z.B. auch der Teddybär erfunden (Margarete Steiff in Giengen). Um es fair zu machen: Das Auto wurde fast gleichzeitig von Carl Benz in Karlsruhe entwickelt, und so sah man schon dann, dass kommen würde, was niemand wollte (und will), was aber absolut vernünftig schein (und schien), ein Südweststaat Baden-Württemberg. Die Badener (bitte nicht Badenser, das ist ein Schimpfwort) brachten zwar auch keine Bodenschätze, dafür aber trinkbaren Wein und Spargel mit, und natürlich ebenfalls eine literarische Bildung – man denke an Johann Peter Hebel – und so war B-W immer ein Staat des Wissens und Denkens. Die Mehrheit der deutschen Patentanmeldungen kommen aus dem Südwesten und bei der Elitevergabe der Unis sahnen die Hochschulen zwischen Mannheim und Ulm stets voll ab.    
Muss man erwähnen, dass B-W auch bei den PISA-Tests und ähnlichen Studien immer vorne lag und sich mit Bayern um den Spitzenplatz stritt?

Jetzt erstaunen Sie wahrscheinlich über das reine Präteritum. Aber es ist so: Der Südweststaat ist bei der Grundschulbildung, der Lese- und Schreibkompetenz ins untere Mittelfeld abgerutscht. Dies verdankt man einer neuen Methode, der (nach ihrem Erfinder so benannte) Reichen-Methode, das Schreiben-wie-ich-höre. Als Grundschüler müsste ich den Anfang dieses Textes so schreiben:

Das damalige Herzoktum Würtemberk fürte schon im 15. Jarhundert die algemaine Schulpflicht ain.

Ich müsste ihn zunächst so schreiben – selbst, wenn ich es besser wüsste! – und dann würde anhand der Fehler, die ich gemacht habe, eine Orthographie erarbeitet. Schon bei Einführung dieser Didaktik runzelten Fachleute die Stirne und rümpften die Nase, und die jetzigen Studien geben dem Runzeln und Rümpfen recht, im Lande von Schiller, Hegel, von Mörike und Hebel können die Zehnjährigen nicht mehr lesen und schreiben.

Natürlich ist die Idee, dass man «aus Fehlern lernt» nicht übel, aber man könnte ja aus den Fehlern, die man trotz der alten Fibel-Methode eh macht, lernen und nicht erst falsche Sätze ins Heft schreiben.
Ich stelle mir diese Didaktik in anderen Fächern vor:
Im Sportunterricht heisst die Devise «Mache einen Salto, so wie du denkst, und beim nächsten Salto lernst du dann aus deinen Fehlern». Es kann nur sein, dass es zum zweiten Salto gar nicht kommt oder dieser erst nach einem zweiwöchigen Spitalaufenthalt geübt werden kann; vielleicht auch NIE mehr, denn selbst wenn der Schüler später bei den Paralympics antritt, Bodenturnen ist KEINE paralympische Disziplin.
In der Hauswirtschaft wird frei nach Gutdünken und nicht nach Rezept gekocht, beim nächsten Male lernen wir dann aus unseren Fehlern, bei diesem Male allerdings wird nicht, wie gewohnt, das Gekochte bei einem fröhlichen Mahle verzehrt, sondern alles weggeworfen und der Pizzadienst bestellt, angesichts des Hungers in der Welt ein fast zynisches Verfahren.
Ganz besonders nett im Chemieunterricht: Hier werden auch die Arbeitsblätter mit strengen Abläufen, die wir noch kannten, abgeschafft, und durch ein freies Experimentieren ersetzt. Und für viele Schülerinnen und Schüler fällt dann der Unterricht wochenlang aus, weil durch eine Knallgasexplosion nicht nur der Chemiesaal, sondern auch der gesamte Schulkomplex in die Luft geflogen sind.

Das Herzogtum Württemberg führte schon im 15. Jahrhundert die allgemeine Schulpflicht ein. Seitdem galt das Schreiben und Lesen, das Denken und Dichten, galt das Notieren und Philosophieren, das Grübeln und Erfinden als ein Motor dieses kleinen Ländchens. Was sollten die Schwaben auch anderes tun, ausser Lesen und Schreiben, Dichten und Denken, ausser Notieren, Philosophieren, Grübeln und Erfinden?
Galt!
In ein paar Jahren wird man Menschen aus Stuttgart einen Text vorlegen und dann sagen: «Ich lese ihn dir besser vor, du kommst ja aus B.-W.»

Tempi passati.
Sic transit gloria mundi.
As time goes by…
Où sont les neiges d'antan?


  





Freitag, 22. November 2019

Herr Suter macht eine Überweisung


Urs Suter, ehemaliger Oberpostdirektor, ist ein sorgfältiger Mensch. Er ist von einer Sorgfalt, die ein weniger wohlwollender Zeitgenosse vielleicht sogar als Pedanterie rügen könnte, aber das wäre Urs Suter, dem ehemaligen Postdirektor, egal. Was er tut, und so viel muss er ja nicht mehr tun, tut er gründlich. Er reinigt seine Wohnung mit einer Sorgfalt, die jede Hauswirtschafterin zu hellen Jubelrufen verleiten würde, und er stapelt seine Hemden millimetergenau, obwohl kein Stubenoffizier ihn mehr kontrolliert, er kocht genau nach Rezept und misst – muss das noch gesagt werden? – seine Zutaten grammgenau ab.

