Freitag, 12. April 2013

Ganz wichtig, deshalb habe ich auch nichts organisiert...


Der junge Mann  im ICE hämmert wie wild auf seinen Laptop ein. Seine Wangen sind gerötet, seine Haare fliegen, wie gebannt starrt er auf den Bildschirm. Scheinbar muss er bis zum nächsten Bahnhof, Kassel-Wilhelmshöhe, eine wichtige Sache fertig haben. Dummerweise sitzt er auf einem Platz, der ab Frankfurt, das wir gerade verlassen haben, reserviert ist, und zwar für mich. Ich tippe dem Herrn auf die Schulter: „Entschuldigen Sie, aber der Platz ist reserviert.“  Zwei tiefblauge Augen starren mich an: „Das geht nicht. Ich muss arbeiten.“ Ich entgegne, ich müsse auch arbeiten, deshalb hätte ich mir ja einen Platz mit Tisch besorgt.  Der junge Mann streicht sich eine blonde Strähne aus der Stirn und beginnt ein Lamento: Er müsse dieses Dokument um 12.00 in Kassel präsentieren und er habe fest mit der Arbeitszeit im Zug gerechnet, sein Chef werde ihn abmahnen, wenn er es nicht fertig habe, es ginge um sehr viel, es ginge sozusagen um Tod und Leben. „Wenn es so wichtig ist“, und damit beginne ich langsam, ihn von seinem – pardon, von meinem – Sitz zu ziehen, „wenn es so wichtig ist und um Tod und Leben geht, warum hast du dann nicht RESERVIERT?“ Der Jüngling schluchzt leise vor sich hin, weiss aber darauf auch keine Antwort. „Jetzt lassen Sie den armen Menschen doch sitzen!“, mischt sich eine Dame ein, „wenn er unbedingt arbeiten muss.“ „Ja, es geht doch um Tod und Leben.“ Ich hole den Schaffner, der den Typ von meinem Platz entfernt und unter feindlichsten Blicken der Umsitzenden  beginne ich zu arbeiten: Schaut mal, dieses arrogante Schwein, das die Notlage des Anderen nicht sieht.
Der Hinweis auf die Notwendigkeit, Dringlichkeit, auf das Interesse, die Wichtigkeit, die Bedeutung verblasst ein wenig, wenn man sich vorher nicht gekümmert hat. So ist es zum Beispiel ein bisschen, nur ein bisschen komisch, dass die türkischen Medien keine Journalistenplätze bei diesem Prozess gebucht haben. Ich sage damit nicht, dass die deutschen Gerichte bezüglich Ort nicht flexibler sein könnten, aber es ist doch merkwürdig, dass eine Sache, in die sich beide Regierungen, der Botschafter und alle möglichen Institutionen einmischen, vorher scheinbar nicht so bedeutend war. Denn die Plätze wurden ja streng nach Reihenfolge vergeben. Der Hinweis darauf hätte übrigens auch von deutscher Seite kommen können, vielleicht von den Politikern, die sich jetzt so aufregen.
Ja, vielleicht hätten gerade diese Typen sich drum sorgen müssen. Wenn jetzt Schwesterwelle lamentiert, es sei international sooo bedeutend, dass ausländische Reporter kämen, hätte er halt mal in Ankara anrufen müssen. Oder kann er so was nicht? Hatte er die Rufnummer des türkischen Präsidenten, fand aber die Vorwahl nicht? Und die Mailadresse hatte er verschusselt? Und Facebook? Vielleicht nimmt er da keine türkischen Freundschaftsanfragen an? Das würde ihn als Internationalist dann auch nicht glaubhaft machen. 
Auch die Ausländerbeauftragten, Migrationskoordinatoren etc. hätten da handeln können. Kurzer Funk nach Anatolien: Da läuft was, bucht mal einen Sitzplatz.
Ich räumte dann übrigens meinen Platz doch dem jungen Mann und liess ihn arbeiten, der Druck der Mitreisenden war zu gross. Zufrieden stellte er seine Datei fertig. Und ganz leise fragte er mich beim Aussteigen: "Wie reserviert man eigentlich einen Platz? Und wer bekommt einen?" Ich musste lachen, denn das geht auch wieder einfach nach Reihenfolge. 
Es gibt, so lange es gibt.
Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. (Ja, mit "h", das kommt von der Mühle, nicht von der Vergabe der Fresken in der Sixtinischen Kapelle, das ging unter der Hand.)
Und wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

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