Donnerstag, 30. Januar 2014

Wohin mit den vielen Schweizern?


Der Russische Arbeitsmarkt wird seit Jahren mit Tadschiken, Usbeken und Kirgisen gefüllt, denn die Russen zieht es nach Westen. Dort erwartet man sie auch sehnsüchtig, denn in Polen, der Tschechei, in Ungarn, Bulgarien und Rumänien fehlen Arbeitskräfte. Die Westslawen ihrerseits wandern nämlich nach Deutschland, wo sie ebenfalls sehnsüchtig erwartet werden. Eine richtige Völkerwanderung. So putzt die Kirgisin Kaidhuu eine Praxis in Moskau, während Olga in Prag Regale einsortiert, Vaclav fährt in Berlin Taxi, während Bernd… Ja wohin gehen jetzt die Deutschen? Richtig, in die Schweiz. Wo sie ebenfalls sehr willkommen sind. (Als Arbeitskräfte, nicht als Menschen, aber das kann man ja auch verstehen.)
Die Schweizer haben nun ein Problem: Sie wissen nicht, wohin SIE sollen. Wo ist das Land, in das die Eidgenossen wandern könnten? Wo gibt es einen Staat, der so schön ist, so prachtvoll, mit solch klaren Seen und schneebedeckten Bergen? Wo ist das Land, in dem die Züge pünktlich sind und das Volk wirklich regiert? Wo ist so eine Nation, der die Menschheit auch so viele entscheidende Impulse verdankt, und ich rede nicht von so Lappalien wie Pestalozzi oder Dunant, sondern von der Konservendose, dem Reissverschluss und dem LSD? Gibt es irgendwo einen Platz auf der Erde, der so sauber ist wie die Schweiz, wo man von jedem Boden essen kann und man gar keine Wörter für Spinnwebe, Staub und Fleck hat? Wo gibt es ein Land, das – nun müssen wir mal auf den Punkt kommen – das so reich ist wie die Schweiz? Wo?
Gut, vielleicht Monaco oder Luxemburg, aber die sind einfach zu klein. Die sind ja noch winziger als die Eidgenossenschaft.
Wo sollen wir Schweizer hin?
Ich habe bewusst „wir“ gesagt, denn wenn die Auswanderungswelle kommt, werde ich schon Schweizer sein. Und die Auswanderungswelle wird kommen, wenn man begriffen hat, dass die Schweiz eben doch überall möglich ist. Zum Beispiel in der Sahara, doch, doch, doch, lassen Sie uns das doch mal durchspielen.
Um das Wichtigste zu nennen: Das Geld lässt sich überall mitnehmen, den Kunden der UBS und der CS ist es egal, wo sich ihre Schliessfächer befinden, den zahllosen Firmen, die in Zug Briefkastenfirmen betreiben auch, wenn ich eh nie dort bin, kann meine Zentrale in der Innerschweiz oder in Xsulugho sein.
Schwieriger wird es mit den Seen und Bergen. Hier wird man ein bisschen tricksen müssen, mit viel Überdachung und Bewässerung, mit Kältetechnik und Hallenbau, da wird man einiges an Architektur- und Ingenieurskunst benötigen, ist aber auch alles kein Problem. Schliesslich baut man in Ländern, wo ein Ei schon kocht, wenn man es nur aus der Tasche nimmt, Stadien zum Fussball spielen und im Ruhrgebiet Hallen zum Skifahren. Im Gegenzug stampft man in nördlichen Breiten Hangars aus dem Boden, in denen dann Palmen und Zypressen um einen Pool herumstehen. 
Was machen wir mit den Geissen? Kann man überallhin mitnehmen, na ja fast überall, aber Löwen und Gazellen sind auch etwas Schönes.
Jassen? Kann man auf der ganzen Welt. Alphorn spielen? Auch, vielleicht klingt es in der Wüste nicht so schön wie in einem engen Alpental mit Echo, aber die Berge müssen wir ja eh nachbauen.

Und wenn es uns in der Sahara dann doch so gar nicht gefällt, können wir immer noch nach Tadschikistan, Usbekistan oder Kirgistan auswandern, und von da nach Russland, dann nach Polen oder Tschechien, später nach Deutschland und schliesslich fallen wir von oben wieder in die Alpenregion ein, in 80 Jahren um die Welt.

Vielleicht, ganz arg vielleicht, möglicherweise und eventuell sollte man sich darum kümmern, dass alle Menschen sich da wohl fühlen, wo sie sind, d.h. Arbeit, Essen, ein wenig Kultur und Wohlstand haben, denn genauso wenig, wie der Eidgenosse in die Sahara will, will eigentlich der Mittelasiat in die Fremde.  
 

