Montag, 29. April 2013

Ich tue es für mich selbst

Vor etlichen Jahren wurde ich Zeuge einer etwas peinlichen Szene. Am FKK-Strand des Freiburger Flückingersees hatte sich ein offensichtlich gestörter Mann hinter eine Gruppe Frauen gesetzt und - na, ja, wie soll ich das jetzt vornehm ausdrücken - sich Lust bereitet. Es kam zu Geschrei und einigen fliegenden Gegenständen und schliesslich holten wir die Polizei. Tatbestand: Öffentliches Ärgernis.
Die Geschichte ist übrigens wirklich wahr.
Man tut also solche Dinge nicht in der Öffentlichkeit. Und das ist gut so.
Was soll man aber von Leuten halten, die eigentlich das Gleiche tun, nur auf einer anderen Ebene?
Da gehe ich in ein Konzert, in dem ein junger, hübscher Geiger eine Beethovensonate versaut, weil er jeden Triller, jedes Glissando, jede Phrase so gestaltet, dass er sich toll findet, dass er sich zeigt, was für ein immens guter Musiker er ist, ganz egal ob das zum Stück passt, ganz egal ob er den Zuhörern etwas Schönes bietet. Das ist künstlerische Selbstbefriedigung. Und man sollte die Polizei holen.
Da malt die Rentnerin Nelli Bugger Blumenstilleben in Öl. Eine Beschäftigung, die ihr Vergnügen macht und ihre langen Nachmittage ausfüllt. Das ist völlig OK, aber muss sie diese Schinken dann in der Sparkasse ausstellen? Muss ich armer Kunde mir diese epigonalen Sonnenblumenklecksereien ansehen, nur weil die gute Frau sich daran ergötzt?
Das Schlimmste ist aber die Verbale Masturbation, kurz V.B. Man hat nichts zu sagen, man teilt nichts mit, es geht nicht um den anderen, ich bereite mir Lust, indem ich quassele.
Ja, und ich schlage mir dreimal auf die Brust (Sie kennen es inzwischen: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa...), ich bin da auch nicht ganz frei davon.
Aber das Gute ist: VM hat klare Vorzeichen, und man kann sie verhindern. Das ist, wie wenn der Gestörte anfängt, an seinem Hosenlatz zu nesteln.
Das gehört jetzt eigentlich nicht zum Thema...
Wenn es nicht zum Thema gehört, dann lasse es weg und schweige!
Man gestatte mir einen kleinen Exkurs...
Ein notwendiger Exkurs, wie zum Beispiel ein paar Worte zu Ludwig II innerhalb eines Wagnervortrags, muss nicht gestattet werden, er ist unabdingbar, einen unnötigen Exkurs gestatten wir nicht!
Besonders schön sind "Hörer fragen Experten"-Sendungen:
Ich habe keine Frage, sondern eine Ergänzung...
Dann mach die Leitung frei, du Affe, hier sitzt jemand, der sich wirklich auskennt, und viele Hörer kommen wegen dir nicht durch!
Oder auf einem Elternabend 1. Klasse:
Mich würde interessieren, ob sie Tonika-Do oder Solfege unterrichten...
Ja, aber nur dich, und sämtliche anderen Eltern haben keine Ahnung, wovon wir sprechen, es gibt nach der Veranstaltung noch ein Glas Wein, warum kommst du nicht dann zu mir?
VM, wohin das Auge schaut.
Es kam am See übrigens wirklich zu einer Anzeige. Und das sollte man bei allen anderen Situationen, bei denen jemand etwas tut, das alle stört und nur ihm Vergnügen bereitet, auch tun.
Oder lieber nicht, wahrscheinlich sässe ich dann schon längst im Knast.

Freitag, 26. April 2013

Sind Politiker privat?


