Freitag, 12. Februar 2021

Der Dürrenmatt-Essay

Im Supermarkt treffe ich meinen Freund Klaus. Er sieht müde aus, ungepflegt und riecht nicht gut, er macht also einen eher verwahrlosten Eindruck, einen schlimmen und schlechten. Ich frage ihn rundheraus, was los sei.

Er sei in einer blöden Situation, er habe ganz schreckliche Wochen hinter sich und die Sache sei jetzt noch viel dümmer.

Begonnen habe das Ganze mit einem Anruf eines befreundeten Verlegers. Dieser wollte bis Ende Januar einen kleinen Essay über Dürrenmatt, der ja – das wisse ich sicher – der wichtigste Schweizer Jubilar des Jahres sei. Jener Verleger wollte also nun einen Essay, ca. 20 000 Wörter, der zusammen mit zwei anderen Texten und Zeichnungen des guten Friedrich in einem bibliophilen Bändchen erscheinen solle.

Klaus habe nun, wie er berichtet, sich auf den 3. 1. 2021 in einem abgelegenen Tal eine – ich möge das dumme Wortspiel verzeihen – Klause gemietet. Vorräte, so der Vermieter, seien da, denn der nächste VOLG sei weit weg, es habe auch 8 Hühner, die köstliche Eier legten, und ja, W-Lan sei auch da, Klaus könne also in der Klause konzentriert recherchieren und schreiben.

Aber schon auf der Hinfahrt habe ihn irgendwie ein leises Grauen befallen, ob das alles gut ausgehe, bei der Fahrt in jenes abgelegene Tal seien ihm alle Tunnel länger und steiler vorgekommen, als er sie in Erinnerung gehabt habe, einmal habe er geglaubt, am Strassenrand ein Auto mit einer Leiche zu sehen und beim Tanken habe ihn der finster rauchende Tankwart wie einen Verbrecher angeglotzt.

In der Talklause sei dann zunächst alles gut gewesen, er habe sich eingerichtet und die Hühner begutachtet, die er sogleich ins Herz geschlossen und ihnen Namen gegeben habe: Dürrenmatt, Frisch, Muschg, Widmer, Bärfuss, Lüscher, Jenny und Sulzer.
Er habe dann beschlossen, die Arbeit auf den nächsten Tag zu verschieben und habe einen langen Spaziergang gemacht. Und dann, am Abend, am späteren Abend, wahrscheinlich auch nach etwas Wein, wahrscheinlich nach etwas viel Wein – man könne ja, so Klaus, über Dürrenmatt, der ja ein riesengrosser Trinker gewesen sei, nicht nüchtern nachdenken – auf jeden Fall nach sehr viel Wein habe er einen grossen Fehler gemacht: Er habe mehrere Stunden onlinegeshoppt und ziemlich viel Geld ausgegeben, für Schmuck, Elektronik, Parfüm und für neue Schuhe, neue gelbe Schuhe.

Der nächste Tag habe schlecht begonnen, denn die Hühner hätten nichts gelegt gehabt, Dürrenmatt und Frisch nicht, Muschg und Widmer nicht und auch Bärfuss, Lüscher, Jenny und Sulzer hätten keine Eier geliefert. So habe er nach einem spartanischen Frühstück sich an den Schreibtisch gesetzt und immerhin ein paar wichtige Vorarbeiten gemacht: Provisorisches Inhaltsverzeichnis, grobe Ausgangsthesen, Überschriften, er habe ein wenig recherchiert und ab 16.00 wieder getrunken, man könne – er wiederhole sich – über Dürrenmatt, der ja ein riesengrosser Trinker gewesen sei, nicht nüchtern nachdenken. So habe er in der frühen Nacht noch einen kleinen Ausnüchterungsspaziergang gemacht und sei dann ins Bett gefallen.

Auch am nächsten Tag das Gleiche: Die Hühner verweigern ihren Dienst, Dürrenmatt und Frisch legen nicht, Muschg nicht und Widmer nicht, Bärfuss legt nicht und Lüscher legt nicht und auch Jenny und Sulzer nicht. Dann wieder schlechter Wirkungsgrad und ab Nachmittag Alkohol. An diesem Abend wurde ihm, so Klaus, klar, dass er den Essay nicht schaffe. Aber – und hier machte sich nun der Fehler des ersten Abends so hart bemerkbar – er habe das Geld ja schon zum Teil ausgegeben gehabt, er hatte sich verschuldet, er habe neue Ketten gekauft und einen neuen Laptop, neues Parfüm und neue gelbe Schuhe, und damit sei er gezwungen gewesen, weiterzumachen.

Die Trinkerei – man könne ja, so Klaus, über Dürrenmatt, der ja ein riesengrosser Trinker gewesen sei, nicht nüchtern nachdenken – habe schliesslich dazu geführt, dass er Visionen gehabt habe: Regelmässig sei ihm vor dem Fenster in der verschneiten Landschaft der König Salomon erschienen und habe mit ihm geredet.
Am 15. Tag schliesslich sei er gestürzt, und sein Abtransport in ein Klinikum sei ebenfalls zur Katastrophe mutiert, erst die dritte Mannschaft Sanitäter konnte ihn abtransportieren, zwei Mannschaften seien selber gestürzt und hätten sich grob verletzt.
So, und nun sässe er da: Ohne Essay, mit kaputten Knochen, hochverschuldet und mit einem Alkoholproblem.

Ich fing an zu lachen. Klaus sah mich böse an: Ob ich das alles nur lustig finde, aber er habe schon immer gewusst, dass ich ein mieser Freund sei.
«Aber Klaus!», rief ich, «du musst das doch alles nur aufschreiben!» Und dann erklärte ich ihm, dass sein ganzer Aufenthalt dürrenmattisch gewesen sei: Fetzen aus dem Versprechen, dem Tunnel und Richter und Henker bei der Hinfahrt, die Hühner aus dem Romulus, die Verschuldung durch gelbe Schuhe aus dem Besuch der Alten Dame, ja und auch sein Salomon komme ja aus den Physikern und die stürzenden Helfer aus dem Meteor.

Da fing mein Freund an zu strahlen und rannte heim, seine apokalyptischen Erlebnisse zu Papier zu bringen.





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