Montag, 27. Januar 2014

Die richtigen Ausländer: Eine Typologie


„Die Schweiz hätte die falschen Ausländer im Land“ so zitiert 20min den Kampagnenleiter Oliver Steimann von Economiesuisse. Was aber sind die richtigen und was die falschen? Ich habe versucht, einmal eine klare Einteilung zu machen: Die Schweiz braucht Ausländer, die einem der vier Typen angehören.

Typus A: Der oder die Reiche

Der Mensch dieser Kategorie hat Geld, das er in die Schweiz mitbringt und hier hortet. Nebenbei kauft er Häuser, Firmen und Gelände und zahlt kräftig Vermögenssteuer. Damit das klar ist: Wir reden von Geld, wirklich Geld, nicht von Peanuts, von Trinkgeldern, von Kleinsparern.
So ab 100 000 000 (in Worten: 100 Millionen) wird es interessant. Woher das Geld kommt, spielt keine Rolle, Vermögen in dieser Grössenordnung kann sowieso nicht redlich verdient sein.

Herkunftsländer: Russische Oligarchen, Arabische Ölscheichs (kann man „Öligarchen“ sagen?) Südamerikanische  Drogenbarone, Skandinavische Pfuschmöbelhersteller

Typus B: Der oder die Arbeitswillige

Der Mensch dieser Kategorie hat einen starken und leistungsfähigen Körperbau, ist sich für keine Arbeit zu schade und führt ein genügsames Leben, Arbeitstage bis 14 Stunden machen ihm nichts aus, zuhause ist es das Doppelte (geht gar nich, aber wurscht), er ist mit einer Miniwohnung, regelmässigem Essen und einem Bierchen am Wochenende der glücklichste Mensch der Welt. Seine Sprachkenntnisse lassen zu wünschen übrig, aber er versteht, was er tun soll und kann mit „Geht klar“, „OK“, „Verstanden“ oder „Jo, Massa“ antworten.

Herkunftsländer: Afrikanische Kolonien (ups, sorry ich meinte Staaten.)

Typus C: Der oder die Lernwillige

Der Mensch dieser Kategorie ist vorzugsweise noch jung, superintelligent und extrem fleissig. Er paukt, angetrieben durch Lehrer und Betreuer, Deutsch, Mundart, Französisch und Englisch, dazu natürlich Mathematik und Informatik. Er gehört nicht zur Gruppe „Genügend ist genug“, sondern zur Gruppe „99 von 100 Punkten ist miserabel“. Begriffe wie chillen und relaxen sind ihm fremd. Dass er eine menschliche Katastrophe ist, macht nichts. Er soll ja später schliesslich nicht als Sozialarbeiter sondern in der Pharma arbeiten, wo er gut reinpasst.

Herkunftsländer: Asiatische Staaten, v.a. China und Indien

Typus D: Der oder die Ausgebildete

Der Mensch dieser Kategorie hat einen Bachelor in Mathematik und Physik, sowie Master in Bio und Chemie, er ist promoviert, evtl. habilitiert und durch etliche Postdocs, Zusatzkurse und Weiterbildung rinnt ihm das Fachwissen fast aus den Ohren. Er war in Harvard, Oxford, Cambridge UND Berkeley, dadurch hat er diese Sprache so aufgesogen, dass er sogar in Englisch träumt. Nebenbei ist er in 10 Plattformen vernetzt und niemals, ich betone niemals, ohne irgendein elektronisches Gerät anzutreffen.

Herkunftsländer: Mitteleuropa und USA (die träumen natürlich eh in Englisch, setzen Sie oben eine andere Sprache ein)

So, das sind die Leute, die gebraucht werden. Alle anderen – sorry, Leute – können daheim bleiben.

Donnerstag, 23. Januar 2014

Tell-Sell


Der junge Mann, der gerade über die Mattscheibe flimmert und dort auf dem Bildschirm in knapper blauer Badehose einen Mittelmeerstrand entlangtänzelt, hat einen unglaublich durchtrainierten Bauch, ein Waschbrett, wie es schöner nicht sein könnte, ein Sixpack, nein vielmehr ein Eightpack oder sogar ein Tenpack. Und jetzt verkündet mir die Stimme aus dem Fernseher, dass ich so einen Körper auch erreichen könne, in einem halben Jahr mit Zeitaufwand von 15 Minuten pro Tag.
Perfect Ab Modulator ® heisst das Gerät, das ich sofort bestelle, denn Perfect Ab Modulator® unterstützt den Rücken beim Hochgehen, dabei massieren ein paar Rollen noch die Hinterseite, fördern die Durchblutung, lindern Kopf- und Herzschmerz, nebenbei ist das Ganze noch ein Cardiotraining, Perfect Ab Modulator® ist eine eierlegende Wollmilchsau, ein Wunder, dass das Teil nicht noch gleichzeitig Kaffee kocht und bügelt. Die reizende junge Dame am Telefon nimmt meine Daten auf und sichert mir zu, die Lieferung werde heute noch losgehen.

