Donnerstag, 27. Oktober 2011

Das Marmorbild

Kürzlich bin ich im Internet auf das Marmorbild eines schönen, jungen Mannes gestossen. Schön und nackt. Ich habe daraus eine Fotostrecke gemacht - zugegeben, vor allem von der unteren Hälfte - es mit Romantischer Sinfonik unterlegt und auf YouTube gestellt. Stellen wollen. Die Antwort kam sofort: Ein Video derartigen Inhalts, gespeist aus obskur-zweideutigen Quellen, sei auf einem Kanal, der auch von Jugendlichen besucht werde, nicht tragbar.
Meine obskuren Bildquellen waren ein Wikipediaeintrag und die offizielle Seite der Tourismusregion Toscana.  Doch auch die Musik wurde als lasziv-pornografisch  abgelehnt.
Nun gut, YouTube ist eine saubere Seite.
Ist das so?
Ich habe dann ein bisschen geforscht:
Ich treffe auf das Video "Call on me", ein Musikstrip, der seinerzeit sicher auf und ab auf MTV gezeigt wurde. Der Inhalt ist harmlos: Ein Trainer gibt acht Frauen Aerobicunterricht. Nun habe ich nie Aerobic gemacht, kann mir aber nicht vorstellen, dass dort nur der Beckenbereich trainiert wird, und wenn, dann nicht so heftig und so ruckartig. Und warum Frauen bei der Fitness ihren Finger ablutschen, erscheint mir auch nicht einleuchtend. Das Video ist Porno pur.
Nun schaue ich weiter und gebe "love at the beach" ein. Hier genügt ein Blick auf die Standbilder. Statt der erwarteten Filmausschnitte mit Doris Day und Rock Hudson (sie im Blümchenstrandkleid, er casual mit Poloshirt und Leinenhose) nackte Oberkörper, vertikal, horizontal (!) und diagonal. Und dass an Oberkörpern noch ein Unterkörper dranhängt, wissen auch die Zehnjährigen...
Es ist alles ein bisschen verlogen. Wichtig bleibt also auch bei "sauberen" Seiten wie YouTube: Schau an, was dein Kind sieht! Und wenn Ihr Sohn sehr lange bei Renaissancekunst verweilt - Sie ahnen sicher längst, dass das Marmorbild der "David" von Michelangelo ist - dann wird er Kunsthistoriker oder schwul; was nicht schlimm ist. (Ich meinte letzteres.)

P.S. Die Musik war der 2. Satz aus Tschaikowskis Sinfonie Nr. 5. Er ist sicher sinnlich, vielleicht sogar erotisch, sicher nicht lasziv und auf keinen Fall pornografisch. Sondern einfach wunderschön. Sie finden die Musik im Internet, übrigens xmal auf YouTube.

Montag, 24. Oktober 2011

Müssen Kinder schreien?

Neulich, im Bus Linie 36: Ein Kind im Kinderwagen schreit, laut, intensiv und lässt sich auch durch alle Beruhigungsversuche der Mutter nicht beeindrucken. „Jetzt ist aber mal Ruhe!“, meckert eine Frau auf einem der vorderen Sitze. „Es ist ein Kind“, bemerkt ein Fahrgast. „Deshalb muss es nicht so schreien!“, kontert die Dame.
Ich finde, sie hat absolut Recht: Kindergeschrei ist nervig, quälend und sollte unterbunden werden. Warum schreien Kinder eigentlich? Weil sie uns damit sagen wollen, dass sie Hunger haben, ihre Windel nass ist, dass etwas wehtut, dass sie Angst vor der Riesendogge haben, die lüstern-gierig in den Kinderwagen starrt. Und hier müssen wir doch ansetzen: Da alle Sprachübungen heute in Schule und Kindergarten nach vorne wandern, müsste doch auch die erste Sprache (Linguisten nennen das L1) früher erworben werden. Unser Sprachlernplan sähe dann – rückwärts gelesen – so aus:
Frühenglisch mit 10
Frühfranzösisch mit 8
Standardsprache mit 4
Sprechen lernen mit 3 Monaten
Das geht nicht? Meine Güte, wozu zahlen wir ein Heer von Didaktikern, Sprachforschern, Neuro- und Psycholinguisten, Pädagogen und Logopäden? Wozu werden Millionen von Seiten wissenschaftlicher Publikationen auf den Markt geworfen? Also, meine Damen und Herren, machen Sie sich an die Arbeit! Ich möchte, dass in einigen Jahren ein solches Kind in der Linie 36 ein klaren Satz formuliert: „Dr grosse Hund sabbert mir uf de Kopf, ställ bitte dr Wage woanders ane.“
Die Dame, die zu Recht gemotzt hatte, stieg übrigens bald beleidigt aus, nachdem sämtliche Fahrgäste über sie hergefallen waren. Ich hoffe, sie war eine von den oben erwähnten Wissenschaftlerinnen und wird jetzt intensiv am Sensationsbuch „Mein Kind spricht ab Geburt – ein Lernplan für Eltern und Hebammen“ arbeiten.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Kultur

