Freitag, 26. Februar 2021

Freiwillig???

In der wohl bekanntesten Oper von Giacomo Puccini sagt die Titelheldin Floria Tosca dem verhassten Polizisten Scarpia zu, sich ihm sexuell hinzugeben. Aber nicht aus freien Stücken, es ist die Bedingung für die Freilassung ihres Geliebten Mario Cavaradossi. Sie hat also nicht die Wahl, sie handelt unter Zwang, dass sie sich dem Zwang dann durch die Ermordung des Schuftes entzieht, macht die Sache nicht leichter…

Im Roman Misery von Stephen King ist Paul Sheldon, ein Autor von Kitschromanen verunfallt und von einem seiner grössten weiblichen Fans gerettet worden und wird von Annie Wilkes wie ein Gefangener gehalten. Als sie merkt, dass er seine Kitschserie durch den Tod der Hauptfigur Misery Chastain beendet hat und ein neues Typoskript dabeihat, dass ihr extrem missfällt, zwingt sie ihn, den neuen Text zu verbrennen und die Misery-Romane weiterzuschreiben. Wie zwingt sie ihn? Nun, sie hat ihn von einem Schmerzmittel namens NOVRIL abhängig gemacht…

Im Film Mr. und Ms. Smith, jener Streifen, bei dessen Dreharbeiten sich Brad Pitt und Angelina Jolie kennenlernten, sagt Herr Smith zu einer Geisel:
«Du hast 3 Optionen: A = du redest, kein Schmerz; B = du redest nicht und es wird wehtun; C = ich gehe nicht in Details, aber am Ende bist du tot.» Die Geisel entscheidet sich für A, vielleicht weil Frau Smith mit einem Telefon (ihm auf die Birne geknallt) nachhilft…

Alle drei Personen haben theoretisch eine Wahl, aber eben nur theoretisch.
Tosca kann den notgeilen Scarpia zurückweisen, aber dann bekommt sie eben keinen Passierschein für Cavaradossi, sie kann dem Bullen eine knallen und gehen, aber dann ist der Maler tot.
Paul kann sich weigern, das Typoskript zu vernichten, aber dann wird ihn der Schmerz ins Koma schicken.
Und die Geisel kann auch B oder C wählen, wird das aber nicht tun.

Und an diese drei Personen muss ich denken, wenn ich an die Impfdebatte denke.
Nein, es wird keinen Impfzwang geben.
Sicher nicht.
Überhaupt nicht.
Die Impfung wird freiwillig bleiben.
Allerdings…
Allerdings wird man den Geimpften einige Dinge wieder einräumen müssen, die sie jetzt ja wieder machen können. Zum Beispiel ins Schwimmbad gehen. Oder ins Museum. Zum Beispiel mit dem Flugzeug fliegen, oder im Club tanzen oder ins Restaurant gehen.
Und damit ist die Impfung eben nicht freiwillig, sondern eine Pflicht oder ein Zwang.

Jeder Mensch hat irgendwo einen Punkt, auf den er nicht verzichten kann und will. Irgendwo macht es so weh, dass man eben sich impfen lässt. Bei mir ist es das Schwimmbad, mein täglicher Schwumm (wie der Schweizer sagt) ist kein Luxus, sondern eine notwendige Bedingung für mein Körpersystem. Ohne meine Bahnen zu ziehen – und ich merke das seit Wochen – bin ich angespannt, nervös, habe leichte Kopfschmerzen und bin wie fiebrig, mein Vegetatives System spinnt, ich habe Wallungen und Kribbeln, alles nicht bedrohlich, aber anstrengend. Wenn nun der Besuch des Hallenbades Muttenz an die Impfung gekoppelt wird, dann lasse ich mich impfen, aber…
bitte,
bitte,
bitte redet nicht von freiwillig.

Auf Flugreisen kann ich verzichten, wer aber seine Kinder und Enkel in Ottawa und Shanghai hat, der wird zur Impfung gezwungen, es ist so zynisch zu sagen: «O, bitte, du musst dich nicht impfen lassen, du siehst halt dann deine Familie nicht, aber das ist deine Entscheidung…»
Ich brauche auch keine Beizen, aber ein Rentner, der nie kochen gelernt hat, der sehnt sich so nach dem Ende der Tiefkühlpizzen.
Und ich kenne viele, die Kultur wie die Luft zum Atmen brauchen…

Um es klarzustellen:
Ich habe nichts gegen einen Impfzwang, ich habe nichts gegen eine Impfpflicht, aber bitte, dann seid so ehrlich und sagt doch klar, dass der Zwang kommt.
Sagt klar und deutlich. Wir werden euch zwingen.

Floria Tosca lässt Scarpia nicht freiwillig an sich ran.
Paul Sheldon verbrennt nicht freiwillig seinen Text.
Die Geisel wählt nicht freiwillig A.
Und werde mich nicht freiwillig impfen lassen, aber ich akzeptiere die Pflicht – nur bitte auch so formulieren!

P.S.
Ich zahle auch meine Steuern, aber das ist auch nicht freiwillig…

Dienstag, 23. Februar 2021

Der R-Wert und die 7-Tage-Inzidenz

 «Ein Durchschnitt von 4,5 ist absolut OK.» So sagt mein Neffe zu mir, als er mir das Zeugnis zeigt. Ich betrachte kurz die Noten, stosse auf eine höchst erfreuliche 6 in Deutsch und eine sehr erfreuliche 5,5 in Englisch (für die Nichtschweizer: Notenskala von 1 bis 6 in Halbschritten), aber auch auf zwei weniger erfreuliche 3 in Biologie und Chemie (für die Nichtschweizer: Unter 4 ist nicht genügend). «Nun», sage ich, «vollkommen einverstanden. Vollkommen einverstanden, aber ich möchte dich doch daran erinnern, dass du zunächst, und zwar im August, die Parole KEINE NOTE UNTER 5 ausgegeben hattest, ein durchaus ambitionierter Plan, aber so hattest du gesagt, schon im Oktober war allerdings schon KEINE NOTE UNTER 4 daraus geworden. Dann, ich glaube im Dezember, ändertest du den Plan und sprachst auf einem Mal, Knall auf Fall und ohne Vorwarnung vom DURCHSCHNITT, und jener Schnitt, von dem du nun auf einem Mal, Knall auf Fall und ohne Vorwarnung sprachst, sollte bei 5 liegen. Du hast also nicht nur den Wert, sondern auch die Zählweise geändert, und das ist sehr irritierend.» Mein Neffe schaut mich kurz an, knurrt dann so etwas wie fckdchinskn und verzieht sich aufs Sofa zu seinem Game.

