Dienstag, 30. Juli 2013

Wie bescheuert muss man sein, um nach Bayreuth zu fahren? (Ein Outing)

Nun läuft es wieder: Das wichtigste Klassikfest der Welt, das musikalische Grossereignis des Jahres. Der Grüne Hügel ist belebt. Man bestaunt Merkels Kleid, man geniesst die Leitmotive und leistet sich Wurst und Schampus im Festbistro.
Aber manche fragen sich:
Wie bescheuert muss man sein, um viele Stunden auf härtesten Stühlen zu sitzen, neben denen sich jede Kirchenbank und jede Steintreppe wie die Polster der Königin von Saba ausmachen?
Wie bescheuert muss man sein, das auch noch bei 45°C und einer Humidität von 90% zu machen, denn das Haus hat keine Klimaanlage und die angemessene Kleidung, Turnhose und Tanktop, ist eben nicht Bayreuth-passend?
Wie bescheuert muss man sein, um nun siedend auf Holzstühlen noch stundenlang schwülstige und politisch unkorrekte Musik zu hören?
Wie bescheuert muss man sein, auf diese Tortur auch noch jahrelang zu warten und dann auch noch viel Geld zu zahlen?
Sehr bescheuert.
Aber es gibt Leute, die sind es.
Und - OUTING!!!! - ich bin es auch. Ich habe mich sehr geärgert, dass wir dieses Jahr keine Karten für die Neuinszenierung des Ring bekommen haben.
Ich bin Wagnerianer, Bayreuthianer, Ring-süchtig.
Ich bin bescheuert - und das ist gut so.
Aber ist es nicht genauso bescheuert,
*wenn man 8 Stunden für ein Fussballspiel von München nach Bremen fährt und dann im Stadion so rotzbesoffen ist, dass man das Spiel, es sind ja jetzt 44 Spieler und 2 Bälle, gar nicht mehr versteht?
*wenn man den ganzen Tag vor dem Buckingham-Palast ausharrt, bis ein Bote die Geburtsangaben aushängt, obwohl man bei einem kühlen Cocktail auf der Terrasse warten könnte, bis das Ganze im Internet steht?
*wenn man nach Gran Canaria fliegt, um dort am Pool zu hocken und Sangria zu saufen, obwohl das Meer zwei Känguruhüpfer entfernt liegt und die Insel die schönste Landschaft hat?
*wenn man sonntags in Tokio ins Freibad geht, eine Stunde am Becken ansteht und nach dieser Stunde einmal durchs Becken LAUFEN darf? Schwimmen ist unmöglich, die Leute stehen wie die Ölsardinen.
*wenn man bei schönstem Wetter alle Storen runterlässt, weil die Sonne auf dem Bildschirm reflektiert und die ganzen Sommerferien Computerspiele macht?
All das ist genauso bescheuert.
Also lasst uns unseren Grünen Hügel.
Lasst uns unseren Ring, unseren Tannhäuser und unseren Holländer.
Unser beliebtes, bezauberndes, beglückendes, blühendes, bravouröses
bescheuertes
Bayreuth.