Ich habe mir zur Eröffnung der Hallenbadsaison einige neue Dinge geleistet: Zwei blauschwarze Badehosen (adidas) und eine neue Schwimmbrille (speedo) - ja, wir sind markenbewusst. Um alles unterzubekommen habe ich mir noch einen Kulturbeutel gekauft. Sie wissen nicht, was ein Kulturbeutel ist? Hier heisst das Nessesär - ich glaube, es wird anders geschrieben, aber die Fachdidaktik Deutsch wertet Schreiblust inzwischen schwerwiegender als Orthografiemanie. Jedenfalls ein Kulturbeutel, und wenn Sie dachten, da kämen Bücher und CDs rein: weit gefehlt.
Was das mit Kultur zu tun hat? Keine Ahnung, vielleicht denkt man, dass ein kultivierter Mensch rasiert ist und auch gut riecht. Poeten wie Bukowski stanken zwar wahrscheinlich wie ein Iltis und Jack London hatte auf seinen Eisenbahntouren sicher auch keinen Kulturbeutel dabei, aber das steht auf anderen Blättern.
Was ist dann nun Kultur?
In der ersten Herbstferienwoche war ich mit der KKB in Parpan (GR) und fand in einem Flyer der Tourismusregion Lenzerheide eine gute Definition: ZWISCHEN KULTUR UND MODERNE ist dort eine Überschrift, und wenn man die Seiten liest, entdeckt man, dass es um eine Schaukäserei und eine abstrakte Malerin geht. Das ist doch einmal eine eindeutige Sache: Kultur ist nicht modern und ist bodenständig und urwüchsig. Vielleicht gar nicht so daneben, man könnte ja die Schweizer Käseherstellung zum Weltkulturerbe vorschlagen, schliesslich will der französische Präsident ja das mit der Küche der Grossen Nation tun. Er sollte dabei allerdings die Restaurants der touristischen Orte an der Mittelmeerküste herausnehmen (zweite Ferienwoche, aber wiederum ein anderes Blatt).
Kultur ist also alles, was mir vertraut ist, was mich pflegt, was ich kenne, was mir gut tut.
Kultur als Verstörendes, Irritierendes, Aufweckendes? Igitt.
Ich jedenfalls werde jetzt einen schönen Emmentaler essen. Und den Rest - Sie haben es erraten - stecke ich in meinen Kulturbeutel.

Dienstag, 18. Oktober 2011

Das Thunfischprinzip

Es gehört zum guten Ton, Leute im Supermarkt vorzulassen, die wenig Ware haben. "Möchten Sie vor?", frage ich also die ältere Dame, die mit einer Dose Thunfisch in Öl hinter mir steht. "Nein", lächelt sie und zeigt auf den vollen Warenkorb auf dem Boden. Der Fisch hat einfach keinen Platz im Korb gefunden. Wir kommen ins Gespräch darüber, ob es Menschen gäbe, die das Angebot lächelnd angenommen und dann ihre Waren über mich hinüber gewuchtet hätten. Sie sagt nein, ich ja.
Es gibt solche Menschen. Ja, ich bin sogar der Meinung, dass viel in unserer Gesellschaft nach dem Thunfischprinzip funktioniert: Wenig zeigen, der Hammer kommt nach, den Thunfisch präsentieren, den Korb nachliefern.
"Das tut jetzt ein bisschen weh", sagt der Arzt, der nachfolgende Schmerz würde selbst Guantanamohäftlingen als verschärft vorkommen. "Wir sind gleich fertig", sagt die Dentalhygienikerin, dann kratzt sie noch eine Stunde an meinem Gebiss herum. "Das wird nicht viel kosten", sagt der Automechaniker, die Gesamtrechnung liegt im Bereich zwischen Monatslohn und Kantonsbudget.
Ob Stuttgart 21, Atomkraft, Rüstung: Thunfischprinzip! Im Korb liegen Folgekosten, Folgeschäden, Folgeentwicklungen, Folgefolgen.
Ja, es gibt solche Leute.
"Wollen Sie vor?" fragt die ältere Dame, ich habe inzwischen bezahlt, den Mann hinter sich. Er hat nur eine Zwiebel in der Hand. Er geht vor und - - - - - - hat wirklich nur das Knollengewächs. Auch das gibt es. Ausserdem würde der Text ja sonst "Zwiebelprinzip" heissen.