«Ein BMI von 27,8 ist völlig OK, das ist Normalgewicht.» So sagt mein Kollege, als wir im Schwimmbad nebeneinander sitzen und ich ein bisschen erstaunt auf seine (Corona?-)Wampe starre. «Nun», sage ich, «vollkommen einverstanden. Vollkommen einverstanden, aber ich möchte dich doch daran erinnern, dass du zunächst, und zwar noch vor fünf Jahren, die Parole STOLZ DARAUF SO DÜNN ZU SEIN ausgegeben hattest, eine durchaus diskussionswerte Sache, aber so hattest du gesagt, schon 2017 war allerdings schon ICH HABE IDEALGEWICHT daraus geworden und im Jahre 2018 schliesslich ICH HABE NORMALGEWICHT. Dann, ich glaube 2019 ändertest du den Plan und sprachst auf einem Mal, Knall auf Fall und ohne Vorwarnung vom BMI, und jener BMI, von dem du nun auf einem Mal, Knall auf Fall und ohne Vorwarnung sprachst, lässt bei einen 60 Jahren 90 Kilo, also 10 über NORMAL noch knapp als Normalgewicht zu. Du hast also nicht nur den Wert, sondern auch die Zählweise geändert, und das ist sehr irritierend.» Mein Kollege schaut mich kurz an, knurrt dann so etwas wie fckdchinskn und verzieht sich in die Dusche.

Sorry.
Aber man darf doch irritiert sein.
Aber…
Kennen wir das nicht auch, liebe Leserin und lieber Leser?

Da hat man eine weisse Lederhose gefunden, ohne die man die Boutique auf keinen Fall verlassen kann. Allerdings liegt sie mit 3895.—schon in einem Bereich, der nicht nur das Monats-, sondern auch das Jahresbudget für Kleidung sprengt. Und dann rechnen wir herum und gehen von Mittelwerten im Monat, Jahr und Jahrzehnt aus, und rechnen noch einmal weiter und drehen und wenden und kommen dann zum Schluss: Wenn wir die nächsten 8 Jahre keine Kleidung kaufen, dann liegt die Hose drin.
Und wir kaufen sie.

Da hat man sich vorgenommen, wieder mehr Sport zu machen. 30 MINUTEN PRO WOCHE, so lautet die Parole. Allerdings erfordert es eine ungeheure Disziplin, wirklich jeden Tag eine halbe Stunde zu joggen, zu schwimmen, zu skaten oder zu biken. Also ändern man die Parole in 3 ½ STUNDEN IN DER WOCHE, man wird nun zweimal 1 ¾ Stunden joggen oder schwimmen, skaten oder biken – also eher zweimal eine Stunde, darauf läuft es dann hinaus. Aber auch zweimal wirklich in Echtzeit zu joggen oder zu schwimmen, zu skaten oder zu biken ist disziplinös, und so kommt bald der Spruch 8 STUNDEN IM MONAT, einmal im Monat wird man einen Tag joggen, schwimmen, skaten oder biken. Und daraus wird dann ein Vormittag. Und wenn man ganz ehrlich ist, muss man zugeben, dass ein Vormittag im Monat nicht wirklich «mehr Sport» ist…

Und mit der gleichen Methode, also mit dem Verfahren «Wir ändern ständig die Art des Wertes und auch den Grenzwert selbst» fährt die Politik ja auch durch die Corona-Zeit. Erinnern Sie sich? R-Wert? Ja, den hat man inzwischen ganz vergessen, dabei war er im ersten Lockdown die entscheidende Grösse. R-Wert = 1 ist gut, das war die Parole, später dann mal 0,8 oder 0,6 oder 0,7, je nachdem ob man Herrn Lauterbach oder Herrn Drosten zuhörte. Dann kam irgendwann – wann, ja wann, ja wann? – die sogenannte 7-Tage-Inzidenz. (Die 7-Tage-Inzidenz ist die Anzahl der an sieben aufeinanderfolgenden Tagen in einer Region gemeldeten positiven PCR-Tests pro 100.000 Einwohner, so Wikipedia.) Ja, und nachdem diese ominöse Zahl da war, legte man sie auf 50 fest. 50 war also der Wert, der nicht überschritten werden durfte.
Und jetzt?
Jetzt sind es in Deutschland auf einmal 35.
Versteht kein Mensch, böse Leute würden fast behaupten, da will jemand um keinen Preis eine Besserung, denn: Was kommt, wenn wir 7-Tage-Inzidenz 35 haben, kommt dann nochmal eine Zahl?

Ich habe nichts gegen Messungen. Und ich habe auch nichts gegen Grenzwerte. Nur bitte: Bleibt bei einer Methode und einer Zählart und dann auch bei einem Wert.
Die Menschheit wird euch danken.

Freitag, 19. Februar 2021

...war ein Maler, Grosstädter und Butterbrotesser (hä?)