Als ich vom Fernsprecher zurückkomme, hat sich das Produkt des Tell-Sell-Programmes geändert. Wieder wird ein Mann bei Situps und Crunches gezeigt, nun aber kreuzt ein rotes X aggressiv das Ganze durch. Eine andere, aber ebenso freundliche Stimme erzählt mir, diese mühevollen Übungen seien nun nicht mehr nötig, man brauche kein Fitnessstudio und keinen Heimtrainer, ja, man müsse sich gar nicht mehr anstrengen, denn die hier komme das Neueste vom Neuesten: Perfect Fat Freezer® heisst das Gerät, das im Film wie ein scheusslicher Lebensrettungsgürtel aussieht, aber eine wunderbare Erfindung ist, denn Perfect Fat Freezer® tötet Fettzellen durch Erfrieren. Man muss nur 15 Minuten am Tag den Gürtel anlegen und hat in einem halben Jahr ein Sixpack, oder Eightpack, oder Tenpack, eine schlanke Taille, man passt in jede Hosengrösse und macht in knappen blauen Badehosen am Mittelmeer eine wirklich gute Figur.

Ich stürze zum Telefon und bekomme zum Glück dieselbe reizende junge Dame an die Leitung. „Hallo“, sage ich, „hallo, ich bin es noch mal, Rolf Herter in Basel, ich will jetzt den Perfect Fat Freezer® und dafür bestelle ich den Perfect Ab Modulator® ab.“ „Widerrufen geht nicht“, so die nette junge Frau, „die Lieferung ist schon im System. Sie können aber jedes Produkt bei Nichtgefallen jederzeit kostenlos zurücksenden und erhalten Ihr Geld retour.“ „Aber Sie können doch nicht im TV sagen, dass ich das Gerät, das ich vorher gekauft habe, eigentlich gar nicht brauche, weil Sie noch etwas viel Besseres haben, und jetzt kann ich die Bestellung gar nicht rückgängig machen.“„Tut mir leid, zahlen Sie den Perfect Fat Freezer® und schicken Sie den Perfect Ab Modulator® zurück.“

Ich setze mich wieder vor meine Mattscheibe und traue meinen Augen nicht: Jetzt erscheinen Bilder von Bauchmuskelgeräten UND von Schlankmachgürteln und ALLE werden aggressiv rot durchgestrichen. Denn um in Kleidergrösse XS zu passen, braucht es gar nix ausser Perfect Body Former®. Perfect Body Former® ist die elastische zeitgemässe Version von dem, was man vor 300 Jahren trug und was man mit dem hässlichen Wort Korsett bezeichnete: Ein Unterzeug, das den Körper so verengt, dass man in jede Grösse, auch S, XS, XXS und XXXS hineinpasst. Zum Glück ist mein Verlangen wirklich das nach einem Körper, der in blauer Badehose an Mittelmeerstränden seine Wirkung zeigt, also nach Six-, Eight- und Tenpack, und nicht etwa nur in S wieder hineinzupassen, sonst müsste ich jetzt nämlich einen dritten Anruf starten und mich entsetzlich mit der jungen Dame streiten. Denn was die reinen Körperformen anbelangt, macht Perfect Body Former® den Perfect Fat Freezer® UND den Perfect Ab Modulator® überflüssig.

Mit welcher Unverfrorenheit wird hier eigentlich gearbeitet? Das Gerät, das wir gestern als ultimativ angekündigt haben, ist das, was wir heute durch-x-en. Haben Sie gestern Messer gekauft, sagen wir ihnen heute, dass Sie nie mehr Messer brauchen, wenn Sie unsere Küchenmaschine nehmen. Haben Sie gestern Schmerzpflaster gekauft, macht die Dr.Cheng-Wung-Gabel (heute im Tell-Sell) jedes Schmerzpflaster obsolet. Sagten wir vor zwei Wochen, irgendwas sei nicht zu verbessern? Macht nix, heute kommt die neue, verbesserte Version.
Wissen Sie übrigens, warum die Tell-Sell-Stimmen laufend wechseln? Die TV-Verkauf-Leute werden permanent von der Politik abgeworben, da läuft das nämlich genauso.
   