Bei einer Opernpremiere kam ich mit einem Kommunalpolitiker ins Gespräch. Wir standen mit Blubberalkohol  an der Bar im Foyer, ich im Sakko, er im Armani und er lauschte meinen Ausführungen über die Vorgeschichte der „Elektra“.
Nach einer Weile fiel mir auf, dass der gute Mann mir nicht seine ganze Aufmerksamkeit widmete: Immer wieder blitzten seine Augen und er drehte sich nach diesem oder jenen um, da waren Hände zu winken oder zu schütteln, ein Kopfnicken, ein kurzer Gruss. Bedauernd meinte ich, dass es schon ganz schön stressig sei, auch beim Privatleben so beschäftigt zu sein. Ach was, entgegnete er, das sei wichtig. Er müsse ja gesehen werden, hier gehe es um wichtige Leute, um Wähler, aber auch Lobbyisten, und schliesslich sei es auch wichtig, dass man ihn bei einer kulturellen Veranstaltung sehe, er bleibe damit als kulturell interessierter Mensch im Gedächtnis haften, und kulturell interessierte würden eher gewählt. Im Grunde, so der Politiker, sei nichts, was er tue, privat, er sei eben ein öffentlicher Mensch, und er sei es gerne.
Der gleiche Politiker, nennen wir ihn mal Heinz Schmidt und nennen wir die Stadt Bobenhausen, wurde zwei Wochen später bei einer SM-Party fotografiert. Dummerweise gerieten die Fotos in Umlauf. Sie waren nicht schlimm, aber nicht gerade das, was man auf der Kinderseite zeigen würde: Schmidt in Tanga und Handschellen, Schmidts Begleiterin mit Reitgerte und ähnliche Bilder. Schmidt wetterte daraufhin bei einem Interview mit dem Bobenhausener Anzeiger los, dass es eine Frechheit sei, in seiner Privatsphäre zu schnüffeln, niemand gehe es etwas an, was er in seiner Freizeit tue. Er könne – solange er sich an die gültigen Gesetze halte – anziehen, was er wolle, er könne auch ausziehen, was  und WEN er wolle, er sei irgendwelchen Moralaposteln in seinem Schlafzimmer keine Rechenschaft schuldig. (Komische Aussage, die Party fand ja nicht in seinem Schlafzimmer, sondern in der BIZARRBAR statt). Sein Körper sei sein Privateigentum und nicht das des Bobenhausener Rathauses.
Merken Sie was? Die Öffentlichkeit, die die Politicks so sehr brauchen, die sie hätscheln und pflegen, die sie füttern mit Bayreuth-Besuchen, Sportereignissen und Gottesdiensten, an denen man teilgenommen hat, ist auf einmal widerlich, wenn sie Dinge an den Tag zerrt, die man lieber nicht zeigen will. Und es ist eben dann NICHT privat, wenn ein Freysinger eine Reichskriegsflagge in seinem Zimmer hängen hat. Er muss sich dann halt der Sache stellen und erklären, was es damit auf sich hat. Auf das „Private“ kann sich die Politik nicht mehr zurückziehen, dazu turnt sie zu viel in der Öffentlichkeit herum. 
Machen Sie einmal den Versuch und begrüssen die Zuhörer eines Konzertes ihres Kinderchores mit folgenden Worten: „Ich begrüsse die Eltern und die Jugendmusikschulleitung, ich begrüsse keine Kommunal- oder Kreispolitiker, sie sind privat hier, weil ihre Kinder mitsingen.“ Da werden ein paar beleidigt sein, und gerade vor Wahlen wimmelt es von denen. Wenn dann aber einer anruft und die Immer-im-Dienst-Masche fährt, schiessen Sie zurück: Oh, dann darf man auch wissen, dass Sie neulich im Nebenzimmer des Hirschen das Horst-Wessel-Lied angestimmt haben? Oh, dann dürfen unsere Leser sicher auch erfahren, dass bei Ihnen im Wohnzimmer eine Karte mit den Marinestützpunkten von 1916 hängt? Nein, DAS ist dann wieder privat.
Also, liebe National-, Bundes-, Gross-, Landräte, entscheidet euch: Seid ihr ausserhalb des Sitzungsgebäudes Privatmenschen oder nicht? Aber dann komplett.
Wirklich den Vogel hatte ja damals Helmut Kohl abgeschossen, als er bei der Beisetzung Friedrich des Zweiten in Potsdam war. Wir erinnern uns: Der Preussenkönig war endlich heim in die Gruft seiner Residenzstadt gekommen. Man wollte eigentlich keine politische Aktion daraus machen, daher nahm Kohl ALS PRIVATMANN teil.
Und auch Maggie wurde - so der Prediger - als Privatmensch beerdigt. Deshalb waren auch Regierungschefs aus ganz Europa angereist, weil es eine Privatsache war. Da waren die The-whitch-is-dead-Meetings ehrlicher: Sie hatten nichts gegen die Privatfrau, wohl aber gegen die Politikerin.
Und Schmidt in Bobenhausen? Er macht seine Sexkapaden in Zukunft wirklich in seinem Schlafzimmer, und die Nutten bekommen sehr viel Geld dafür, dass sie nicht rumerzählen, was DA für Militaria hängen.


Montag, 22. April 2013

Belieber?