Ich habe zu Weihnachten Anna von Erika Pluhar geschenkt bekommen. Ein schönes Buch. Ein poetisches Buch. Ein Buch, das ich mit grossem Genuss gelesen habe. Wenn man sich in die Geschichte von dem asthmakranken Mädchen vertieft, wird relativ schnell klar, dass es sich bei der Titelheldin um Pluhars Tochter Anna Proksch handelt und bei der Gestalt, die im Roman einfach nur die «Mutter» heisst, natürlich um die Autorin selber. Da ich mit der Geschichte der Schauspielerin und deren familiären Zustände noch zu wenig vertraut bin, ich weiss nur, dass sie eine Zeit lang auch mit André
Heller liiert war, googele ich ein bisschen herum.
Und stosse mit grossem Erstaunen auf den Vater von Anna Proksch:

Udo Rudolf Proksch (Pseudonym Serge Kirchhofer; * 29. Mai 1934 in Rostock; † 27. Juni 2001 in Graz) war ein österreichischer Unternehmer, Netzwerker, Designer und Massenmörder. Er wurde als Drahtzieher des Falls Lucona 1992 wegen sechsfachen Mordes verurteilt und war bis zu seinem Lebensende in der Strafanstalt Graz-Karlau inhaftiert.

Das kann ja nun nicht ganz wahr sein! Welcher Hirnamputierte hat denn das geschrieben? Proksch war also Unternehmer, Netzwerker, Designer und Massenmörder? So als ob «Massenmörder» sein vierter Beruf gewesen sei? Hat er sich auch so vorgestellt, «Hallo, ich bin der Udo, ich bin Netzwerker, Designer und Mörder?»
Nur so zum Vergleich: Bei Don Carlo Gesualdo da Venosa steht Fürst und Komponist und NICHT Fürst, Komponist und Frauenmörder. Und bei Janis Joplin steht US-amerikanische Rock- und Bluessängerin und NICHT US-amerikanische Rock- und Bluessängerin und Drogentote. Und bei keinem der unzähligen Selbstmörder steht eben dieser Freitod oben in der Kopfzeile.

Unternehmer, Netzwerker, Designer und Massenmörder
Ich logge mich natürlich sofort ein, schliesslich bin ich Autor. Dann aber stutze ich. Mit welchem Kriterium werde ich einen Änderungswunsch begründen?
Rechtschreibung und Grammatik? Der Beginn des Artikels über Udo Proksch ist absolut korrekt geschrieben.
Relevanz-Kriterium? Nun, die Tatsache, dass Proksch ein Schiff versenkte, um eine Versicherungssumme zu kassieren, dabei 6 Leute tötete, dass dieser Skandal, da Proksch gedeckt wurde, zu einem handfesten Polit-Skandal wurde, diese Tatsache ist relevant, auf jeden Fall.
Wahrheit? Der Fall, der sogenannte Lucona-Fall (1992) ist wahr. Leider.
Mit welcher Begründung soll ich dann den Artikel ändern? Das es einfach dämlich ist, so aufzuzählen?

Um es noch einmal klar zu stellen: Ich habe nichts gegen die Nennung von Verbrechen in der Kopfzeile von Wikipedia.
Fritz Haarmann war natürlich «ein Serienmörder» – und nur das.
Harvey Lee Oswald war natürlich «der mutmassliche Mörder des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy» - und nur das. (Die Reihe liesse sich fortsetzen.)
Ich habe etwas gegen blöde Kombinationen.

Wahrscheinlich kommt die Zusammennennung von Dingen aus ganz verschiedenen Stufen aus der Werbung. Hier wollen einem doch die Hersteller diverser Stimulantia und Anreger, von Vitaminpräparaten und Proteintropfen uns klarmachen, dass eben diese Stimulantia und Anreger, Vitaminpräparaten und Proteintropfen uns ermöglichen und helfen, die 14 verschiedenen Ebenen unseres Lebens unter einen Hut zu bringen.
Da schafft es die Ruth Schmid, 29, eben dank Truopin® Mutter, Designerin, Kaffeetrinkerin, Handballerin und Zürcherin zu sein.
Da gelingt es Robi Hillberger, 45, dank Power-Saltz® Unternehmer, Gemeinderat, Schwimmer, Hundehalter, Geniesser und schwarzhaarig zu sein.
Und Rita Thyrli, 80 ist dank Zofo78® Oma, Kuchenbäckerin, Vieltelefoniererin und Wandersfrau
Die Frage, die sich natürlich stellt, ist, welcher Aspekt ohne das Stimulans, ohne den Anreger, ohne das Vitaminpräparat und ohne die Proteintropfen fehlen würde.
Wäre Ruth Schmid ohne Truopin® nur Kaffeetrinkerin und Zürcherin oder wäre sie nur Mutter? Und keine Zürcherin – was keinen Sinn macht.
Wäre Robi ohne die Salze nur Unternehmer oder wäre er nur Gemeinderat oder wäre er nur Schwimmer? Und wäre er ohne Power-Saltz® blond und hätte er ohne das Präparat eine Katze?
Was wäre Rita ohne das Stimulans, was wäre die Achtzigjährige ohne ihr Zofo78®? Wäre sie keine Grossmutter oder würde sie weniger telefonieren und ihren Kuchen kaufen?
Alles Quatsch.
Die Werbung suggeriert uns, dass wir mit den Präparaten, mit den Stimulantia und Anreger, den Prote- und Vitaminen tausend und Millionen verschiedene Personen sein können.
Und das überträgt man dann auf Wikipedia.
Und schafft damit Unternehmer, Netzwerker, Designer und Massenmörder.

Und nun bin ich am Überlegen, was bei mir stehen könnte. Vielleicht
Rolf Herter ist ein deutscher Dirigent, Pianist, Pädagoge, Blogger, Schwimmer und Kaffeetrinker
oder
Rolf Herter ist ein deutscher Dirigent, Pianist, Pädagoge, Blogger, Schwimmer, Partylöwe, Keksbäcker, Weintrinker und Brillenträger
oder















 

Dienstag, 16. Februar 2021

Bitte nicht malen UND schreiben UND musizieren! Bitte!

Carl Pfeiffer, der Dirigent des Sinfonieorchesters Weppen an der Weppe, ein ausserordentlich begabter und beliebter Musiker, hat jetzt ein Buch geschrieben. Nachdem nun letztes Jahr die Ausstellung seiner Ölbilder im Kunstmuseum Weppen (Titel Vision und Wirklichkeit) eine kleine örtliche Sensation war, erlebt nun das Weppener Kulturpublikum die Buchvernissage – online, natürlich! – von Telefonate um Mitternacht, Pfeiffers ersten Roman. Und genauso wie die Bilder zu teuersten Preisen erworben wurden, werden schon bei der Präsentation 4000 Exemplare von Telefonate um Mitternacht bestellt.