Montag, 20. Januar 2014

Die Schweizer haben beim Thema ÖV ein Luxusproblem


Die Schweizer hätten beim Thema ÖV ein Luxusproblem, sagt Mnube Mnububu aus Kenia, wenn er in die Kreisstadt müsse, stehe er um 4.00 auf, beim ersten Sonnenstrahl, beim ersten Gnuschrei, dann müsse er, nachdem er sich gewaschen, angezogen und seinen Maniok gegessen habe, zwei Stunden bis zu einer Busshaltestelle laufen, dort müsse er um 7.00 sein, denn ab 7.00 komme dort der Bus vorbei, die Betonung liege hier allerdings auf „ab“, denn Bus erreiche die Haltestelle eben zwischen 7.00 und 12.00, man tue gut daran, immer etwas zum Trinken und zum Lesen und zum Rauchen dabei zu haben. Komme der Bus dann, so Mnube Mnububu, so sei man froh, wenn auf dem Dach noch Platz sei, denn Trittbrett, Heck oder Front seien nicht so gemütlich. Die Rückfahrt aus der Kreisstadt gestalte sich ähnlich, die Abfahrt erfolge zwischen Sonnenuntergang und letztem Gnuschrei, also zwischen 19.00 und 24.00, er müsse dann natürlich noch zwei Stunden heimwandern, eine Fahrt auf ein Amt, eine Behörde sei also eine gewaltige Sache.

 Die Schweizer hätten beim Thema ÖV ein Luxusproblem, sagt Hiroshi Makaneda aus Tokio, er wohne in einem Vorort, stehe um 7.00 auf, wasche sich, ziehe sich an und trinke seinen Tee. Um 7.45 verlasse  er das Haus und werde sofort, quasi vor der Haustüre von einem Strom von Menschen erfasst, dieser Strom spüle ihn, reisse ihn, ziehe ihn zur U-Bahn-Haltestelle und in den Untergrund. Dort könne man praktisch schon kaum mehr stehen, atmen ginge gerade noch. Wenn der Zug komme, werde er in einem Pulk von Leuten in die Metro gequetscht, ein Sitzplatz liege ausserhalb jedes Denkvermögens, Ziel sei es nur hineinzukommen. „Gequetscht“ sei übrigens wörtlich zu verstehen, so Hiroshi Makaneda, denn die Tokioer Metro beschäftige sogenannte Pusher, die die Menschenmasse in den Wagen hineindrückten, damit die Türen zugingen. Stehe man direkt vor einem Pusher, könne das manchmal sehr schmerzhaft sein, er selbst habe schon einige höllenmässige Stösse in die Wirbelsäule bekommen und wahrscheinlich sei er orthopädisch nicht mehr ganz in Takt.

Die Schweizer hätten beim Thema ÖV ein Luxusproblem, sagt Schantall Glabowski aus Wanne-Eickel. Sie arbeite in Bottrop und stehe jeden Tag um 3.00 auf, denn ohne vier Zigaretten und vier Tassen Kaffee werde sie nicht wach. Um 4.30 fahre die S-Bahn, die sie erreichen müsse, um rechtzeitig in der Halle der Frock AG zu stehn, Frühschicht. Sie könnte auch später fahren, aber man wisse ja, so Schantall Glabowski, wie das in Deutschland sei. Mal komme die Bahn überhaupt nicht, mal mit 50 Minuten Verspätung, mal seien die Türen kaputt und man könne nicht einsteigen, mal bliebe der Zug einfach irgendwo stehen.

Alle drei, Mnube, Hiroshi und Schantall, sind sich einig: Die Forderung nach einem billiardenschweren Ausbau der SBB, damit Pendler pünktlich, zuverlässig, bequem und SITZEND (hier erfolgt dreistimmiges, dreisprachiges, multiethnisches, internationales Hohngelächter) sei das Absurdeste, was sie je gehört hätten.

Gut und schön, aber die Drei vergessen das Folgende: Die Pendler Simone Burckhardt (Basel-Bern), Pia Matter (Bern-Zürich) und Urs Schläfli (Zürich-Basel) könnten auch mit dem Auto fahren. Das ist nämlich für unser Trio keine Option. Mnube hat gar keinen PKW, Hiroshi hat zwar einen, aber nur zum Einkaufen im Vorort, denn die Parkplatzsuche in Tokio würde ihn drei Stunden kosten, Schantall käme problemlos zur Frühschicht, stünde dann aber auf dem Rückweg vier Stunden im Stau.

Warum fahren dann Simone, Pia und Urs mit der SBB? Einerseits aus Umweltschutzüberzeugung, andererseits, weil sie im Zug all das können, was im Auto nicht geht: Essen, Trinken, Lesen, Arbeiten, Dösen, Schlafen. Wenn die Züge nicht mehr pünktlich sind und vor allem, wenn sie keine Sitzplätze mehr bieten, werden die drei wieder den PKW benützen und statt wie bislang als Pendler die Eisen- werden sie als Pendler wieder die Autobahnen verstopfen. Der Hinweis, dass es in anderen Ländern im Pendlerverkehr wesentlich rauer und härter zugeht, rinnt also an unserer Baslerin, unserer Bernerin, unserem Zürcher ab wie Wasser.