Ich habe neulich geschrieben, dass wir alle Egozentriker sind.
Nun gibt es da aber auch Abstufungen. Wer im Anne Frank-Huis ins Gästebuch schreibt, das jüdische Mädchen wäre heute eine Belieberin (für Uneingeweihte: Fan von J.B.), ist schon ein ganz, ganz grosser. Justin Bieber ist sicher in den TopTen der Egozentries. So wie er in den TopTen der unnötigsten Persönlichkeiten, den TopTwenty der schlechten Popmusiker und in den TopFive der Leute ist, die man überflüssigerweise von der Strasse geholt hat. Nicht was Sie denken, er war Strassenmusiker.
Wie ist das aber nun abgelaufen? Hier die ganze Wahrheit über die Sache an der Prinsengracht:
Auf dem Tourneeprogramm von Justin steht Amsterdam. Jetzt müssen wir wissen, Justin ist immer noch ein Teenager, und was denken Teenager, wenn Amsterdam auf dem Programm steht? Richtig: Party, Saufen, Drogen, Redlight, Kiffen, Hausboot, Chillen, Shoppen usw. Sie denken sicher nicht an Sonnenblumen - wieso nicht Tulpen?, ich meine die von Van Gogh - oder irgendwelche Männer, die in der Nacht mit irgendwelchen Laternen und Lanzen rumstehen. Das PR-Management findet nun aber, Justin muss nach so vielen pubertären Entgleisungen endlich etwas Seriöses machen. Und die PR-Leute fordern das ungewöhnlich heftig und schrill. Also verkünden sie: Zwei Stunden Anne Frank-Huis. Bieber mault, Bieber meckert, Bieberlein will in die Geschäfte und Geld ausgeben, er will saufen und eine Tüte bauen, er will an den Kanälen rumhängen, keine Chance, die PR bleibt hart, J.B. muss in Het Achterhuis.
Nun beginnt die schwere Aufgabe für die Bodyguards Toki, Loki, Boki und Moki: Aufpassen, dass sich unser Melobubi zwei Stunden lang ordentlich benimmt. In manchen Fällen schützen ja die Personenschützer nicht den Star vor der Umwelt, sondern die Umwelt vor dem Star. Zwei Stunden lang kontrollieren sie, dass Justin nichts anfasst, dass er auch die Tafeln liest, dass er keinen Kaugummi irgendwo hinklebt, dass er andächtigt nickt, dass er nicht abhaut, dass er keine blöden Sprüche macht und einigermassen seriös wirkt. Und dann, kurz vor Schluss passiert es, sie sind einen Moment lang unaufmerksam, und Bieber schreibt den Mist ins Gästebuch.
Was lernen wir aus der Geschichte?
Dass PR-Aktionen meistens schiefgehen.
Hätte man vor vierzig Jahren dem Grossmütterschwarm Heintje (Oma so lieb, Oma so nett...) gesagt, er müsse in eine Disco, um ein bisschen seine Jugendlichkeit zu pflegen, er hätte sich zunächst an der Bar einen Orangensaft (!!!) geholt und dann später eine junge Dame mit Verbeugung aufgefordert: "Darf ich Sie zu einem Foxtrott bitten?". Genauso peinlich.
Noch peinlicher ist es, wenn Firmenbosse nach Bayreuth müssen, wenn irgendwelche Society-Schnepfen einen Tag lang einen Rollstuhl schieben, wenn sich Dieter Bohlen mit einem Adorno-Buch ablichten lässt, wenn Angela Merkel mit dem Fahrrad fährt. Und alles nur, weil die PR-Berater meinen, ihr Schützling müsse mehr kulturell, mehr sozial, mehr gebildet, mehr sportlich wirken.
Das Anne Frank-Huis selber reagierte übrigens gelassen: Anne habe immer aktuelle Musik gemocht...
Die Holländer nehmen ja viel mit Humor.
Aber wahrscheinlich hat die PR-Abteilung der Prinsengracht gemeint, man solle hier eher amüsiert und heiter wirken und ein Bannfluch Richtung Justin sei schlechte PR.