Auch der Gedichtband von Claudia v. Schwollen ist ein Erfolg. Sie, die eigentlich Plastiken macht und mit diversen Ausstellungen in grossen Häusern punkten konnte (Kunstmuseum Stuttgart, Kunsthalle Basel, Forum Würth Schwäbisch Hall etc.) hat jetzt schon über tausend Male – online, natürlich! – Holziges Hölzern in Holz verkauft, ihr Buch mit 69 Gedichten. Ja, und ihr Debut als Leadsängerin der Indierock-Gruppe Wild Wives konnte im Juli 2020 im Loch zwischen den beiden Lockdowns tatsächlich über die Bühne gehen und war für die 8000 Leute, die begeistert mittanzten eine super Sache.

Artur Abelsen ist nun wirklich ein Mann des Wortes, der Schrift und des Schreibens. Er schreibt Essays und Berichte für alle grossen Zeitungen wie ZEIT, Süddeutsche, FAZ und taz und hat mit
Themen / Schemen und Junge Dame / Altes Haus zwei beachtliche Theaterstücke geschrieben, sein erster Roman wird 2022 erscheinen. Nun hat Abelsen aber 2020 auch eine CD mit Klavierimprovisationen herausgebracht (mit dem griffigen Titel Artur Vol. I) und 2019 stellte das Kunstmuseum Bottrop (seine Heimatstadt) etliche Radierungen von ihm aus. CD wie auch Radierungen wurden von allen grossen Zeitungen wie ZEIT, Süddeutsche, FAZ und taz gut besprochen…

Drei Lebensläufe, drei Erfolgsgeschichten.
Wieso glaube ich sie nicht? Wieso kann ich mir nicht vorstellen, dass Pfeiffer, von Schwollen und Abelsen in sowohl Musik als auch Bildender Kunst als auch Literatur etwas Vernünftiges zustande bringen? Anders formuliert: Wieso halte ich es für unmöglich, dass die drei in den jeweils beiden anderen Sparten das Gleiche schaffen wie in ihrer eigentlichen?
Weil es das nie gab.
Doppelbegabungen gibt es und gab es, aber Tripelbegabungen? Es gab Schriftsteller-Maler wie Dürrenmatt oder Hesse, aber die spielten dann nicht auch noch Orgel, es gab Dichter-Musiker wie E. T. A. Hoffmann oder Cohen, die malten dann aber keine Bilder, ganz selten gab es einen Maler-Musiker wie Cage, der dann nicht auch noch Theaterstücke schrieb.

Aber…
Aber…
Aber, werden Sie sagen, aber die haben doch alle Erfolg! Ja, die haben Erfolg, aber der Erfolg im Hauptgebiet löst die anderen mit aus, da können die begabt sein oder auch nicht.
Man geht in Visionen und Wirklichkeit und man liest Telefonate um Mitternacht, weil man Pfeiffer kennt , und man kennt ihn eben, weil Pfeiffer Chefdirigent in Weppen an der Weppe ist und man denkt, dass jemand, der so sensibel und doch kraftvoll, so gekonnt und inspiriert dirigieren kann, eben auch genauso sensibel und kraftvoll, so gekonnt und inspiriert malt und schreibt, und man gesteht sich nicht ein, dass es eben nicht so ist.
Man interessiert sich für Holziges Hölzern in Holz und die Wild Wives, weil man sich für Claudia von Schwolle interessiert, aus keinem anderen Grund.
Und Abelsen hat natürlich für seine Kunstwerke und für seine Musik die besten Besprechungen, einfach, weil er in den Redaktionen von ZEIT, Süddeutsche, FAZ und taz ein und aus geht. Aber selbst wenn der festangestellte Kollege ihn verreisst, ein Verriss an prominenter Stelle – das wissen wir – ist oft viel besser als ein Lob in einer Provinzzeitung.

Die drei haben also Erfolg, weil sie bekannt sind.
Punkt.
Und auf eben diesen bringt es Lars Eidinger, der seit Jahren Fotos macht und ausstellt (sogar echt gute) und der jetzt seinen ersten Foto-Band herausgebracht hat, wenn er sagt: «Ich weiss genau, dass die Leute sich nicht meine Bilder ansehen, weil es so tolle Bilder sind, sondern sie sehen sich meine Bilder an, weil ich Lars Eidinger bin.»

Wobei eben der Herr Eidinger noch gute Fotos macht, was tun wir, wenn – um mal irgendeinen Namen zu nennen – Irina Beller anfängt zu singen, oder – um es noch schrecklicher zu machen – anfängt zu singen UND zu malen, oder – um den Teufel vollständig an die Wand zu malen – anfängt zu singen UND zu malen UND Gedichte zu schreiben? Ein Publikum hätte die Society-Lady ob ihrer Bekanntheit sicher. Obwohl sie sicher eine Tripel-Unbegabung wäre…
Eine Tripel-Unbegabung haben wir hier auch in Basel: Eine Musikerin, die dann auch (schlecht) malte und nun einen (unglaublich schlechten) Roman über eine Zauberflöten-Produktion herausgebracht hat. Aber auch sie: Lokal bekannt und die Leute kommen und kaufen.

Zum Schluss ein Versprechen, da wir ja im Dürrenmatt-Jahr sind, im Stil von Friedrich:
Leserschaft der Dienstag-Freitag-Glosse: Du wirst nicht malen?
Rolf Herter: Ich werde nicht malen.
Leserschaft der Dienstag-Freitag-Glosse: Versprichst du es?
Rolf Herter: Ich verspreche es.
Leserschaft der Dienstag-Freitag-Glosse: Versprichst du es bei deiner Seligkeit?
Rolf Herter: Ich verspreche es bei meiner Seligkeit.