Daher: Bitte, bitte, liebe Schweizer:
Stimmen Sie am 9.2., wenn es um Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur geht (FABI) mit JA!
Denn auch ich geniesse das Pendeln in warmen, pünktlichen Zügen MIT SITZPLATZ. Dieser gesamte Post ist auch in einem Zug entstanden, in doppelter Hinsicht.  

Freitag, 17. Januar 2014

Duineser Deutschnote


Heute ist Semesterwechsel im Baselland. 
Das heisst auch, heute endet die Rekursfrist und die Zeugnisse sind gültig.
Und auch wenn die Eltern nicht rekursiert haben, sind doch viele Schülerinnen und Schüler mit der Benotung, Bewertung, Beurteilung nicht einverstanden. All das ist ja auch alles schrecklich subjektiv.

Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach fand ich neulich die Beurteilung eines Textes, den ein junger Schriftsteller seinem Deutschlehrer abgegeben hatte. Die in ihrer Klarheit und Schärfe einmalige Bewertung verdient es, hier abgedruckt – kann man das bei einem Blog überhaupt sagen? – zu werden.

Lieber Rainer,

danke für deinen Text. Ich habe ihn mit Interesse gelesen, muss dir aber mitteilen, dass ich zu keiner guten Note kommen kann. Du hattest die Aufgabe, einen Aufsatz über das Thema „Die Militärkolonne“ zu schreiben. Natürlich ging ich davon aus, dass du entweder über die Deutsche Wehrmacht schreibst, im Sinne eines Ruhmliedes über diese unsere glorreiche Truppe, oder über ein feindliches Heer und seine Übel- und Gruseltaten. Du verlegst die Handlung – hat dein Geschreibe überhaupt eine richtige Handlung? – in die Zeit der Türkenkriege, gut, das könnte man noch dulden. Was nicht tolerierbar ist, ist die Form. Entweder ist ein Text ein Gedicht, dann hat es Verse, oder eine Erzählung, dann wird fortlaufend geschrieben. Habe ich euch das nicht hundertmal gesagt? Du machst eine Zwischensache, die nicht geht.
Ebenso hundertmal habe ich dir und deinen Klassenkameraden gewisse Grundregeln eingebläut, die du alle über den Haufen wirfst:
Keine Wörter wiederholen!
Sätze gut verbinden! (Haupt- und Nebensätze!)
Passende Adjektive suchen!
Und dann lese ich so etwas:
Reiten. Reiten. Reiten.
Durch den Tag. Durch die Nacht. Durch den Tag.
Reiten. Reiten. Reiten.
Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so gross.
Rainer, das sind sechsmal „Reiten“, dann dreimal der gleiche Satz in der Mitte, gar keine Sätze und erst recht nicht verbunden! Das geht einfach nicht.
Und der „müde Mut“? Der Mut wird doch nicht müde, der Reiter wird müde, vielleicht könntest  du noch schreiben, dass das Pferd müde wird, meinetwegen.
Es geht dann gerade so weiter, aber auf eine Sache muss ich auch noch zu sprechen kommen: Dein Text ist in einem Masse schwülstig, das mich erschreckt.
…und einmal wieder so: Wie nach dem Bade sein…
…die Turmstube ist dunkel, aber sie leuchten sich ins Gesicht mit ihrem Lächeln…
Das ist Kitsch, junger Herr, übelster Kitsch! Und mit diesem Kitsch geht eine so starke Verherrlichung von Liebe und Feiern gegenüber dem eigentlichen Zweck der Soldaten einher, dass dein Aufsatz, eine morbide, schwächende, ja wehrzersetzende Wirkung haben könnte. Ich hoffe, du hast ihn keinem Kollegen gezeigt.
 Rainer, du hast einmal erwähnt, Schriftsteller werden zu wollen. Ich kann dir nur raten: Lass es sein!
Vernichte diesen Text und schreibe nie wieder eine Zeile.
  
Dr. Hasso Hassmann

Zum Glück für uns hat sich Rainer Maria Rilke nicht daran gehalten. Und sein Text (Die Weise von Liebe und Tod), einer der grossartigsten der deutschen Literatur, blieb erhalten.
Aber urteilen wir nicht über den Lehrer. Ich glaube jeder Deutschlehrer wird verzweifeln, wenn er mit seinem bewährten Kriterienkatalog an einen Text von z.B. Jelinek herangeht. 

Montag, 13. Januar 2014

Inning oder Gibt es heterosexuelle Kleiderverkäufer?


30sek:              Herr Stämpfli, Sie sind Gründer und Leiter der Selbsthilfe-Vereinigung „Heteromänner                           in schwulen Berufen“. Braucht es eine solche Arbeit?

Stämpfli:          Absolut. Heteros in sind in gewissen Umfeldern noch immer grossen Belastungen ausgesetzt. Ein Inning…

30sek:              Was ist ein Inning?

