Dienstag, 26. Februar 2019

Das "grosse Ding" verhindert die Gegenwart


Meine Nachbarin Ruth ist Rentnerin und manchmal ein wenig unterbeschäftigt, wenn die Langeweile sie in ihrer kleinen Wohnung anspringt, dann stellt sie den Fernseher an und schaut viel dummes Zeug, oder sie trinkt ein wenig zu viel oder sie schläft einfach einen ganzen Tag. Ich schlage ihr vor, sie solle doch mehr Ausflüge machen, einfach mal raus, unter die Leute, einfach mal einen Trip in die Innerschweiz oder die Romandie, sie könne doch mal das wunderschöne Impressionisten-Museum am Römerholz in Winterthur besuchen und nach Monet, Manet und Renoir, nach Pissarro und Cézanne dort auf der herrlichen Terrasse ein Glas Weisswein trinken, sie könne an den Neuenburger oder den Genfer See oder mal ins Richard-Wagner-Heiligtum Tribschen. Ist ihr aber alles zu aufwändig und zu teuer, sie spare, so sie zu mir, für eine grosse Reise, 4 Wochen Südfrankreich, dort werde sie dann alles das machen, Wein trinken und Monet gucken und Wasser geniessen und gut essen. Sagt sie aber schon drei Jahren – und wir beide wissen: Die Reise wird nicht stattfinden.

Mein Freund Bocko schreibt. Aber nicht wie ich, so jeden Dienstag und Freitag eine Petitesse, nein er schreibt an einem grossen, dreiteiligen Roman, der erste Teil über seinen Urgrossvater, der zweite Teil über seinen Opi und der dritte – Sie erraten es! – über seinen Erzeuger. Jeder Roman wird 1000 Seiten haben, und die Trilogie wird sich vom 19. bis ins 21. Jahrhundert erstrecken. Selbstverständlich kann man aus so einem Opus keine Teile vorlesen, und so wartet der Freundeskreis seit Jahren auf etwas Geschriebenes von Bocko, und natürlich wird man nie etwas zu hören bekommen, Bocko ist sechzig und im Uropa-Band auf Seite 678…

Muss ich noch von meiner Bekannten Uscha erzählen, der ich seit Monaten rate, endlich einmal ihr Arbeitszimmer aufzuräumen und den Urwald von Steuerunterlagen, Rechnungen und Verträgen, den Dschungel von Privatpost, Kontoauszügen und Einladungen, der auf ihrem Schreibtisch wildest wuchert mit der Machete der Ordnung zu bekämpfen? Muss ich erwähnen, dass auch sie ein Grossprojekt hat, das Grossprojekt «Wohnung neugestalten», und dass, weil das Arbeitszimmer an einen völlig anderen Ort kommt, sie ja jetzt den Schreibtisch gar nicht aufräumen muss, denn wenn dann alles neu wird, dann, ja dann…

Wir alle haben solche Grossprojekte.
Und meistens sind sie nur die Ausrede, nicht irgendwo anzupacken. Wir sparen für die Reise nach Tokio und schaffen es nicht mal in den Thurgau. Wir üben an einer einstündigen spätromantischen Sonate, und damit müssen wir unser Leben lang keinem Menschen etwas vorspielen. Wir sagen allen, dass wir im nächsten Jahr endlich einmal die grosse Einladung machen, die grosse Einladung für 50 Personen mit Apéro und Dreigang-Menü und vertrösten damit die Leute, die eigentlich nur einen Kaffee bei uns trinken wollen.

Dabei wäre es ein Leichtes, beides, das Kleine und das Grosse, mit einander zu kombinieren. Ruth könnte einen Tag in der Woche in ein Schweizer Museum fahren und hätte immer noch genügend Kohle für einen Monat Nizza. Bocko könnte einmal pro Woche eine Shortstory schreiben und könnte Motive daraus sogar später in den Roman integrieren. Uscha könnte ihr Pult aufräumen, die Dokumente in Stehsammler packen, und genau diese Sammler dann ins neue Zimmer tragen. Aber da denke ich einfach zu praktisch…
Denn diese Leute wollen ja nichts tun.
Oder können nicht.
Oder stehen sich im Weg.
Das Grossprojekt ist die Entschuldigung für sich selbst, in Untätigkeit zu verharren und nichts von sich preisgeben zu müssen.