Donnerstag, 25. Juli 2013

Kleiner George auf dem Weg in die Arbeitslosigkeit

Als Bub war ich einmal bei einer Kinderveranstaltung, bei der der Pädagogik-Entertainer die Kleinen nach ihren Berufswünschen fragte. Die Antworten waren sehr unterschiedlich. Ein Drittel nannte das Übliche: Die Knaben wollten eine Lok steuern und die Mädchen Kranke pflegen. Das andere Drittel nannte den Beruf der Eltern, in meinem Fall Diplomingenieur, auch wenn ich nicht wusste, was das eigentlich war. Aber Papi und Mami hatten diesen Titel, da musste es ja was Rechtes sein. Das Mädchen neben mir sagte: "Meine Mama ist Püchologin und mein Papa ist Püchologe, und ich werde auch Püchologin, auch wenn ich das noch nicht aussprechen kann".
Das letzte Drittel allerdings war kreativer. Hier wurde angegeben:
Höllenfährmann
Mondgöttin
Königin von Schweden
Yeti
Häuptling der Irokesen
Dalai Lama
Papst
...
Der Pädagogik-Entertainer lobte den Einfallsreichtum, gab aber zu bedenken, dass hier die Arbeitsstellen entweder auf Ewigkeiten belegt seien (bei mythischen Personen), oder aber, dass es nur eine einzige Stelle gebe, das heisst, dass bei der Ausbildung zur Mondfrau oder zum Papst die Arbeitslosigkeit vorprogrammiert sei.
So eben auch beim kleinen George. Denn der zukünftige König hat ein kleines Problem: Es heisst Elizabeth. Die Queen hockt auf ihrem Thron und hat nicht vor abzudanken. Abdankung, so soll sie neulich auf einer privaten Teeeinladung gesagt haben, sei "something for the weak people at the other side of the Channel", bösartig auf Beatrix und Philippe anspielend. Nein, solange sie noch ihr Kopftuch binden kann, wird die Königin bleiben. Sterben wird sie erst mit 110, denn sie hat die Gesundheit ihrer Mutter - und vielleicht auch deren Lebe(r)nselixier: Puren Gin. Wenn also dereinst Lisbeth endlich unter der Erde ist, hat ihr Sohn, der Segelohrenkarl, auch schon ein biblisches Alter, aber wird er zugunsten von William verzichten? Natürlich nicht, schliesslich hat er sein Leben lang auf diesen Job gewartet. Und wenn Charles dann endlich das Zeitliche segnet, und auch er wird sehr, sehr, sehr alt werden - Menschen mit abstehenden Ohren haben eine gute Konstitution und viel Energie, ich weiss, wovon ich rede - dann erst kommt William dran, der dann natürlich mit 90 auch endlich in dem Beruf arbeiten will, den er gelernt hat...
Armer Georgie!
Wie hat man das früher gelöst? Nun, besser. Da wäre Lissie nach einem üppigen Abendessen morgens einfach nicht mehr aufgewacht, und keiner hätte genau gefragt, ob in dem Plumpudding wirklich nur Plum und nicht etwa auch hochtoxisches Plam gewesen wäre. Und zwei Wochen später wäre Charles bei einem Reitunfall gestorben, und auch da hätte niemand gefragt, wieso das Ross, das der Prinz seit 20 Jahren reitet, ihn plötzlich abwirft und tottrampelt. Und der Weg wäre frei gewesen für William...
Schlag nach bei Shakespeare...
Übrigens nicht nur in England: Das Haus Baden lässt bis heute die Historiker nicht in alle Akten schauen, man munkelt, dass bei der Ablösung der Zähringer durch die Hochberger auch nicht alles im Grünen (oder muss man Rot-Gelben sagen?) Bereich war.
Aber diese Zeiten sind vorbei. Oder wie der Monarchieforscher Bodo Popelfax schreibt:
Die meisten europäischen Monarchien sind von der Abmurks-Thronfolgeregelung inzwischen zur Abdankungs-Thronfolgeregelung übergegangen, was die Royals noch leisten müssen."
Bis dahin wird Klein George, das Baby Wales, noch lange warten dürfen. Und vielleicht noch eine Zweitausbildung machen.
Und wenn er wie ein Wilder auf Themse rudern wird, wird das nicht nur Sport sein: Vielleicht geht Charon doch einmal in Rente...