Freitag, 12. Februar 2021

Der Dürrenmatt-Essay

Im Supermarkt treffe ich meinen Freund Klaus. Er sieht müde aus, ungepflegt und riecht nicht gut, er macht also einen eher verwahrlosten Eindruck, einen schlimmen und schlechten. Ich frage ihn rundheraus, was los sei.

Er sei in einer blöden Situation, er habe ganz schreckliche Wochen hinter sich und die Sache sei jetzt noch viel dümmer.

Begonnen habe das Ganze mit einem Anruf eines befreundeten Verlegers. Dieser wollte bis Ende Januar einen kleinen Essay über Dürrenmatt, der ja – das wisse ich sicher – der wichtigste Schweizer Jubilar des Jahres sei. Jener Verleger wollte also nun einen Essay, ca. 20 000 Wörter, der zusammen mit zwei anderen Texten und Zeichnungen des guten Friedrich in einem bibliophilen Bändchen erscheinen solle.

Klaus habe nun, wie er berichtet, sich auf den 3. 1. 2021 in einem abgelegenen Tal eine – ich möge das dumme Wortspiel verzeihen – Klause gemietet. Vorräte, so der Vermieter, seien da, denn der nächste VOLG sei weit weg, es habe auch 8 Hühner, die köstliche Eier legten, und ja, W-Lan sei auch da, Klaus könne also in der Klause konzentriert recherchieren und schreiben.

Aber schon auf der Hinfahrt habe ihn irgendwie ein leises Grauen befallen, ob das alles gut ausgehe, bei der Fahrt in jenes abgelegene Tal seien ihm alle Tunnel länger und steiler vorgekommen, als er sie in Erinnerung gehabt habe, einmal habe er geglaubt, am Strassenrand ein Auto mit einer Leiche zu sehen und beim Tanken habe ihn der finster rauchende Tankwart wie einen Verbrecher angeglotzt.

In der Talklause sei dann zunächst alles gut gewesen, er habe sich eingerichtet und die Hühner begutachtet, die er sogleich ins Herz geschlossen und ihnen Namen gegeben habe: Dürrenmatt, Frisch, Muschg, Widmer, Bärfuss, Lüscher, Jenny und Sulzer.
Er habe dann beschlossen, die Arbeit auf den nächsten Tag zu verschieben und habe einen langen Spaziergang gemacht. Und dann, am Abend, am späteren Abend, wahrscheinlich auch nach etwas Wein, wahrscheinlich nach etwas viel Wein – man könne ja, so Klaus, über Dürrenmatt, der ja ein riesengrosser Trinker gewesen sei, nicht nüchtern nachdenken – auf jeden Fall nach sehr viel Wein habe er einen grossen Fehler gemacht: Er habe mehrere Stunden onlinegeshoppt und ziemlich viel Geld ausgegeben, für Schmuck, Elektronik, Parfüm und für neue Schuhe, neue gelbe Schuhe.

Der nächste Tag habe schlecht begonnen, denn die Hühner hätten nichts gelegt gehabt, Dürrenmatt und Frisch nicht, Muschg und Widmer nicht und auch Bärfuss, Lüscher, Jenny und Sulzer hätten keine Eier geliefert. So habe er nach einem spartanischen Frühstück sich an den Schreibtisch gesetzt und immerhin ein paar wichtige Vorarbeiten gemacht: Provisorisches Inhaltsverzeichnis, grobe Ausgangsthesen, Überschriften, er habe ein wenig recherchiert und ab 16.00 wieder getrunken, man könne – er wiederhole sich – über Dürrenmatt, der ja ein riesengrosser Trinker gewesen sei, nicht nüchtern nachdenken. So habe er in der frühen Nacht noch einen kleinen Ausnüchterungsspaziergang gemacht und sei dann ins Bett gefallen.

Auch am nächsten Tag das Gleiche: Die Hühner verweigern ihren Dienst, Dürrenmatt und Frisch legen nicht, Muschg nicht und Widmer nicht, Bärfuss legt nicht und Lüscher legt nicht und auch Jenny und Sulzer nicht. Dann wieder schlechter Wirkungsgrad und ab Nachmittag Alkohol. An diesem Abend wurde ihm, so Klaus, klar, dass er den Essay nicht schaffe. Aber – und hier machte sich nun der Fehler des ersten Abends so hart bemerkbar – er habe das Geld ja schon zum Teil ausgegeben gehabt, er hatte sich verschuldet, er habe neue Ketten gekauft und einen neuen Laptop, neues Parfüm und neue gelbe Schuhe, und damit sei er gezwungen gewesen, weiterzumachen.

Die Trinkerei – man könne ja, so Klaus, über Dürrenmatt, der ja ein riesengrosser Trinker gewesen sei, nicht nüchtern nachdenken – habe schliesslich dazu geführt, dass er Visionen gehabt habe: Regelmässig sei ihm vor dem Fenster in der verschneiten Landschaft der König Salomon erschienen und habe mit ihm geredet.
Am 15. Tag schliesslich sei er gestürzt, und sein Abtransport in ein Klinikum sei ebenfalls zur Katastrophe mutiert, erst die dritte Mannschaft Sanitäter konnte ihn abtransportieren, zwei Mannschaften seien selber gestürzt und hätten sich grob verletzt.
So, und nun sässe er da: Ohne Essay, mit kaputten Knochen, hochverschuldet und mit einem Alkoholproblem.

Ich fing an zu lachen. Klaus sah mich böse an: Ob ich das alles nur lustig finde, aber er habe schon immer gewusst, dass ich ein mieser Freund sei.
«Aber Klaus!», rief ich, «du musst das doch alles nur aufschreiben!» Und dann erklärte ich ihm, dass sein ganzer Aufenthalt dürrenmattisch gewesen sei: Fetzen aus dem Versprechen, dem Tunnel und Richter und Henker bei der Hinfahrt, die Hühner aus dem Romulus, die Verschuldung durch gelbe Schuhe aus dem Besuch der Alten Dame, ja und auch sein Salomon komme ja aus den Physikern und die stürzenden Helfer aus dem Meteor.