Stämpfli:          Das Gegenteil von Outing: Jemand gibt zu, dass er Hetero ist. Ein Inning also kostet  sehr viel Courage.

30sek:              Von welchen Berufen reden wir?

Stämpfli:          Coiffeur, Kosmetik, Spa und Wellness, Parfümerie, Modebranche und Kleider-Detailhandel, aber auch Innenarchitektur, Möbel- und Antiquitätenhandel, und natürlich das gesamte Feld Theater-Film-Kunst-Musik.

30sek:              Werbung?

Stämpfli:          Ja, natürlich, vor allem, wenn die Kunden aus den oben genannten Bereichen kommen.

30sek:              Der Schwule also als Garant für Schönheit, Eleganz und Stil?

Stämpfli:          Das ist dieses saublöde Klischee!!! Warum soll ein Mann, der auf Frauen steht, nicht einen Duft kreieren können? Warum soll er keine Frisur gestalten können? Warum soll ein Hetero nicht wissen, wo er ein Sofa hinstellen soll? Wenn Schwule jetzt auch Fussball spielen, dann können doch wir auch Gesichter schminken!!!

30sek:              Man merkt, Sie sind emotional dabei.

Stämpfli:          Absolut. Ich habe selber jahrelang still gelitten, bis ich mich traute, der Öffentlichkeit meine Partnerin vorzustellen.

30sek:              Sie sind Visagist…

Stämpfli:          Ja, heute mit eigenem Laden in der Zürcher Bahnhofstrasse, aber damals…

30sek:              Wann war das?

Stämpfli:          2002, da war ich noch angestellt.

30sek:              Wie hat ihr Chef reagiert?

Stämpfli:          Er hat mich rausgeschmissen, er meinte, die Kundinnen liessen sich doch nicht von einem normalen Macho übers Gesicht fahren, die wollten die Sicherheit, dass die Finger, die da über ihre Backen fahren, kein heterosexuelles Begehren ausloten. Und zu mir haben ja auch Kundinnen gesagt: „Ihr Schwulen habt so zarte Finger.“

30sek:              Wie sieht es in der Modebranche aus?

Stämpfli:          Wenn ein Hetero einer Kundin sagt, ihr stehe Grün, dann kauft sie ein rotes und ein gelbes Shirt, die ihr natürlich nicht stehen, und sagt dann, sie sei schlecht beraten worden. Wenn man ihr mit nasaler, affektierter Stimme sagt: „Schätzchen, in Grün siehst du phäänomenaal auss!“, dann kauft sie gleich drei grüne Blusen.

30sek:              Herr Stämpfli, wird das Outing von Fussballstars und Soldaten Ihnen nützen?

Stämpfli:          Absolut. Jede Art von Klischee, die beseitigt wird, ist gut. Und wenn man weiss, dass auch Schwule kampfbetonten Sport machen können, dann wird man bald checken, dass auch Heteros Stil und Geschmack haben können.

30sek:              Ihre Wünsche für die Zukunft?

Stämpfli:          Ich wünsche mir. Dass folgende Sätze bald der Vergangenheit angehören:
                          „Wenn du nicht schwul wärst, hättest du das Tor getroffen.“ Und:
                          „Ich habe mir jetzt eine Gruixtend gekauft, du weisst das nicht,                 
                           aber das ist eine Handtasche."

Donnerstag, 9. Januar 2014

Ein dreifach Hoch den Epigonen!