Montag, 22. Juli 2013

Gleichbeschlechtigung

Nein, das ist kein Schreibfehler. Ich meine nicht etwas, was mit schwul oder lesbisch zu tun hat, sondern das Gegenteil von Gleichberechtigung. In "Berechtigung" steckt ja auch "recht", dass etwas recht, richtig, ok, in Ordnung ist. Und wenn eine Sache für alle nicht in Ordnung ist, dann ist das eben Gleichbeschlechtigung.
Zu theoretisch. Wollen Sie ein Beispiel?
Ich war neulich shoppen. Ich brauchte ein paar Shorts und einige Hemden. In einer Boutique in der Freien Strasse sah ich im Schaufenster eine Kombination von wunderbaren Bermudas in leuchtendem Bleu, Pink und Tomatenrot, dazu taillierte weisse Hemden im Knitterlook. Das Anprobieren wurde aber zur Enttäuschung: Bei Grösse XS (meine normale) bekam ich Dinger gar nicht zu, S konnte ich zumachen, hätte aber nach einer halben Stunde Bauchschmerzen bekommen, M wäre gut gewesen, wenn ich mich jeden Morgen klistierte und L passte dann. Um Himmels willen! Hatte ich zugenommen? Im Geiste sah ich mich schon wochenlang hungern. - "Ich nehme nur einen Salat." - Dann kam ich aber auf die Idee, mal nachzumessen. Bei XS war die Taille eine Hand breit, was einer Grösse W20 entspricht. Normalerweise habe ich W29 bis W30, was auch schon ziemlich schlank ist. Welcher Mensch hat so eine Hüfte? Keiner, der nicht einen Geburtsfehler hat, der sich nicht wie Cher die Beckenknochen hat verkleinern lassen oder der nicht gerade von einer Junta gefoltert wurde. Als ich einer Kollegin davon erzählte, kam nur die Antwort: "Jetzt siehst du mal, wie es uns geht." Sehn Sie, was ich meine? Das ist Gleichbeschlechtigung. Nachdem man die Frauen in den Schlankheitswahn getrieben hat, kommen nun die Männer dran. Es ist kein Erfolg, wenn die Quote von männlichen Bulimikern zwischen 16 und 18 steigt, aber das tut sie. Die meisten Mädchen halten sich für zu dick, und bald werden es auch die meisten Jungen tun. Dann wird es in Schullager überhaupt keinen Spass mehr machen zu kochen, weil nicht nur Jasmin und Lea, sondern auch Jan und Riccardo ihr kleines Gemüsehäufchen auf dem Teller herumschieben.
Und bei den Jungs setzt man noch einen drauf:
Viele 14jährige wollen schon ins Studio. Gymbetreiber müssen laufend Buben abweisen, die noch nicht das Mindestalter von 16 erreicht haben, ein Alter, das eigentlich schon tief angesetzt ist. Die Jüngelchen wollen schon früh ihre Muckis bilden, und sie schlucken Anabolika wie wir früherBrausepulver.
Was kommt als nächstes?
Ich habe eine Horrorvision: In den Restaurants huschen Servierbuben umeinander, in XXXXS-Klamotten, die ihre absolut perfekten Körper zur Geltung bringen, sie sind eine halbe Stunde vor dem Badezimmerspiegel gestanden, um ihr Makeup, ihren Lidstrich und ihre Wimperntusche zu richten. Immer wieder mal werden sie am Hintern angefasst, weil man das ja bei Servierpersonal so macht. Und wenn sie sich beschweren, sagt man: "Den Frauen ging das immer so..."
Nein, ich möchte, dass es allen gleich GUT geht.
Das wäre GleichbeRECHTigung.

Freitag, 19. Juli 2013

Relative Unwissenheit

Als ich am letzten Samstag – die Story ist wahr! – eine Wähe mit dem ÖV von Basel nach Freiburg transportierte, d.h. balancierte, bewachte, hütete, abstellte und vorsichtig wieder aufnahm, sprach mich in der Linie 6 ein Mann an: Alpoehi, Schlapphut, Wanderrucksack, weisser  Rauschebart und zerfurchtes Gesicht. Bis zum Badischen Bahnhof hatte er mir sein ganzes Leben erzählt, unter besonderer Berücksichtigung seiner Vorliebe für Geissenmilch, sein Bruder hatte eine Laktoseintoleranz, und da holte man halt früher Ziegenmilch beim Bauern. Der gute Mann verabschiedete sich mit den Worten: „Gruss an Ihre Frau.“
Hä? Natürlich, ich hatte Backwerk bei mir, und da war es für ihn klar, dass meine bessere Hälfte den Kuchen gemacht hatte.
Und ich nahm es ihm nicht übel. In sein Weltbild – wie gesagt, er war fast 80 und kam vom Dorf – passen einfach keine Männer, die backen, kochen, bügeln, putzen und waschen.
Ich hätte anders reagiert, wenn ein Businessman um die 40 so was gesagt hätte.
Ich hätte noch verstimmter reagiert, wenn es jemand geäussert hätte, der im Lebensmittelhandel arbeitet.
Ich wäre aus der Haut gefahren, wenn die Person Genderbeauftragte(r)  gewesen wäre.
Noch ein Beispiel?
Wenn meine Buchhändlerin bei der Bestellung einer Schumannbiographie nachfragen würde: „Ohne h, gell?“, wäre das OK. Obwohl das nicht vorkommt, denn die Chefin von Olympus und Hades ist eine hochgebildete Frau.
Vorkam es allerdings bei Musik Hug, da musste ich dem Azubi im zweiten (!!) Lehrjahr Musikalienhandel sagen: „Schumann ohne h, deshalb findet der Computer das nicht.“ Peinlich.
Noch peinlicher ist es, dass in Was Liebe ist von Ulrich Woelk eine der Romanfiguren Von fremden Ländern und Menschen aus den Kinderszenen von Schuhmann spielt, und man an der fulminant exakten Beschreibung des Stückes merkt, dass Woelk es wissen muss. Scheinbar hat sein Lektor ihm den Fehler hineinkorrigiert. Was saupeinlich ist, denn Lektoren sollten ja Fehler ausmerzen und nicht Fehler hineinmachen.
Gleiche Fehler sind nicht gleich schlimm, es kommt darauf an, wer sie macht.
Der Laienchorleiter, der zum ersten Mal vor Streichern steht und sie mit wilden Armbewegungen zum Spielen animiert, wobei er in der Luft rudert wie ein Basejumper, ist rührend und ich würde ihn nie kritisieren. Einen studierten Dirigenten mit Lehrauftrag für Chorleitung schon.
Der erste Kuchen von Bubi, den er (ganz allein!!) zum Muttertag macht, ist auf jeden Fall ein Lob wert, obwohl er ungeniessbar schmeckt – Bubi muss noch Pfeffer und Zimt unterscheiden lernen – und der Schokoguss an Caspar David Friedrichs Die gescheiterte Hoffnung erinnert. Jahre später wird die Mutter den Kuchen zurückweisen, Bubi ist inzwischen 19 und macht eine Bäckerlehre, er muss bei der Herstellung ziemlich bekifft gewesen sein.
Mein Kuchen kam übrigens heil in den Breisgau. Und er schmeckte gut. Kann man von einem fast 50jährigen Menschen auch erwarten.