Da fing mein Freund an zu strahlen und rannte heim, seine apokalyptischen Erlebnisse zu Papier zu bringen.





Dienstag, 9. Februar 2021

Rehabilitationsreise nach...

Wissen Sie, was eine Rehabilitationsreise ist?
Ja, das könnte eine Reise in ein Rehabilitationszentrum sein, in ein Kurbad oder eine Physio-Oase, also zu einem Ort, der der persönlichen Rehabilitation dient.
Ist es aber nicht.
Es könnte auch eine Reise sein, bei der man zu einer Person reist, die Rehabilitation benötigt, also eine Reise, auf der man einem Mensch Dokumente und Akten bringt, die dann eine Rehabilitation einleiten.
Ist es aber auch nicht.
Eine Rehabilitationsreise ist eine Reise, die den bereisten Ort rehabilitiert, es geht also um die Rehabilitation einer Stadt, einer Landschaft, um die Rehabilitation eines Ortsteils, einer Region, um die Rehabilitation einer geografischen Gegebenheit.

Sie alle kennen das: Da fährt man nach Wuppin, in eine Stadt, die eigentlich im Internet einen ganz netten Eindruck machte, man will durch den wunderschönen Barockpark schlendern, man will die Arp-Ausstellung im Museum besuchen, man will einen Kaffee in der Fussgängerzone trinken und die berühmte Schillerstatue auf dem Markplatz anschauen.

Und dann geht alles schief: Der Zug hat 5 Minuten Verspätung, sodass der Bus nicht wartet und man 45 Minuten am scheusslichen Bahnhof wartet, er liegt dann doch zu weit vom Stadtkern. Wenn man dann endlich im Zentrum angekommen ist, beginnt es zu regnen. Also streicht man Barockpark und Kaffee in der Fussgängerzone, man trabt durch den Vollsiff zum Museum, wobei man (natürlich?) in einen Hundehaufen tritt. Das Museum musste (natürlich?) am Vortag wegen Mottenbefalls für zwei Tage schliessen. Also geht man erst mal essen und (natürlich?) ist das Essen grauenhaft.
Bliebe das Schillerdenkmal, aber das ist (natürlich?) eingerüstet.

Und nun haben sich – obwohl alles nur eine blöde Verkettung ist – folgende Meinungen im Hirn festgesetzt:
Erstens: Wuppin ist scheisse.
Zweitens: Keine zehn Pferde bringen mich noch einmal nach Wuppin.
Und hier braucht es nun eben eine Rehabilitationsreise, Wuppin braucht Rehabilitation. Und siehe da: Wenn man es ein zweites Mal nach Wuppin wagt, dann wird der Bus am Bahnhof parat stehen, es wird NICHT regnen, es wird KEIN Hundehaufen da sein, man wird also Barockpark und Kaffee geniessen, auch das Schillerdenkmal wird NICHT eingerüstet sein, gut, das Museum hat keinen Arp, aber es hat Richard Serra, und das ist ja genauso gut, oder?

Bei mir werden – wenn man überhaupt wieder reisen darf – zwei Orte Ziel von Rehabilitationsreisen sein: Pirmasens und Domodossola. Beide Schockerlebnisse, das mit der pfälzischen Schuh-Stadt und das mit der Gemeinde am Ende des Simplon, liegen weit zurück, liegen in meiner Kindheit, und wenn ich jetzt google und mir die Bilder anschaue, dann habe ich das Gefühl, diese Städte noch nie gesehen zu haben. Die Stadtkirche mit der Wassertreppe, der sehr ansehnliche Markplatz, all die Strassen, das ganze Ambiente, das ist doch sehr nett (Pirmasens). Und Domodossola ist eine typische Stadt der italienischen Alpen mit engen Gassen, einer pittoresken Piazza, Kirche und schönen Brunnen, und ich finde im Internet nichts, gar nichts, überhaupt nichts von dem Dreck und dem Chaos, das ich in meinen Erinnerungen habe…

So. Und nun hat die Menschheit eine grosse Rehabilitationsreise vor.
Da war man vor fast 52 Jahren an einem Ort und der war – sagen wir es einmal diplomatisch – nicht ganz so nett, wie man sich gedacht hatte.
Da hatte man weder Kosten noch Mühe gescheut, hatte sich sehr, sehr, sehr angestrengt und dann war es dort nicht wirklich schön. Es war steinig und wüstig, es gab keine Pflanzen und keine Wälder, keine Bäche und Flüsse sprudelten und keine Tiere grasten an den Ufern. Man konnte – ich kann es nicht anders sagen – nicht atmen, es war nur deprimierend, nur bedrückend, nur öde, nur trist, nur blöd und doof.

Sie ahnen, liebe Leserin, lieber Leser, was ich meine?
Ich meine die Reise zum Mond.

Ja, und nun will man wieder hin. Und das wird so eine Rehabilitationsreise. Dieses Mal wird man die anmutigen Wasserläufe finden, an denen goldene Hirsche und silberne Tiger fröhlich spielen, dieses Mal wird genug Luft zum Atmen da sein, dieses Mal wird es lustig und schön.

Es gibt nun nur ein kleines Problem: Geld.
Sowohl in der Pfalz als auch im Piemont bekomme ich sehr günstige Hotels angeboten, unter 100 Franken pro Nacht, nach Pirmasens würde ich für ca. 50 Euro fahren und nach Domodossola gratis, denn ich habe ja das Schweizer GA, das Vollabonnement und die Stadt liegt ja direkt an der Grenze.
Auf den Mond zu reisen wird teuer, sehr teuer, es wird Geld kosten, das man eigentlich nicht hat. Ich meine, jetzt gerade über Mondfahrten nachzudenken, in einem Moment, wo weltweit Billiarden gebraucht werde, um die coronageschädigte Wirtschaft wieder zu beschwingen, hat fast etwas Zynisches.