Epigonal sei mein letzter Post gewesen, sagt mir ein Kollege, epigonal, sehr epigonal, einige Stellen hätten ein wenig nach Jelinek geklungen. Nun ja, da hat er vollkommen recht, das war ja auch der Sinn der Sache, es sollte eine kleine Stilkopie oder Stilparodie sein, ich habe ja auch schon bei Böll und Bernhard im Teich gefischt. Und als Glossist des eigenen Blogs darf man doch alles, mal ein bisschen so, mal ein bisschen so, mal einen Dialog schreiben und mal ein Gedicht, ich stelle mir zweimal in der Woche eine Carte Blanche aus.
Nun bleibe ich aber doch bei dem Wort epigonal hängen: Epigonentum ist so ziemlich das Schlimmste, was man einem Menschen vorwerfen kann. Wir sind so hungrig nach Neuem, Originellem, wir müssen ständig up-to-date sein, wir suchen so sehr nach dem Noch-nie-aber-auch-wirklich-noch-nie-Dagewesenen, dass epigonal zu sein gleichkommt mit dreckig, fies und asozial. Nehmen Sie doch nur einmal die Hochzeiten: Nur um ja nichts so zu machen wie die Freunde und Freundinnen kommen die Menschen auf die blödsinnigsten Ideen, sie heiraten unter Wasser, auf 5000 Meter Höhe, in der Kanalisation und im Löwenkäfig, sie lassen sich von Kapitänen trauen, aber auch von Zirkusdirektoren, Flugzeugpiloten und Müllkutschern. Sie heiraten in Las Vegas, nein, das ist ja auch schon so wieder etwas von epigonal, nein, sie heiraten in der Sahara, auf den Aleuten oder in Stonehenge (oder hat das auch schon jemand gemacht? Dann Finger weg davon.)
Ging es früher um eine feierliche und romantische Trauung, geht es heute nur noch um eine originelle.
Dabei vergessen alle eine Tatsache: Ohne Epigonen gebe es keine Kultur.
Der Fischer Francesco kam vor einigen hundert Jahren auf eine Idee: Er strich sein Wohnhaus knallgrün an. Die ersten Monate hagelte es Spott und Häme, eitel sei er und geltungssüchtig und ein Haus, das aussehe wie ein Frosch zieme sich nicht für einen bescheidenen und gottesfürchtigen jungen Mann, und wenn sein Vater das noch sehen könnte… Aber Francesco blieb stur und hatte nach einem halben Jahr seinen ersten Epigonen, Giorgio malte seine Hütte karminrot. Immer noch gab es Kritik, aber die Francesco-Nachmacher waren auf dem Vormarsch. Nach ein paar Jahren sah der Ort aus wie eine Farbpalette: Gelbe, blaue, grüne, orange, rote und lila Häuser. Sie ahnen es: Es ist Burano in der Venezianischen Lagune. Die Geschichte ist natürlich erfunden, aber irgendjemand muss doch der Erste gewesen sein, einer machte vor und andere machten nach.
Alle unsere schönen Innenstädte, unsere Kulturlandschaften, unsere Romantischen, Barocken, Gotischen und Märchenstrassen sind nur so zu dem geworden, was sie sind.
Auch unsere grossen Meister waren zunächst Epigonen. Oder haben Sie gedacht, Beethoven sass mit 12 Jahren zum ersten Mal am Cembalo und spielte die Grosse Fuge? Haben Sie gedacht, Hölderlin schrieb als Schularbeit in der 2.Klasse die Feierstunde? Nee, nee, Beethoven klingt am Anfang wie Haydn und Hölderlin schrieb ganz brav Mein schönstes Ferienerlebnis wie wir alle.
Der Umgang mit dem eigenen Epigonentum ist allerdings etwas ganz Spezielles. Während Orff alles Epigonale schlicht und einfach weggeschmissen hat, gab Brahms seine Beethovens Zehnte gerne zu: „Das Merkwürdige ist doch, dass es jeder Esel hört.“ Wagner fand eine etwas eklige Methode sich seiner Vorbilder zu entledigen, er diffamierte die Leute, von denen er gelernt hatte, als jüdisch, und Juden können ja keine Musik machen, also kann er als Urdeutscher ja kein Epigone von Mendelssohn und Meyerbeer sein, was er am Anfang durchaus ist.

Es lebe also das Epigonentum!
Gelobt sei der, der etwas Gutes und Schönes nachmacht!
Hoch die Leute, die von einer wunderbaren Sache ein zweites Exemplar machen!

Feiern Sie doch mal wieder Hochzeit, so wie man sie immer gefeiert hat! Mit Kirche und Brautkleid und Kutsche und Zylinder!
Sie müssen nicht ihr Leben lang originell sein.

Montag, 6. Januar 2014

Das Spucken ist neu

Schon Sokrates klagte über die Schlechtigkeit und die üblen Manieren der Jugend. Sie habe keine Achtung mehr vor dem Alter, lärme auf der Strasse, grüsse nicht mehr beim Betreten des Raumes und habe miese Tischmanieren. Gut und schön.

Aber das Spucken ist neu.

Auch wir waren keine Engel, sind im Tram nicht aufgestanden, haben unsere Lehrer geärgert, haben zu viel getrunken und randaliert und waren politisch aufmüpfig. Auch wir haben unseren Eltern und Erziehern keine Freude gemacht.

Aber das Spucken ist neu.

Alles, was man bei der Jugend beklagen kann, ist nicht neu erfunden, alles war mehr oder weniger in der letzten Generation auch schon da.

Aber das Spucken ist neu.
Die Jugendlichen spucken auf den Boden.