Und ich hoffe, heute hat es keine Schreibfehler, das wäre für einen studierten Deutschlehrer nämlich noch peinlicher als eine misslungene Wähe.

 

Dienstag, 16. Juli 2013

Reality writing

Der Stadtpark von Schnuffenhausen sieht ein wenig verwahrlost aus. Die Büsche wuchern wild durcheinander, der Rasen hat braune Erdflecken und in den Blumenbeeten feiert das Unkraut wilde Partys. Nach einer Weile sehe ich, auf einer Bank, die auch mal wieder einen Anstrich nötig hätte, sitzend, den Grund: Der Stadtgärtner arbeitet nicht, er hockt im Schatten und schreibt. Als ich ihn anspreche, verkündet er: „Das sind Notizen für Busch und Bogen – aus dem Alltag eines Stadtgärtners.“
Im Restaurant Schnuffelhauser Stuben werde ich eine halbe Stunde nicht bedient. Und das, obwohl das Lokal leer ist. Als ich meine Bestellung aufgegeben habe, braucht es noch einmal 30 Minuten bis mein Schnuffelhauser Pfännchen (Lendchen mit Blumenkohl, Bratkartoffeln und Salatgarnitur) kommt. Sie ahnen den Grund: Der Kellner steht am Buffet und schreibt an Zweimal Pils und Korn – aus dem Alltag eines Kellners und der Koch an Die eingebrockte Suppe – aus dem Alltag eines Kochs.
Nun werde ich wach und durchstreife gezielt die Stadt. Schnuffelhausen ist praktisch lahmgelegt. Der Einbrecher bleibt am Tatort und notiert und wird nur deshalb nicht in flagranti ertappt, weil der Polizist den Notruf aus gleichem Grund nicht entgegennimmt. In den Arztpraxen stapeln sich die Patienten, weil der Onkel Doktor an seinem Alltags-Buch arbeitet und kein einziger Raum wird mehr geputzt. Die Beschwerden im Rathaus häufen sich, werden aber nicht  bearbeitet, weil…
Sie wissen es schon.
Ich nehme mir ein Megafon, stelle mich auf den Markplatz und rufe:
AUFHÖREN! 
AUFHÖREN!
NIEMAND BRAUCHT DAS!
NIEMAND BRAUCHT IRGENDWELCHE ERFAHRUNGSBERICHTE!
Ist doch wahr. Die Buchhandlungen sind doch schon überschwemmt mit den lustigen Dingen, die Lehrer, Schüler, Lehrerkinder, Ärzte, Tierärzte, Zahnärzte und Tierpfleger erlebt haben. Und alle diese Machwerke kranken an zwei Dingen: Der Alltag – gleich welches Menschen – ist meistens gar nicht so lustig, wie man denkt. Man müsste eine lustige Begebenheit auch noch komisch darstellen, sprich lustig beschreiben können, was aber die Autoren nicht schaffen.
Die Verlage haben hier versucht, ein beliebtes Genre des Fernsehens aufs Buch zu übertragen:
Die Doku-Soap.
Und das klappt nicht.
Wenn im Stadtgarten ein Mensch auf nassem Laub ausrutscht, kann das irre komisch aussehen, geschrieben ist es NICHT LUSTIG. Wenn dem Kellner der Barsch für 12 Personen von der Platte gleitet, kann man das in Zeitlupe sehr witzig zeigen, geschrieben ist es NICHT LUSTIG. Abgesehen davon, dass halt der Automechaniker, der hier seine Erlebnisse schildert, kein Grass oder Genazino ist, weil dann wäre er ja auch kein Mechaniker. Oder anders formuliert: Ich möchte von meinem Lieblingsautor nicht den Blinddarm operiert bekommen, warum muss mein Doktor dann schreiben?
Vielleicht sollte man eine andere Spezialität des TV aufs Buch übertragen:
Die Retter-, Hilfe- und Aufräumdoku.
Die Textretter.
Davon ein anderes Mal mehr.
In Schnuffelhausen bin ich inzwischen umringt von einer Menschenmasse, so wie Gandalf und Legolas von den Orks oder Gulliver von den kleinen Männchen. Sie hören mir zu und…
Schreiben!
Zu Hilfe, sie schreiben!
Ich werde also in 1067 Erfahrungsberichten in Kapitel 4 oder 9 als der „Mann mit dem Megafon“ auftauchen. Der Schuss ging hinten los.