Aber vielleicht ist das ja wichtig. Vielleicht muss man den Mond eben doch mit allen Mitteln rehabilitieren.
Und Vicky Leandros wird ihr Lied umschreiben:
Auf dem Mond da blüh -üh-ühen Rosen.
Auf dem Mond, da gibt es Mondenschein.
Darum bleib ich nicht hier, auf der Erde bei dir.
Auf dem Mond können wir glücklich sein.





Freitag, 5. Februar 2021

Jahresrundbriefe im Konjunktiv

Der Januar ist der Monat der Jahresbriefe. Ab dem 2. oder 3. schneien sie ins Haus, manche hochwillkommen und erwartet, manche mit spitzen Fingern aus dem Briefkasten geholt, manche belächelt und begrinst, manche verärgert weggeworfen…

Was viele Schreiber nicht begreifen, ist das, was in der Schreibdidaktik als „ziel- und adressatenorientiertes Schreiben“ bezeichnet wird, also schlicht und einfach und simpel und klippklar die Frage, an wen ein Schreiben geht und was man damit erreichen will. Also hier konkret:

Geht ein Jahresbrief an die Freunde, und nur an die Freunde, dann kann man auch über Schlimmes und Negatives, über Übles und Böses berichten, denn Kennzeichen einer Freundschaft ist es ja, dass man mit dem / der anderen durch Dick und Dünn geht, in guten wie in schlechten Tagen… Da kann man dann auch z. B. schreiben:
Im März geriet unsere Beziehung in eine kleine (oder eher grosse) Krise, die darin gipfelte, dass Marta versuchte, mich am 15. 3. aus dem Fenster zu stossen.

Das kann man in einem Brief an flüchtige Bekannte, Notwendigkontakte und Geschäftspartner natürlich nicht. Ein Jahresbrief an flüchtige Bekannte, Notwendigkontakte und Geschäftspartner hat einzig die Funktion, Präsens zu markieren, also den flüchtigen Bekannten, Notwendigkontakten und Geschäftspartnern zu zeigen: Wir sind noch da! Es gibt uns noch! Da stehen dann so Sätze wie
Im März widmeten wir uns – nachdem wir uns in den ersten beiden Monaten voll dem Unternehmen gegeben hatten – auch wieder mehr persönlicher Bedürfnisse.
(dem Gattenmord, siehe oben, aber das wird man flüchtigen Bekannten, Notwendigkontakten und Geschäftspartnern sicher nicht schreiben…)

Am nettesten, schönsten sind dann sicherlich die Jahresbriefe an die FEINDE. Hier hat man nur ein einziges Schreibziel: Neidisch machen. Immer schwingt ein «und du nicht…», ein «und du nur…» und ein «und du stattdessen…» mit. In diesen Jahresbriefen stehen dann Sätze wie
Im Februar lud uns der Präsident des Bundesverbandes zur alljährlichen Tagung nach Sylt ein. (Und dich nicht!) Im Mai durften wir vier Wochen in New York verbringen. (Und du nur zwei in München!) Im Juli besichtigten wir auf dessen Einladung das Château des letzten lebenden Baron de Montbéliard. (Und du nur das örtliche Wasserschloss!)

Ganz verkehrt ist es, die verschiedenen Adressaten und Ziele zu vermischen, das gibt dann so eine Epistel, die zwischen allen Stühlen hin und her eiert und einen wüsten Slalom zwischen allen Bänken fabriziert: Im Juli lud der GHK meine Firma (dies für Notwendigkontakte und Geschäftspartner) nach Las Vegas ein (für Feinde: Neid, Neid, Neid…), was sich aber als ein schlimmer Ort herausstellte. (Freunde).

Das Jahr 2020 hat nun ein neues Genre hervorgebracht:
Den Konjunktiv-Jahresbrief.
Wir wollten ja alle so viel in jenen vergangenen 365 Tagen, wir wollten so viel im 2020, wir wollten so viel in diesen 12 Monaten, aber das ging ja alles nicht. Das Schöne ist: Alle Behauptungen sind nicht nachprüfbar, man kann das Blaue vom Himmel herunterlügen, niemand kann einem etwas anhaben. Und so sitze ich gerade an einem Brief für meine Feinde, der von solchen Konjunktiven nur so strotz:

Mitte März wäre ich eigentlich in Berlin gewesen, um den RIAS-Kammerchor in drei Konzerten zu dirigieren (Schütz, Brahms, Lachenmann) natürlich fielen Schütz, Brahms, Lachenmann dem Lockdown zum Opfer, genauso wie mein Debut in Stockholm. Danach wollten wir eigentlich uns ein paar schöne Shopping-Wochen in New York, auch das natürlich nicht möglich. Immerhin erfreuten uns die Fondation Beyeler mit zwei tollen Ausstellungen (als Ersatz für die grosse Degas-Retrospektive in Tokio) und das Gartenbad Joggeli (als Ersatz für die Bahamas). Im November und Dezember wären dann wieder Weihnachtskonzerte mit dem SWR Vokalensemble in Hamburg, Paris, Rom und Prag auf dem Plan gewesen, auch das fiel dem Virus zum Opfer.

Und während ich noch WÄRE und HÄTTE und HÄTTE und WÄRE schreibe, denke ich darüber nach, ob man mir glauben wird.
Wahrscheinlich nicht.
Es scheint ja nur zunächst nur so demokratisch und liberal, es scheint nur zunächst so, dass hier alle gleich sind, wenn alle nichts machen können, wenn alle nichts kaufen können, wenn alle nicht reisen können, dann sind doch alle gleich:
Ina Böllmann kann keine Sneakers kaufen (45,90) und Irina Beller keine Pumps (4590.--)
Ina Böllmann kann nicht nach Malle (1 Woche VP 659.--) und Irina Beller nicht ins Negresco (1 Nacht 859.--)
Ina Böllmann kann nicht in den Burger King (Whopper Menü 6,99) und Irina Beller nicht ins Chez Hugo (Degustationsmenü 169.--)

Es sind aber nicht alle gleich.
Nein.
Es ist noch ungleicher als vorher: Konnte vor Corona Frau Böllmann mal noch richtig sparen und konnte sie dann ihre Pumps zeigen und schreien: «Habe ich mir gegönnt!», dann wird jetzt kein Mensch glauben, dass sie sich diese Schuhe kaufen wollte, aber dass es leider nicht ging…

Nein, ich denke, ich werde den Konjunktiv-Brief sein lassen und es wie jedes Jahr machen:
Gar keinen schreiben. Denn meine Freunde kontaktiere ich persönlich, flüchtige Bekannte, Notwendigkontakte und Geschäftspartner brauche ich keine und Feinde besitze ich nicht.
Wirklich.