Schlimm wird es, wenn solche Grossprojekte in die Politik und die Öffentlichkeit einziehen. Haben Sie schon je einen Politiker gehört, der einen Satz mit «Bis nächstes Jahr…» anfing?

Nein.
Wir stecken grosse, weite Ziele:
Bis 2060 soll der ÖV alle Orte erreichen.
Bis 2070 sollen alle Atomwaffen von der Erde verschwinden.
Bis 2030 will die Gemeinde X schuldenfrei sein.
Bis 2080 wollen wir nur noch 1/8 des CO2 ausstossen.

Alle Ziele so langfristig, dass der, der sie steckt, es gar nicht mehr erlebt.

Ich muss aufhören, eben klingelt Ruth und will mit mir nach Liestal – Kaffee trinken. Und Bocko ruft an, er müsse mir ein Gedicht vorlesen. Und eine Mail von Uscha, ob ich Klarsichthüllen habe.

Es besteht also doch noch Hoffnung.       

Freitag, 22. Februar 2019

Das Märchen von den Hallen (Der Bauer und seine Frau)


Vor vielen Jahren lebte in Basel auf der schlechten, der minderen Seite des Flusses Rhein, also auf der Seite, die man heute als «Kleinbasel» bezeichnet, ein Bauer mit seiner Frau. Sie hiessen Urs und Dorothee und lebten ihr kleines, bescheidenes Leben, bestellten ihren Garten und molken ihre Ziegen, waren also im Grunde genommen glücklich und zufrieden, ja, im Grunde genommen…wären da nicht diese fünf Äcker gewesen. Diese fünf Äcker erstreckten sich hinter ihrem Hof und waren aufgrund der Bodenverhältnisse unfruchtbar, also ein ziemlich grosses, wüstes Brachland.  Dies wurmte Dorothee immer mehr und sie begann ihrem Urs damit in den Ohren zu liegen: «Wenn ich zum Fensterlein hinausschaue, Mann, dann werde ich ganz schwermütig, so öde und wüst liegt der Boden da herum! Sie zu, dass du etwas tun kannst.»
Als nun Urs eines Tages am Ufer des Rheines spazieren ging, begegnete ihm der Vogel Gryff. Der Bauer fiel auf die Knie und rief jenen an:
Basels Vogel, Vogel Gryff,
alles läuft so furchtbar schief,
meine Frau, die Dorothee
sieht’s nicht so, wie ich es seh’.
«Was will sie denn?», sprach der Vogel Gryff. «Ach», rief Urs, «sie stört sich so an dem öden Acker.» «Geh heim und sei getrost, es stehen schon ein paar schöne grosse Hallen drauf.»

Und als der Bauer heimkam, standen grosse Hallen auf dem Boden und sie freuten sich dran und tanzten darin und machten lustige Ballspiele, sie sangen im Hall der Hallen und erfreuten sich an ihrer Grösse und Pracht. Aber nach einigen Wochen wurde das Tanzen, wurden die Ballspiele und das Singen, wurde Grösse und Pracht der Hallen langweilig und Dorothee lag ihrem Mann wieder in den Ohren: «Die Hallen sind so leer und öde und wenn ich hineingehe wird mir ganz anders! Tu was!» Und Urs ging erneut an den Rhein und suchte den Vogel, fiel auf die Knie und sprach:
Basels Vogel, Vogel Gryff,
alles läuft so furchtbar schief,
meine Frau, die Dorothee
sieht’s nicht so, wie ich es seh’.
«Was will sie denn dieses Mal?» «Die Hallen sind ihr zu leer.» «Geh heim und schaue, es sind inzwischen viele fröhliche Verkaufsstände darin.»