Samstag, 13. Juli 2013

Mannheim, die Fächerstadt oder: Ich schreibe mein Leben neu

Im Zug nach Berlin treffe ich einen US-Touristen. Er heisst John und kommt aus Peacetown, Oregon. Wir kommen ins Gespräch und ich erzähle ihm, dass ich viel in Deutschland unterwegs bin. Unter anderem erwähne ich Mannheim, wo ich neulich Achim Freyers Ring gesehen habe. John ist ein gebildeter Mensch, er hat den Namen Freyer schon einmal gehört und kann mühelos den Walkürenritt, den Waldvogelgesang und Starke Scheite schichtet mir auf singen. Bei der Erwähnung von Mannheim allerdings sagt er: "Aha, die Fächerstadt." Ich erwidere, das sei nicht ganz korrekt, die Fächerstadt sei Karlsruhe. Nein, meint er, Mannheim und Karlsruhe seien barocke Reissbrettplanungen, die erste ein Fächer und die zweite quadratisch. Nun werde ich als gebürtiger Baden-Württemberger doch ein wenig ungeduldig, immerhin war ich im Kinderwagen schon am Wasserturm und bin mit 4 Jahren schon auf die Pyramide geklettert. Ich frage ihn, woher denn seine Informationen stammten. "Stand im Internet."
Aus, vorbei, Kapitulation. Gegen das Internet bist du machtlos. Wenn das irgendwo stand, muss es ja stimmen. Das Internet hat immer recht.
Damit das aber keine Online-Schelte wird, muss man weiter ausholen: Das Gedruckte Wort wurde zu allen Zeiten als wahrer und richtiger angesehen, ja, eigentlich sogar das GESCHRIEBENE Wort. Der grösste Schwachsinn wurde wahr, wenn ihn eine Person aufschrieb.
Tiere nach Hirschart ohne Kniegelenke, die sich zum Schlafen an die Bäume lehnen und gefangen werden, indem man die Bäume fällt? Gallisches Ammenmärchen, bei Cäsar wird es zur Tatsache und Millionen von Pennälern mussten es übersetzen. Tausende von Berühmtheiten haben falsche Geburtsdaten, weil die Dorfpfarrer an einer eklatanten Diskalkulie litten. Jägermeister, Biccini und die Steinlaus waren ja nicht aus den Lexika herauszubringen. Und Autobiografien? Erstunken und erlogen. Und wer nicht selber schreiben konnte, hielt sich einen "Leiblügner", so nannte Karl der Grosse seinen Meister Eckehart.
Und jetzt kommt mir eine Idee: Ich werde eine Homepage schalten und da kommt dann eine Vita hinein, bei der ich sehr frei mit den Fakten umgehen werde.
Ich werde mich einbürgern, werde in Kreuzlingen geboren sein, aus 5 Wochen Arizona werden 5 Jahre San Francisco, später habe ich Frankfurt Musik und Philosophie studiert, ich war Assistent von allen Leuten, mit denen ich schon einmal am Tisch sass oder bei einer Derniere angestossen habe: Michael Tilson Thomas, Dieter Schnebel, Herbert Wernicke und natürlich Cornelius Meister, von dem habe ich sogar die Handynummer.
Ich werde in Holland gelebt und die grössten Chöre und Opernkompanien gegründet haben. Ich werde ein Genie sein und natürlich den Dr. vor dem Namen haben.
Und meine vielen Freunde, die schon mein ganzes Leben mit mir geteilt, die von Kindesbeinen an mit mir gelacht und geweint, die mit mir Nächte durchgesoffen und durchdiskutiert haben, werden immer wieder verzweifeln.
"Der Rolf Herter ist kein Eidgenosse, der ist Stuttgarter, ich ging mit dem doch in die Klasse." "Der ist Kreuzlinger, stand im Internet."
"Der Rolf Herter war ein paar Wochen in der Buena Vista High School kurz vor der Mexikanischen Grenze, ich war ja dabei." "Der war am Golden Gate, stand im Internet."
"Der Rolf Herter hat den Knabenchor bei der Jeanne d´arc gemacht und Meister hat gesamtgeleitet." "Der war Assistent von Meister, stand im Internet."
Gegen Geschriebenes sind Sie machtlos, waren Sie immer schon.
Übrigens war EGINHART der Schreiber Karls, aber jetzt war es halt Meister Eckhart, es steht ja jetzt oben - IM INTERNET.