Freitag, 19. April 2013

Chicago oder Agathe (82) singt mit

Stehen Sie auch manchmal vor Konzertplakaten und fragen sich: Singen die wirklich noch? Touren die noch? Musizieren die noch? Oder in Extremfällen: LEBEN DIE EIGENTLICH NOCH? Ja, sie sind wieder unterwegs, die Altstars der Popmusik, die Melogrufties, die Oldtimer, die Sänger und Gruppen, bei denen der Tourbus nicht nur Mischpult und Schlagzeug, sondern vor allem Liege, Infusionsgerät und Sauerstoffzelt transportiert: Maffay, Anderson von Jethru Tull, Chris de Burgh - der irische Weichspüler - und die Stones.
Ja, und Crosby, Stills & Nash. Die unvergleichliche Gruppe, die wohl das bekiffteste Live-Album aller Zeiten hingelegt hat, bei dem einen Lied ist es nicht mehr möglich, einen gleichbleibenden Basston zu treffen, bei dem anderen fangen sie gleichzeitig mit verschiedenen Songs an, weil der Ablauf nicht mehr im Kopf ist. Neulich sah ich sie auf einer Ankündigung: Weisshaarig, faltig und mit leichten Bäuchlein. Young, der vierte im Bunde, ist übrigens nicht dabei, er ist nicht nur schein-, sondern wirklich tot.
Wie mag ein Konzert von ihnen ablaufen? Das Publikum muss ja steinalt sein, 4-Way-Street (das ist das THC-Album) war zu meiner Jugend schon etwas Vergrautes.
Schalten wir uns doch live in die Bubba-Halle Dinslaken, wo gerade Chicago läuft. - Wer den Song nicht kennt, unbedingt auf You Tube anschauen, er ist wirklich gut, meine Generation wird ihn komplett mitsingen:

Though your brother's bound and gagged
And they've chained him to a chair
Won't you please come to Chicago
Just to sing?

Agathe (82) wippt mit Hüften und Schultern, während sie leise mitsummt und ihre Hände fest die Stangen ihres Rollators umklammern.

In a land that's known as freedom
How can such a thing be fair?
Won't you please come to Chicago
For the help that we can bring?


Sie blickt hinüber zu dem reizenden Herrn mit entzückenden graumelierten Haaren, er heisst Fred, ist 79 und hat sich mit zitternden Händen eine riesengrosse Tüte gebaut.

We can change the world
Rearrange the world
It's dying to get better


"Krieg' ich auch einen Zug? Aber du musst mir den Joint in den Mund stecken, ich habe ja keine Hand frei." Ja, Rollatoren mit Haltevorrichtungen für Tabak- und Haschischprodukte, das wäre eine Marktlücke!

Politicians, sit yourselves down
There's nothing for you here
Won't you please come to Chicago
For a ride?


Natürlich bekommt Agathe ihren Zug und kichernd kommen die beiden sich näher. Wann hat man das letzte Mal gekifft? Es scheint ein Äon her.

Don't ask Jack to help you'
Cause he'll turn the other ear
Won't you please come to Chicago
Or else join the other side?


Fred legt seinen Arm und ihre Schulter und sie schmiegt sich an ihn.

We can change the world
Rearrange the world
It's dying

Und das tun die zwei eben nicht, sie singen noch lauthals Cowgirl in the Sand und Teach your Children mit, und natürlich Right between the eyes. Und am Ende streben sie zielsicher dem Ausgang zu. Your place or my place? Schwierige Frage, wenn das eine das St.Anna-Stift und das andere die Residenz Harmonie ist.
Die andere Frage ist, ob sie es mit oder ohne tun.
Nein, nicht Kondom.
 Zähne.