Und Urs ging heim und – siehe da! – die Hallen waren voll von Ständen, an denen Kaufleute ihre Waren anboten, Tuch und Webereien, Obst und Gemüse, es gab Schmuck und Zierrat, es gab Brot und Kuchen, es gab Gegenstände aus Metall und Holz und Leder und Glas. Das erfreute Dorothee und sie konnte sich nicht satt sehen und kaufte immer wieder. Aber nach einigen Wochen wurde sie wieder unzufrieden und fing an zu meckern: «Die Kaufleute gammeln da in meinen Hallen herum und ich muss ihnen noch Geld geben. Wer zahlt denn die Reinigung? Wer zahlt denn die Instandhaltung? Wer kümmert sich um die Hallen? Ich will, dass ich die Waren umsonst bekomme.» Urs seufzte und machte sich auf den Weg zum Fluss. Schon von weitem sah der den Vogel Gryff und rief ihm zu:
Basels Vogel, Vogel Gryff,
alles läuft so furchtbar schief,
meine Frau, die Dorothee
sieht’s nicht so, wie ich es seh’.
«Ach Gottchen», meinte der Vogel, «was ist es denn dieses Mal?» «Dorothee will die Waren umsonst haben, als Gegenleistung für die Reinigung der Hallen.» «Ist schon passiert, gehe heim und sei zufrieden.»

Und tatsächlich musste die Bauersfrau für Tuch und Webereien, Obst und Gemüse, für Schmuck und Zierrat, Brot und Kuchen, für Gegenstände aus Metall und Holz und Leder und Glas nichts mehr zahlen und war eine Zeit lang glücklich. Aber dann kam ihre schlechte Laune wieder und sie fing an zu klagen: «Auf der anderen Seite des Rheins, im grossen Basel, da hat es noch viel schönere Gegenstände und Sachen, und ich kann sie mir nicht kaufen, weil wir so arm sind, die Kaufleute sollen mir die Waren umsonst geben UND mir noch 100 Dukaten Standmiete zahlen.» Und der Bauer lief an den Rhein, suchte den Vogel Gryff, fiel auf die Knie und sagte:   
Basels Vogel, Vogel Gryff,
alles läuft so furchtbar schief,
meine Frau, die Dorothee
sieht’s nicht so, wie ich es seh’.
«Was ist es jetzt?» «Nun, sie will die Waren umsonst UND 100 Dukaten Standmiete.» «Geh heim, die Kaufleute haben davon Wind bekommen und sind weggezogen, vorher haben sie aber noch die Hallen abgefackelt, ihr blickt jetzt wieder auf ödes Brachland.»

Und so ist es, wenn man zu viel will, daher werden die Hallen bald leer stehen, die Messe Basel schafft sich selber ab, die muba ist Geschichte, die Basel World® schrumpft und wie lange die ART Basel® noch bleibt, weiss auch niemand.

Dienstag, 19. Februar 2019

Fenstergespräche zum Thema Glück


Ich schüttele meinen Staublappen am Fenster aus. Vorbei geht der schräg gekleidete Wahrsager mit dem Hündchen. «Hallo, schräg gekleideter Wahrsager mit dem Hündchen», sage ich, «werde ich heute glücklich sein?» «Das kann ich dir so einfach nicht sagen», sagt der schräg gekleidete Wahrsager mit dem Hündchen, «hast du Kaffeesatz, Tarotkarten oder ein Tier da – ein Tier, das ich ausweiden kann?» «Nein», sage ich zum schräg gekleideten Wahrsager mit dem Hündchen, «ich habe eine Kapselmaschine, habe nur Jasskarten und auch kein Tier, übrigens WENN ich einen Goldfisch, einen Wellensittich oder einen Hamster hätte, dürftest du ihn sicher nicht aufschneiden.» «Dann geht das nicht», sagt der schräg gekleidete Wahrsager mit dem Hündchen. «Kannst du nicht einfach so, ohne Hilfsmittel in meine Zukunft schauen?» Kann er nicht, er bietet mir für morgen einen Termin an, Kaffeesatz plus Kartenlegen für 200.-. Nutzt mir aber nichts, ich will ja wissen, ob ich HEUTE glücklich sein werde.