Diesmal einen Tag zu spät - ich weiss nicht, wie man mit den Daten hier hackmogelt, sonst stünde es auch fa schwarz auf weiss und ...... falsch

Montag, 8. Juli 2013

Perfekter Tag oder: Lass das Haar mal in der Suppe


„Der letzte Freitag war ein perfekter Tag. Schulabschluss in Solothurn, tränenreicher Abschied von meinen Rabauken, die wir in die Berufswelt entlassen, Apéro im Kollegenkreis, dann nach Basel, auspacken und umziehen. Am Abend in Avenches. Fahrt mit Luxuscar, Wein und Sandwiches, die Landschaft des Seelandes zieht vor dem Fenster vorbei. Schon beim Einsteigen hatte mich ein ehemaliger Kollege begrüsst und uns seine neue Partnerin vorgestellt. Sie entpuppte sich als absolute Opernkennerin, Kulturreisende, eine charmante und unterhaltsame Frau. Nichts lag also näher, als zusammenzubleiben, Bummel durch die herrliche Altstadt, Abendessen zu viert im La Couronne, Vorspeisen und Entrecote, Rosé aus der Gegend. Und dann ein Nabucco unter dem Sternenhimmel, musikalisch perfekt und eindrücklich inszeniert.“
Als ich Luft hole, meint mein Gegenüber: „Du bist einfach ein Glückspilz, ich würde gerne auch einmal einen so perfekten Tag erleben.“
Nun kann ich mich nicht beherrschen: „Das würdest du ständig, wenn du nicht ein solcher Motzkübel wärest.“
„Das stimmt doch überhaupt nicht!“
„Oooo doch. Dir wäre schon der ganze 5.7.zu heiss gewesen, im Car allerdings hätte dich die Klimaanlage verrückt gemacht. Der Weisswein wäre dir zu süss erschienen und dann hättest du vielleicht nur ein Käse- statt eines Schinkensandwich bekommen. In Avenches hätte dich der Rummel gestört, vom Essen will ich gar nicht reden, da du ein notorischer Kellnerquäler bist, hättest du an Vor- und Hauptspeise etwas auszusetzen gehabt. In der Arena wären die Bänke zu hart gewesen und die Treppen zu steil, ausserdem hättest du das Vibrato der Abigail, das Timbre des Ismaele und die Mittellage des Nabucco scheusslich gefunden. Und die Inszenierung? Seien wir ehrlich, die letzte Inszenierung, die dir gefallen hat, war der Räuber Hotzenplotz des Stadttheaters Liestal, da warst du vier.“
„Du stellst mich als total negativen Menschen dar.“
„Da muss ich gar nichts darstellen, du BIST ein total negativer Mensch. Du findest immer etwas zu mäkeln, schimpfen, motzen, kritisieren, du findest immer die wunde Stelle, den Fleck, den Makel. Wenn man dir einen Obstkorb schenkt, drehst du jede Frucht so lange um, bis du eine wurmstichige findest, schenkt man dir ein Buch, findest du einen Kommafehler, scheint die Sonne, ist es zu drückend, weht der Wind, ist es dir zu stürmisch und bei Regen bist du eh kurz vor dem Amoklauf.“
„Ok, stopp, was willst du mir jetzt damit sagen?“
„Dass auch du einen perfekten Tag erleben kannst, zum Beispiel nächsten Samstag. Fahre an den Sempachersee, gehe schwimmen, esse in Sursee in der wunderschönen Altstadt, aber mache es dir nicht selber kaputt.“
„Der Sempachersee hat Algen und die Badi ist extrem überlaufen und in Sursee gibt nun wirklich kein einziges vernünftiges Restaurant.“
Ich beende das Gespräch, denn hier ist Hopfen und Malz verloren. Schade, denn ich erlebe so viele perfekte Tage, die ich anderen auch gönnen würde. Aber wer nach dem Haar in der Suppe sucht, der findet es auch. Inga und Wolf haben in den Siebzigern gesungen:

Lass das Haar mal in der Suppe
Vielleicht fühlt es sich da wohl
Es gibt Blumen für die Schönheit
Für den Hunger Blumenkohl