Dienstag, 16. April 2013

Wir konnten den Frühling (leider!) nicht vermeiden


Das Frühjahr! Jetzt ist es da! Und ich hatte so gehofft, dass es dieses Jahr ausfällt. Es sah nun auch wirklich so aus, als ob uns diese schreckliche Jahreszeit erspart bliebe. Die Ostereier suchten wir im Schnee, der Himmel im März blieb trübe, Schnee- und Graupelstürme trieben vor den Fenstern, und es war herrlich kalt, klirrend, eisig, sibirisch. Aber der Lenz hat sich heimlich und heimtückisch doch wieder durchgesetzt.
Sie freuen sich auf den Frühling? Aber ich bitte Sie, was bringt der denn?
Er bringt zunächst einmal Pollen, überall niesen und schnupfen die Leute, zücken ihre Taschentücher und ihre Sprays, jedermann hat sein Antihistaminikum in der Tasche und sein Asthmamittel griffbereit. Die Pflanzensamen wirbeln durch die Luft und verwandeln ganze Landstriche in Krankenstationen, wo rotäugige Menschen durch die Wiesen japsen, nur einem Gedanken verpflichtet: Blöder Heuschnupfen! Und das soll schön sein?
Die Sonne leuchtet Ihnen frisch, fest und fies in die Wohnung hinein und zeigt Ihnen alle die Stellen, für die Sie sich beim nächsten Verwandtenbesuch schämen müssen: Staub auf dem Regal, Schlieren auf den Fenstern, Fett auf dem Herd und Kalk in der Dusche. Also stürmen Sie den benachbarten COOP und decken sich mit Tonnen von Stahlwolle, Wollstahl, Scheuermittel, Mittelessig und Essigreiniger ein. Die Parole heisst nicht Osterspaziergang, sondern Osterputz, wochenlang werden Sie Ihre Böden und Wände schrubben, bis die Sonne Ihnen keine Peinlichkeiten mehr zeigt. Und das soll schön sein?
Im Winter durfte man zuhause bleiben und alle die Dinge tun, die am warmen Ofen so Spass machen: Lesen, Spielen, Ferngucken, Telefonieren, Stricken. Jetzt gilt man auf gilt man auf einmal wieder als Stubenhocker und Naturmuffel, wenn man eben NICHT  gerne mit dem Velo durch die Wiesen rast oder eben NICHT gerne am See entlang schlurft. Die Öffentliche Meinung treibt einen gnadenlos aus der Stube und schreit: Es ist Lenz! Lege dein Buch weg! Ab in die Natur! Rieche die Bäume! Sei beseelt! Und vor allem: BEWEGE dich! Und das soll schön sein?
Als es noch kalt war, konnte man sich in warme, weite Sachen hüllen, die die Körperrundungen sanft verbargen. Jetzt wird die Kleidung wieder leichter und luftiger und zeigt so manches Speckröllchen, das der Wintermantel lieb verhüllte. Und das soll schön sein?
Ganz zu schweigen vom Hormonschub, dem ja vor allem die Teenager erliegen. Kreischend und gackernd huschen sie durch die Lande, überall eine triefende Testosteron- und Östrogenspur hinterlassend.
Und das soll…???
Und hören Sie mir auf mit den Frühlingsliedern! Die sind alle verlogen, alle, alle. In Amsterdam gibt es gar keine Tulpen, die werden nämlich auf riesigen Feldern ausserhalb der Städte gezüchtet, und im Prater können auch keine Bäume blühen, da blinken nur so Lämpchen an Geisterbahnen und Rutschgedöns, und Palestrina kann man auf der Blofklöte gar nicht spielen, das ist mehrstimmig.
Nein, wir konnten den Lenz nicht verhindern, aber wir können eines tun: Ihn, so gut es geht, ignorieren. Wenn Sie also am  Leonhardsberg vorbeikommen und sich über die heruntergelassenen Rollläden wundern: Ich bin nicht in Urlaub, ich sitze in meiner abgedunkelten, pollenfreien, beheizten Wohnung, trinke Tee und lese. Ich mache Sommerschlaf. Im Herbst, wenn es endlich, endlich, endlich wieder kalt wird, komme ich wieder raus.

Freitag, 12. April 2013

Ganz wichtig, deshalb habe ich auch nichts organisiert...