Nun ist er gerade dabei, eine Überweisung ins Ausland zu machen, er hat als leidenschaftlichen Kaninchenzüchter (o ja, auch seine Ställe könnten bei jeder auch unangemeldeten Inspektion als tadellos durchgehen…) mehrere Zeitschriften abonniert, darunter Hase & Kaninchen des norddeutschen Verlages Schmidt und Co. Urs Suter schreibt also in das Empfängerfeld:
Hase & Kaninchen
Verlagshaus Schmidt und Co.
Hauptstrasse 67
27283 Verden (Aller)
00 49 4231 565578
Natürlich sind das eine Menge Angaben, die nicht unbedingt nötig wären, aber Suter ist eben ein Mensch, der eine Sorgfalt besitzt, die manchmal die Grenze der Pingeligkeit überschreitet. Als nächstes trägt der Pensionär die IBAN in das entsprechende Feld ein:
DE66 0023 3233 5360 8940S
und sofort erscheinen auch der Name der Bank und die BIC:
Sparkasse Aller
Postfach 46 / 27283 Verden
BIC SVWDEVE80A
Suter prüft nun alle Angaben noch einmal ganz genau, natürlich muss man davon ausgehen, das alles stimmt, denn der Name der Bank ist eingespeichert, ebenso wie die BIC, die Bankenkennziffer, und bei einer falschen IBAN hätte das System auch die Bank nicht gefunden, aber man weiss ja nie, der Teufel ist ein Eichhörnchen und steckt im Detail und man hat – wie meine Grossmutter zu sagen pflegte – auch schon Pferde kotzen sehen.
Die Eingabe des Betrages geht ihm dann leicht von der Hand:
EUR 85,00
Dafür schlägt dann beim Zahlungsgrund seine Gründlichkeit, die eben auch Pedanterie genannt und seine Sorgfalt, die auch Pingeligkeit geheissen werden könnte, wieder voll zu. Wer eben seine Wohnung so reinigt, dass auch Hauswirtschafterinnen Freude haben könnten und seine Hemden millimetergenau zusammenlegt, wer streng nach Rezept kocht und dabei die Zutaten aufs Gramm genau abwiegt, der kann beim Banking keine halben Sachen dulden. So schreibt Suter:
Abonnement Hase & Kaninchen / Jahrgang 2019
Abo-Nummer: 657434
Kundennummer: 234356/723
Rechnungsnummer 2019/6754634
Nun prüft der Postdirektor im Ruhestand noch einmal alle Angaben genau und schickt dann den Auftrag ab.

Nun kann man fragen, ob das eine Glosse wert ist.
Was ist so spannend und brisant an der Sache, wenn ein Exbeamter Gründlichkeit und Sorgfalt walten lässt, wenn er seine Wohnung quasi mit der Zahnbürste reinigt und seine Hemdenstapel wie beim Militär aussehen, wenn er, sollte im Rezept «150 Gramm» stehen, eben auch 150 und nicht 145 oder 155 nimmt? Was ist so lustig daran, dass er auch beim E-Banking mit – jetzt nennen wir nur die bösen Worte – mit Pedanterie und Pingeligkeit vorgeht?

Weil – und jetzt wird die Sache heikel – es eben nicht das E-Banking ist.

Urs Suter tätigt seine Bankgeschäfte nicht daheim am Laptop, sondern am Automaten seiner Bankfiliale. Und dort müssen eben ein paar Leute unter seiner Pedanterie leiden, das stellt jetzt eine Überweisung in klare Opposition zu Hausputz, Wäsche und Kochen. Bis der Ex-Oberpostdirektor seine Zahlung übermittelt hat, hat sich eine Schlange von 8 Personen gebildet, zwei junge Frauen mit Einkaufstaschen, drei Arbeiter in der Mittagspause und zwei Rentnerinnen. Und diese 8 warten.
Und warten.
Und warten.
Zwischendurch ruft Urs Suter den zwei jungen Frauen mit Einkaufstaschen, den drei Arbeitern in der Mittagspause und den zwei Rentnerinnen ein fröhliches «Auslandsüberweisung» zu, aber das macht die Sache nicht besser.

Es gibt eine Gründlichkeit, eine Sorgfalt, die unendlich nervt. Und sie nervt eben dann so sehr, wenn andere Menschen beteiligt sind.
Ich stelle mir Herrn Suter in seinem ehemaligen Büro vor: Die Kugelschreiber und Bleistifte aufgereiht wie Soldaten und die Papiere millimetergenau auf Stapel, im Regal die Aktenordner so gestellt, dass sie eine glatte Fläche bilden. Und wahrscheinlich hat der Gute bei jedem Sitzungsprotokoll jedes Wort genau auf die Goldwaage gelegt, wahrscheinlich hat er bei Visitationen Schalterbeamte aufs Schärfste gerügt, weil sie bei einem Briefgewicht von 251 Gramm nicht den höheren Tarif verlangt haben.

Urs Suter ist ein sorgfältiger Mensch.
Und es wäre ihm egal, wenn eine böse Zunge seine Sorgfalt als Pedanterie bezeichnen würde.
Was er tut, tut er gründlich. Sei es Hausputz, Wäsche oder Kochen.
Aber er nervt.

Ich habe ihn übrigens schon einmal erlebt (natürlich wusste ich nicht, wie er heisst, aber die Story in der Bank ist passiert). Und als er mir das fröhliche «Auslandsüberweisung» zurief und ich daran dachte, dass ich a) eine solche Überweisung in 5 Minuten hinkriege und b) es mir jetzt für mehrere andere Besorgungen nicht reicht, da war ich froh, dass ich keine Waffe bei mir trage.