Donnerstag, 4. Juli 2013

Ich werde ausspioniert

Ich hatte immer den Eindruck, dass etwas nicht stimmt:
Meine Post ging zu leicht auf, als ob die Briefe schon einmal offen waren, beim Telefonieren hatte ich so einen komischen Hall in der Leitung. Ich halte - die mich kennen, wissen das - peinliche Ordnung, insofern fielen mir Akten auf, die nicht mehr parallel zum Schreibtischrand lagen, Stühle, die nicht mehr exakt unter dem Tisch standen, Bücher, die einen Millimeter aus den anderen herausragten. Mails und SMS verschwanden auf merkwürdige Weise, obwohl der Absender mir zeigen konnte, dass er oder sie sie abgeschickt hatte, waren sie nie angekommen.
Nun war ich neulich auf einen Trick verfallen: Ich ging aus dem Haus, lief zum Barfüsserplatz, stieg in die Linie 14, wechselte aber schon am Bankverein das Tram, schlug ein paar Haken, wechselte nochmals, und ich kehrte eine halbe Stunde später zurück und schlich mich via Hintereingang in ein Café in der Nähe meines Hauses.
Um 11.00 machte sich ein dürrer junger Mann an meinem Briefkasten zu schaffen. Ich stürzte aus dem Bistro und zwang ihn mit einem Schweizerarmeemesser bewaffnet in meine Wohnung. Da er eigentlich eher einen schüchternen und zagen Eindruck machte, steckte ich die Mordwaffe bald weg und bot ihm einen Cognac an. Unter Tränen gestand Vic, so hiess der CIA-Agent, dass er seit einem halben Jahr schon hinter mir her sei, und das, obwohl es gar keinen Grund gebe.
"Es ist einfach alles so simpel geworden", schluchzte Vic, "weisst du, früher konnten wir uns tagelang damit beschäftigen, das Leben eines Beobachteten zu dokumentieren: XY geht aus dem Haus, XY kauft Zigaretten (Parisienne rot, 2 Packungen), XY geht einen Espresso im MOULIN trinken, XY kauft eine Zeitung (BAZ), XY geht nach Hause. Heute schreiben die Leute das alles selber auf, sie posten, sie twittern, sie bloggen, sie facebooken, heute kann ich den gesamten Tag eines Menschen im Internet nachlesen: Hey Leute, hab grad Zigaretten gekauft und trinke jetzt geilen Espresso im MOULIN, dann gehe ich nach Hause (+Bild vom Kaffee).  Ja, manchmal bieten mir Leute, die ich ausspionieren sollte, sogar selber eine Online-Freundschaft an. Und weil ich eigentlich nichts zu tun habe, spioniere ich halt so in der Gegend umeinander. Bei dir macht das wenigstens noch Spass mit den staatsfeindlichen Texten, die ich in deinem PC finde." (Ich verschwieg ihm, weil er so glücklich war, dass er jeden Text auch 5 Tage später online finden könne.)
"Seid ihr deshalb inzwischen hinter Verbündeten und neutralen Staaten her?"
Vic weinte heftiger: "Was sollen wir denn machen? Wir sind einfach zu viele. Allein die CIA hat 20.000 Agenten und wir sind nur ein Geheimdienst von vielen."
"Hast du nichts anderes gelernt?" "Nein, ich habe nur Spionausbildung."
Vic hatte sich nach 14 Cognacs einigermassen beruhigt und legte sich auf mein Sofa zum Schlafen.
Ich aber kam ins Nachdenken: Wanzen in Berlin, Bern, Wien und Paris, nur, weil so viele US-Agenten nichts zu tun haben? Irgendwie blöd. Kann man die ganzen Geheimdienste nicht einfach abschaffen? Und was macht jetzt der aufgeflogene Vic??
Also Leute:
Habt ihr eine Stelle für jemand mit diesen Fähigkeiten:
* Vic rennt wie der Teufel, kann 5 Minuten unter Wasser bleiben und hat eine Kondition wie ein Bär.
* Vic spricht 20 Sprachen akzentfrei (und hat auch die entsprechenden Pässe)
* Vic hat ein fotografisches Gedächtnis, er weiss sofort, welche und wie viele Personen sich in einem Raum befinden und kennt nach 30 Sekunden alle Nummernschilder eines Parkplatzes
*Vic ist extrem gut organisiert

P.S. Und wenn jetzt jemand sagt, ich hätte zu viel BOURNE-Trilogie geschaut: Ja, natürlich.
Aber ich glaube, dass die BOURNE-Filme relativ realistisch sind, es gibt sicher viele Geheimprojekte innerhalb eines Geheimprojektes innerhalb eines Geheimdienstes.