Der junge Mann  im ICE hämmert wie wild auf seinen Laptop ein. Seine Wangen sind gerötet, seine Haare fliegen, wie gebannt starrt er auf den Bildschirm. Scheinbar muss er bis zum nächsten Bahnhof, Kassel-Wilhelmshöhe, eine wichtige Sache fertig haben. Dummerweise sitzt er auf einem Platz, der ab Frankfurt, das wir gerade verlassen haben, reserviert ist, und zwar für mich. Ich tippe dem Herrn auf die Schulter: „Entschuldigen Sie, aber der Platz ist reserviert.“  Zwei tiefblauge Augen starren mich an: „Das geht nicht. Ich muss arbeiten.“ Ich entgegne, ich müsse auch arbeiten, deshalb hätte ich mir ja einen Platz mit Tisch besorgt.  Der junge Mann streicht sich eine blonde Strähne aus der Stirn und beginnt ein Lamento: Er müsse dieses Dokument um 12.00 in Kassel präsentieren und er habe fest mit der Arbeitszeit im Zug gerechnet, sein Chef werde ihn abmahnen, wenn er es nicht fertig habe, es ginge um sehr viel, es ginge sozusagen um Tod und Leben. „Wenn es so wichtig ist“, und damit beginne ich langsam, ihn von seinem – pardon, von meinem – Sitz zu ziehen, „wenn es so wichtig ist und um Tod und Leben geht, warum hast du dann nicht RESERVIERT?“ Der Jüngling schluchzt leise vor sich hin, weiss aber darauf auch keine Antwort. „Jetzt lassen Sie den armen Menschen doch sitzen!“, mischt sich eine Dame ein, „wenn er unbedingt arbeiten muss.“ „Ja, es geht doch um Tod und Leben.“ Ich hole den Schaffner, der den Typ von meinem Platz entfernt und unter feindlichsten Blicken der Umsitzenden  beginne ich zu arbeiten: Schaut mal, dieses arrogante Schwein, das die Notlage des Anderen nicht sieht.
Der Hinweis auf die Notwendigkeit, Dringlichkeit, auf das Interesse, die Wichtigkeit, die Bedeutung verblasst ein wenig, wenn man sich vorher nicht gekümmert hat. So ist es zum Beispiel ein bisschen, nur ein bisschen komisch, dass die türkischen Medien keine Journalistenplätze bei diesem Prozess gebucht haben. Ich sage damit nicht, dass die deutschen Gerichte bezüglich Ort nicht flexibler sein könnten, aber es ist doch merkwürdig, dass eine Sache, in die sich beide Regierungen, der Botschafter und alle möglichen Institutionen einmischen, vorher scheinbar nicht so bedeutend war. Denn die Plätze wurden ja streng nach Reihenfolge vergeben. Der Hinweis darauf hätte übrigens auch von deutscher Seite kommen können, vielleicht von den Politikern, die sich jetzt so aufregen.
Ja, vielleicht hätten gerade diese Typen sich drum sorgen müssen. Wenn jetzt Schwesterwelle lamentiert, es sei international sooo bedeutend, dass ausländische Reporter kämen, hätte er halt mal in Ankara anrufen müssen. Oder kann er so was nicht? Hatte er die Rufnummer des türkischen Präsidenten, fand aber die Vorwahl nicht? Und die Mailadresse hatte er verschusselt? Und Facebook? Vielleicht nimmt er da keine türkischen Freundschaftsanfragen an? Das würde ihn als Internationalist dann auch nicht glaubhaft machen. 
Auch die Ausländerbeauftragten, Migrationskoordinatoren etc. hätten da handeln können. Kurzer Funk nach Anatolien: Da läuft was, bucht mal einen Sitzplatz.
Ich räumte dann übrigens meinen Platz doch dem jungen Mann und liess ihn arbeiten, der Druck der Mitreisenden war zu gross. Zufrieden stellte er seine Datei fertig. Und ganz leise fragte er mich beim Aussteigen: "Wie reserviert man eigentlich einen Platz? Und wer bekommt einen?" Ich musste lachen, denn das geht auch wieder einfach nach Reihenfolge. 
Es gibt, so lange es gibt.
Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. (Ja, mit "h", das kommt von der Mühle, nicht von der Vergabe der Fresken in der Sixtinischen Kapelle, das ging unter der Hand.)
Und wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Dienstag, 9. April 2013

BILLAG sucht Fernsehmuffel oder: Der Ton macht NICHT die Musik


Neulich bekam ich einen Brief von der BILLAG (für meine deutschen Leser: das ist die CH-GEZ). Er lautete im Wortlaut so:

Hallo Herr Herter,
Sie haben vor einigen Jahren Ihr Radio angemeldet und zahlen brav Ihre Gebühren, das finden wir gut. Jetzt haben wir aber gemerkt, dass Sie behaupten, keinen Fernseher zu haben. Ehrlich gesagt, das glauben wir Ihnen schlicht und einfach nicht. Jeder vernünftige Mensch hat einen Fernseher, Punkt. Wenn Sie nun so tun, als besässen Sie keinen, heisst das, dass Sie uns bescheissen wollen, und das mögen wir nicht. Klar gesagt, da werden wir stinkig, da fühlen wir uns auf den Schlips getreten, da reagieren wir heikel. Wir lassen uns nicht behumpsen. Wir haben uns schon überlegt, ob wir Bob den Holer losschicken sollen, aber einige Leute, bei denen Bob der Holer war, sahen nachher nicht mehr so gut aus, ein paar konnten auch nicht mehr fernsehen, jedenfalls nicht dreidimensional. Also bekommen Sie anbei noch einmal einen Fragebogen, und da kreuzen Sie bitte bei RADIO und bei FERNSEHER das Kästchen mit JA an. Dann ist die Sache erledigt. Sollten Sie weiterhin behaupten, kein TV-Gerät zu haben, Bob steht bereit…