 

 

 

 

 

Dienstag, 2. Februar 2021

Warum haben wir 2020 nicht gestrichen?

Seit ein paar Wochen sind wir nun im 2021, und das, was man am meisten jetzt gerade hört, ist der Satz, dass das Neue Jahr nur besser werden kann als das alte…

Was ich nicht verstehe, ist, warum man das Jahr 2020 nicht einfach ausgelassen hat, also ich meine wiederholt, oder besser gesagt jetzt ein 2020/2.0 macht. Das letzte Jahr hätte dann einfach nicht stattgefunden, es wäre eine Fiktion, es wäre das Ergebnis einer Verschwörungstheorie.

Unmöglich?
Nun, es gibt ja immer wieder Historiker, die behaupten, dass die Äbte und Mönche des Mittelalters, dass die Jungs in St. Gallen und St. Goar, dass die Benediktiner und Barfüsser einfach mal ein Jahr gestrichen oder hinzugefügt haben. Wäre theoretisch möglich, viel Quellen hat man ja nicht und die die Äbte und Mönche, Prioren und Novizen, die Jungs in St. Gallen und St. Goar, St. Cluny und St. Pölten, die Benediktiner und Barfüsser, Zisterzienser und Kapuziner waren einfach die einzigen, die schreiben konnten. Klammer auf: Es gibt sogar einen Publizisten – wenn man einen so schrägen Typen überhaupt noch als Publizisten bezeichnen kann – namens Illig, der die Jahre zwischen 614 nach Christus und 911 nach Christus, also die Spanne zwischen DCIV a. D. und CMXI a. D. komplett erfunden sind. Die «Theorie vom erfundenen Mittelalter» auch «Phantomzeit-Theorie» ist eine der Verschwörungstheorien, die richtig Spass macht.
Nun, 300 Jahre zu erfinden ist viel, aber ein Jährchen? Kann es nicht sein, dass es das Jahr 756 nach Christus, sprich anno Domini DCCLVI zweimal gab, einmal als Mistjahr mit Krankheit und Missernte und Plagen und Sorgen und dann noch einmal ohne das alles und die Mönche konnten dann schreiben: 755 haben wir um Glück gebetet und das nächste Jahr wurde gut…

Im 20. Jahrhundert – gemäss Illig natürlich erst das 17. Jahrhundert, aber lassen wir das – wäre das Wegstreichen ganzer 365 Tage sicher sehr, sehr, sehr schwierig gewesen. Aber nun, im einundzwanzigsten – gemäss Illig das achtzehnte – wäre das ganz einfach. Bei alle der Vernetzung, der Verschaltung, bei all dem Net und www und bei all dem Funk und all den Wellen und Strömen, bei der Monopolisierung bei einigen Hübschen im Silikon Valley, wäre es doch ein Klacks gewesen, vom 31.12.2020, 23.59 Uhr auf den 1.1.2020, 0.00 Uhr umzustellen.

Natürlich wäre man verdutzt gewesen.
Sehr verdutzt.
Der Laie hätte gestaunt und der Fachmann hätte sich gewundert.
Zunächst hätte natürlich jeder gedacht, dass sein Laptop (zum Beispiel) ein Problem mit der Zeit hätte, aber wenn auch das Handy… und die Funkuhr… und das Tablet… Und dann hätte man das Radio angemacht oder den Fernseher und hätte gehört: «Es ist der 1. Januar 2020 – Sie hören (sehen) die Nachrichten. Und irgendwann hätte man es geglaubt.

Und was hätte man mit den Erinnerungen gemacht?
Ich bitte Sie: Erinnerungen an was? An die zwei Tage Kurzferien zwischen zwei Lockdowns? Die drei Verwandtenbesuche? Die eine kleine Sommerparty?
Es ist ja so wenig passiert, dass man ja eh das Gefühl hat, das Jahr habe nicht stattgefunden.

Bei allen kulturellen Dingen läuft es anders. Da auch dort der Kalender zurückgestellt wird, kann nun alles genau zu dem Zeitpunkt stattfinden, der auf den Plakaten steht:

GOYA – DAS GRAFISCHE WERK
20. März bis 14. Juni 2020 / Kunstmuseum Brugg

LUDWIG VAN BEETHOVEN: SINFONIE NR. 8 / VIOLINKONZERT
Ludwig Monn, Violine / Orchester der Stadt Helzberg / Leitung: Dietmar Mumm
15. Mai 2020 / 20.00 / Stadthalle Helzberg

Das ist doch wunderbar. Das ist doch schön.
Man wird sich zwar wundern, warum einem die Plakate so bekannt vorkommen, warum man das Gefühl hat, die hingen da schon Ewigkeiten, die hingen da schon über ein Jahr, aber das ist ja manchmal so komisch mit der Zeit…

Seit ein paar Wochen sind wir nun im 2021, und das was man am meisten jetzt gerade hört, ist der Satz, dass das Neue Jahr nur besser werden kann als das alte…
Was ich nicht verstehe, ist, warum man das Jahr 2020 nicht einfach ausgelassen hat, also ich meine wiederholt, oder besser gesagt jetzt ein 2020/2.0 macht. Das letzte Jahr hätte dann einfach nicht stattgefunden, es wäre eine Fiktion, es wäre das Ergebnis einer Verschwörungstheorie.

Technisch wäre es möglich gewesen.