Montag, 1. Juli 2013

Im Elfenbeinturm

Oben im Elfenbeinturm sitzt der Alte Prof.
Der Alte Prof ist weisshaarig, runzlig und sehr gebildet.
Hinter ihm sind Bücher und vor ihm sind Bücher und neben ihm auch. Auf seinem Holzschreibtisch liegen Stapel von Manuskripten und vor ihm liegt ein Blatt. Darauf schreibt er. Mit Tinte und in Sütterlin. In seinen Denkpausen nippt er an einem Glas Rotwein und zieht an seiner Zigarre. Seit Stunden grübelt er nun darüber, was der Barockdichter Drusius mit "Wir sattelten die Rose"(1) meint oder ob es schlicht und einfach ein Schreibfehler war und "Rosse" heissen muss. Er kann lange grübeln, denn die für 2020 geplante Gesamtausgabe der Werke des Drusius (20 Bände, in Subskription 200.- pro Band) wird nicht mehr finanzierbar sein. Aber der Alte Prof wäre nicht der Alte Prof, wenn er eine Sache nicht zu Ende bringen würde.
Manchmal seufzt er, wenn er daran denkt, dass er morgen wieder in den Hörsaal muss und dozieren, denn er gehört zu den Leuten, die die Lehre für Zeitverschwendung und Studenten für Pack halten. Pack, dass ihm die Zeit stiehlt. Zeit, die er für Drusius bräuchte.
Es klopft.
Herein tritt Kurt Kuller, sein Assistent und bringt ihm ein Büschel ausgedruckte Mails, denn selbstverständlich kann der Alte Prof keinen Computer bedienen. Der Alte Prof nickt huldvoll. Als sich Kuller zum Gehen wendet, spricht der Alte Prof ihn an: "Kuller, wir haben doch neulich über das Zitieren gehandelt. Nun hat der Referent hier wieder so eine Studentenarbeit, wo alles falsch ist."  Der Alte Prof würde nie ICH sagen und spricht das Wort Studentenarbeit aus, als würde es sich um einen Pornoroman handeln. "Kuller, Sie nennen doch niemals den Verlag und schreiben brav Stadt und Jahr?" "Natürlich, Ihro Magnifizenz." "Und verwenden nie die gleiche Fussnote und schreiben brav immer ebenda und am anderen Ort?" "Natürlich, Ihro Magnifizenz." "Und Sie gehen auch nie in dieses Wikingerdings?" "Wikipedia, Ihro Magnifizenz." "Wie bitte?" "Das Onlinelexikon heisst Wikipedia." "Gut, also?" Kuller fasst sich ein Herz und sagt: "Doch, ich verwende es." "Kuller, Kuller, Sie bestürzen den Referenten, wie können Sie nur! Im Institut stehen 40 Meter Lexika und Sie schauen in diese Elektronikkiste!" Kuller gibt zu bedenken, dass wenn ein Autor stirbt, das Todesdatum am nächsten Tag in Wikipedia steht und erst viel später in irgendeinem Nachschlagewerk. Das lässt der Alte Prof nicht gelten, für ihn sind lebende Autoren sowieso Quatsch, er würde nie einen Grassroman, einen Genazinotext oder ein Lewitscharoffbuch auch nur zehn Meter an sich ranlassen,  seine Literaturgeschichte endet mit Lessing. Mürrisch schickt er seinen Assi fort und überlegt sich, ob er den Posten nicht doch mit einem weniger fortschrittlichen Menschen besetzen muss.
Der Alte Prof wendet sich wieder seinem Drusius zu und entscheidet sich für "Rose"(2). Denn erstens macht ein Drusius keine Fehler und zweitens kann er jetzt eine kühne Interpretation ins Nachwort setzen. Er ergreift das 1000seitige Standardwerk "Die Blume in der Lyrik des 17.Jahrhunderts"(3) und beginnt zu blättern. In drei Stunden wird er zu Tisch gehen, aber natürlich an seinen Stammplatz im Lamm, einem der wenigen Lokale, wo noch wirklich gutbürgerlich gekocht wird.
Und dort hat es auch niemand von den Leuten, die er am meisten hasst:
Studenten.

(1) Drusius, Kolatus Hermann: Neye frische teutsche Gedichtlein, hrsg. von A. Müller, Bottrop 1934, S. 137 ff
(2) ebd.
(3) Freimann, Hubert und Schlechtwanger, Michael: Die Blume in der Lyrik des 17.Jahrhunderts, Castrop-Rauxel 1955