Das ist natürlich totaler Quatsch, der Brief der BILLAG war sehr freundlich, zuvorkommend, sie baten höflich wegen einer Erhebung um das Ausfüllen des Bogens, aber in der Sache, in der Sache stand genau das drin: Die BILLAG glaubt mir nicht, dass ich keinen Fernseher habe. Und das ärgert mich masslos, denn ich bin ein grundehrlicher Mensch. Ja, ich hätte einen Drohbrief wie oben vielleicht sogar besser gefunden, weil er der Sache gerechter wird, und die Sache ist ja ein Fall von grobem Misstrauen, eine Unterstellung.
Manchmal macht der Ton eben nicht die Musik, es gibt Aussagen, die sind so hammermässig, dass es völlig egal ist, in welch süsslichem Timbre sie vorgetragen werden, und oft ist geheuchelter Charme hier eher zynisch.
Es ist wurscht, ob Sie, wenn Sie Ihren Geldbeutel  verlegt haben, zu Ihrem Mitreisenden sagen: „Entschuldigen Sie vielmals, aber  Sie haben  mir eben die Brieftasche gestohlen und ich hätte Sie gerne wieder.“ Oder „Du Scheisstyp, rück meine Knete wieder raus!“. Es ist egal, ob der Richter beteuert, es tue ihm selber am meisten weh, aber komme einfach nicht darum herum, Ihnen zwanzig Jahre ohne Bewährung zu geben (Für meine Schweizer Leser: unbedingt), oder ob er sagt, er schicke Sie jetzt gnadenlos ins Loch, wo die Ratten Sie totbeissen sollen. Ein Räumungsbefehl sieht auf Büttenpapier nicht schöner aus, eine Diktatorenhymne klingt mit Harfe auch nicht lieblicher.
Der Ton macht nicht die Musik, wenn die Melodie grauenvoll ist.
Ich habe übrigens der BILLAG ganz höflich zurückgeschrieben und mein Verwundern über das Misstrauen ausgedrückt.
Vorher hatte ich mir allerdings überlegt, ob ich den Fragebogen durch Bill den Bringer hinbefördern sollte, denn Bill steht Bob um nichts nach, und einige Organisationen, zu denen ich Bill den Bringer geschickt hatte, haben jetzt Gebäude, die ein bisschen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche am Ku'damm ähneln...

Freitag, 5. April 2013

Deutschland überfällt - Deutschland bereist - Deutschland rettet

Am deutschen Wesen wird die Welt genesen.
Nach diesem Grundsatz handelt der grosse Kanton seit Jahrhunderten.
Zunächst hat man es mit Länderüberfallen probiert, das war dynamisch, schwungvoll und hat eine Menge Spass gemacht. Leider ging es zweimal schief, die Teutonen haben mächtig auf die Schnauze bekommen. Dann hat man sich nach 1945 auf eine neue Sache verlegt: Man bereiste die Länder. Das Konzept ging auf, auf einmal lernten Italiener, Spanier und Griechen Deutsch, sie lernten, wie man SchniPoSa macht und wie man schlechten Kaffee kocht. Sie dekorierten ihre mediterranen Hotels um, damit sie GEMÜTLICH werden, denn der Deutsche ist ja so GEMÜTLICH. (Ausser 1914-1918 und 1939-1945, da waren die Nachfahren des Arminus ziemlich, ziemlich UNGEMÜTLICH). Auf jeden Fall, heute kann man sich unbesorgt in Brindisi oder Santa Cruz an den Pool legen und Bräune tanken ohne das Gefühl zu haben, man sei irgendwo im Ausland. Nur Brot, das können die im Süden immer noch nicht backen, aber das bringt man den Spaghettinos und Stierkämpfern auch noch bei...
Nun haben die Deutschen ein neues, noch tolleres Spiel entdeckt. Die Deutschen retten. Und das hat immense Vorteile:
1.) Es demütigt ungeheuer. Wer schon einmal seinen Chef um Vorschuss gebeten hat ("Habe ich richtig gehört, Maier? Sie wollen ... Geld ... im Voraus...vier Tage vor Monatsende? Was machen Sie immer mit dem ganzen Geld? Sind Sie drogenabhängig?"), weiss wie viel Zu-Kreuze-kriechen da drin steckt.
2.) Man kann hemmunglos Bedingungen diktieren: Runter mit den Renten! Rauf mit den Steuern! Bankenabgabe! Steuerkarteien her!
3.) Man kann drohen, wie man mit Bomben und Granaten nie konnte: Wir schmeissen euch aus der EU! Ihr fliegt aus dem Euroraum! Wir drehen den Geldhahn zu! Wir lassen euch verkommen.
4.) Wenn dann die guten Länder alles gemacht haben und viele, viele Milliarden geflossen sind, müssen sie DANKBAR sein und die Teutonen lieben.
Tja, und das funktioniert leider nicht.
Man hat die Deutschen nie geliebt und wird es nie tun. Und man ist ihnen nie dankbar. Wenn die Truppen in ein Land einrückten, begegnete man ihnen mit blankem Hass. In den Touri-Hochburgen ist man zwar freundlich und nett zu ihnen, schliesslich bringen sie ja Geld. Aber hinter vorgehaltener Hand, in den Kantinen der Strandwächter und Kellner kichert und lästert man über Schibulski und Mankowski aus Wanne-Eickel und Essen, die sich in Sand und Strand ihren Jahressonnenbrand holen. Und die geretteten Länder mögen die Teutonen jetzt auch nicht, sie halten deutschfeindliche Schilder hoch und schreien vor den Deutschen Botschaften.
So gesehen wäre es klug, wenn sich Berlin wieder aufs Überfallen verlegen würde. Gehasst wird man sowieso, und Länder erobern macht einfach am meisten Spass.
Also, nimm dich in Acht, Welt!
Am Deutschen Wesen wird die Welt genesen.