Als ich eine halbe Stunde später eine Zigarette am Fester rauche, kommen zwei gutgekleidete orthodoxe Juden vorbei. «Hallo, gutgekleidete orthodoxe Juden», sage ich, «werde ich heute glücklich sein?» «Der Psalmist sagt», bemerkt der der jüngere der gutgekleideten orthodoxen Juden, «Dies ist der Tag des HERRN, lasset uns fröhlich in ihm sein und frohlocken.» «Aber», erwidert sofort der ältere der gutgekleideten orthodoxen Juden, «Rabbi Schlomo hat schon 1678 angemerkt, dass dies sich nur auf den Tag der Tempelweihe beziehe.» «Recht hast du», so wieder der andere gutgekleidete orthodoxe Jude, «aber Rabbi Gilead hat 1876 darauf hingewiesen, dass mit Tempel auch der menschliche Körper gemeint sein könnte.» «Dem hat aber doch Rabbi Isaak 1925 vehement widersprochen, er schrieb…» Ich schliesse das Fenster. Ich liebe ja das Judentum vor allem wegen dieser Schriftbezogenheit, jeder Jude ist eigentlich ein Literaturwissenschaftler, aber für meine Frage bringen mir nun die ganzen Rabbiner, mögen sie nun Schlomo, Gilead oder Isaak heissen, recht wenig.

Eine Zigarette später läuft die fromme Frau mit Dutt und langweiligem Rock vorbei. «Hallo, fromme Frau mit Dutt und langweiligem Rock», sage ich, «werde ich heute glücklich sein?» Die fromme Frau mit Dutt und langweiligem Rock überreicht mir ein Traktat des Missionswerkes Heuchelbach. FREI VON LASTEN steht drauf. Das hört sich doch nun echt nach Glück an. Als ich es aber näher studiere, merke ich, dass zwar viel von Sündenfreiheit, von Begnadigung, von Himmel und Seligkeit drinsteht, dass es durchdrungen ist von Theologica Crucis, von Römerbrief und Passionsgeschichte, dass aber zum Thema Glück nicht wirklich etwas drinsteht. «Was heisst das aber nun zum Thema Glück?», frage ich die fromme Frau mit Dutt und langweiligem Rock. «Glück ist ein schwieriger Begriff», sagt die fromme Frau mit Dutt und langweiligem Rock, «du solltest nach Erlösung und nicht nach Glück streben.» Ich schliesse das Fenster.

Zwei Teenager laufen vorbei. Muss ich gar nicht fragen, was haben so Grünschnäbel zum Thema Glück zu sagen?
Ein Superreicher läuft vorbei. Muss ich auch nicht fragen, für den kann man unter 4 000 000 000.- nicht glücklich sein.
Ein Ehepaar, das sich streitet.
Eine Frau mit Kinderwagen.
Eine Schulklasse.
Eine Katze.
Eine Elster.

Hilfe, gibt es dein keinen Glücksexperten in der Leimenstrasse?

Da kommt die kluge Psychologin von gegenüber die Strasse entlang. «Hallo, kluge Psychologin von gegenüber», sage ich, «werde ich heute glücklich sein?» Die kluge Psychologin von gegenüber schaut mich lange an. «Du stellst die falsche Frage», sagt die kluge Psychologin von gegenüber, «du siehst doch glücklich aus, also überlege dir, wie du dieses Glück behalten kannst. Also nicht fragen, ob man heute glücklich sein wird, sondern was einen unglücklich machen könnte.» Die kluge Psychologin von gegenüber ist wirklich eine kluge Psychologin.

Ich schliesse das Fenster.
Und bin den ganzen Tag glücklich.