Montag, 1. April 2013

Blutgeld II

Hubert ist freischaffender Violinist und ein politisch korrekter Mensch. Er würde nie Geld annehmen, das aus zweifelhaften Quellen stammt und nimmt seine Sache sehr genau. Aus sämtlichen frei arbeitenden Orchestern, der Sinfonietta, dem Kammerorchester Basel und dem Collegium Musicum ist er rausgeflogen, weil er keine Projekte spielt, bei denen Banken oder Pharma Kohle im Spiel haben. Daraufhin hat er ein Soloprogramm erarbeitet und ein Quartett gegründet. Beim Aquirieren von Engagements ist er akribisch: Sobald auf der Sponsorenliste ein falscher Name steht, wird dort nicht gespielt. La Poste in Visp? Fehlanzeige, da steckt die LONZA mit drin, und wer weiss schon, was die alles transportieren? Rheingau Festival? Ich bitte Sie! Da hat überall die DRESDNER BANK ihr grünes Band der Sympathie mit hineingewoben. Baden-Baden? Keinesfalls, Hubert hat den guten Alberto Vilar einmal gegoogelt, und ... au weia!
Hubert hält sich an die kleinen, alternativen Veranstalter: Klassik Hinterhaus in Zschopau, Plattenbaukonzerte in Marzahn, Kammerwupper in Elberfeld. Das einzig Blöde ist, dass diese kleinen, aber feinen Dinger kein Geld haben, und wenn es auch 300.- Euro gibt, sind die schnell weniger, wenn man sich davon zwei Tage in einer deutschen Grossstadt ernähren muss. Ausserdem spielt man auch nicht gut, wenn man nur mit Regionalzügen reist und beim Veranstalter auf der Isomatte schläft.
Geld ist nie sauber. Man kann es fast nicht verhindern, irgendwie mit Blut-, Schweiss- und Tränengeld in Berührung zu kommen. Leider sind gewisse Kompromisse unumgänglich. Selbst wenn ich gar nichts arbeite, wer zahlt dann meine Sozialhilfe? Gut, es gibt Schmerzgrenzen, ich glaube, ich würde auch nicht den Werkschor von Mauser leiten (Waffenfabrik in Oberndorf, die in alle Krisengebiete liefert, mit der Duldung des Deutschen Zolls), aber ich bin schon in Rottweil (20 km entfernt) mit Kabarett-Chanson auf der Kleinkunstbühne aufgetreten, und da ist Mauser sicher im Förderverein, ich habe da aber nicht so genau hingeschaut. Ich weiss auch nicht, wie ich reagieren würde, wenn ein Sponsor eines Chorprojektes seinen Beitrag in gebündelten Scheinen brächte...
Hubert gibt, um zu überleben, noch Geigenstunden, aber auch nur an Leute, die ihr Geld sauber verdienen, das heisst natürlich, dass er auch nicht viel verlangen kann, weil eben Biogärtner und Krankenpfleger auch nicht im Geld schwimmen. Gelegentlich macht er auch Strassenmusik, aber nicht in der Bahnhofstrasse in Zürich. Da hat er übrigens keinen Gewissenskonflikt, in der Nadelstreifenzone an der Limmat ist Musizieren sowieso strengstens, allerstrengstens verboten.