Was bespucken sie da? Der Boden kann es ja nicht sein, bespucken sie die Gesellschaft, die Älteren, die Situation, den Staat, den anderen? Wen bespucken sie? Wen bespeien sie? Ist ihnen so spuckübel, so speiübel von all dem Müll, den sie anschauen und fressen müssen? Oder ist das Spucken vielleicht eher ein Spuken, spukt ihnen so viel im Kopfe herum, dem Kopf, den sie längst verloren haben, ob all dem Flimmern und Blinken und Gamen, ist das Ausspucken eher ein Ausspuken, wollen sie dem Spuk ein Ende machen?
Oder ist ihr Speicher einfach so voll, dass der Speichel herausrinnt, ist ihre Speicherkapazität bei 10000 Gigabite nun doch erschöpft, ist ihre Speicherkapazität, ihre Speichelkapazität am Ende, so dass nur noch das Spucken bleibt? Ist da das Facebook zum Facespuk geworden, dass man dem einfach ins Face spucken muss, ins Face, dass nur noch ein Fake bei 200 Megabite ist, das ist dann auch wirklich zum Speien.
Warum spucken sie? Wen bespucken sie? Der Boden kann es nicht sein, der Boden hat ihnen nichts getan, sie haben ihn vielleicht unter den Füssen verloren, aber das können sie dem Boden nicht vorwerfen, übrigens haben wir alle ein wenig den Boden unter den Füssen, den Beinen verloren, wir stehen nicht mehr gerade, wir schwanken und wanken von Twitter zu Google und  von Google zu Youtube, wir schwanken und werden schief, und dann kann der Speichel, die Spucke eben nicht mehr abfliessen, dann tropft sie auf den Boden und macht hässliche Flecke. Der Boden ist aber nun auch schon längst nicht mehr unbefleckt, was haben wir ihm alles zugemutet, wie viele Stiefel und Tritte, wie viel Spuk ist über ihn gepoltert, vielleicht kommt es da auf ein bisschen Spucke nicht mehr an.
Vor wem spuckt die Jugend aus? Vielleicht doch vor uns, den Alten, den Gesetzten, die die Gesetze erlassen und sich zur Ruhe gesetzt haben, die den Boden ruiniert und dem Spuk keine Grenzen gesetzt haben. Die, die ihnen den Boden unter den Füssen weggezogen haben und ihnen dann vorwerfen, dass er dort nicht mehr ist.
Und so steht Vorwurf gegen Auswurf. Wir werfen vor und die Jugend wirft aus. Sie wirft Speichel aus statt die DVDs und CDs und Games und Datenträger auszuwerfen. Und wir werfen vor, werfen Knüppel zwischen die Beine und Bemerkungen in die Runde.

Die Jugend spuckt auf den Boden. Vielleicht sollten wir sie lassen. Oder mitspucken.

Donnerstag, 2. Januar 2014

Jahr der Bildung 2014: Warum wir grössere Schulklassen brauchen


Der Schweizer Bildungsminister hat 2014 zum Jahr der Bildung ausgerufen. Dabei hat er einen Hymnus angestimmt, der in vielen Ohren ein wenig schräg tönt und in dem Refrain mündet:

Bessere Bildung für weniger Geld.

Unter den vielen Massnahmen, die die Pädagogik verbessern und nebenbei noch Geld sparen sollen, ist auch wieder einmal die Forderung nach grösseren Klassen. Als erfahrener Lehrer will ich jetzt kurz dazu Stellung nehmen, aber meine Meinung zu Anfang klar formulieren:

Er hat absolut Recht.

Sind die heutigen Klassen mit 26 Schülerinnen und Schülern (im Pädagogendeutsch mit dem schrecklichen Kürzel SuS benannt, das so stark an SuSpendieren und SuSpekt erinnert) hoffnungslos zu winzig, würde eine Grösse von 35 schon Fortschritte bringen, das Optimum wäre bei 60 erreicht.

Lassen Sie mich meine Gründe in 10 Punkten darlegen:

1.)    Non scolae sed vitae discimus, und die meisten jungen Menschen werden ihr Berufsleben in Ämtern, Organisationen, Firmen und Fabriken verbringen, die gross sind und deren Belegschaft zahlreich ist. Wie sollen sie sich auf diese Massen einstellen, wenn in der Schule immer nur kleine Häuflein zusammen sind?

2.)    Das soziale Lernen und menschliche Reifen ist ein zentrales Anliegen jeder guten Erziehung. Für den Heranwachsenden ist der Kontakt zum anderen Geschlecht sicher einer der wichtigsten Punkte, und hier bietet die Grossklasse sicher mehr Möglichkeiten. Bei 30 Männlein und 30 Weiblein ist doch sicher eher etwas Passendes dabei als bei 13 und 13. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere Schwule und Lesben in der Klasse sind, steigt.

3.)    In der Pubertät gibt es Tage, da will man nur eines: Lehrer, Eltern, Schule und Welt sollen einen in Ruhe lassen. Man will eben nicht mit dem Problem herausrücken oder sogar in einem Stuhlkreis sich thematisieren lassen. Bei einer Gruppe von 60 kann man viel besser einfach mal wegtauchen.

4.)    Jeder, der schreibt, weiss, wie heilig und kostbar ein eigener Text ist. Niemand lässt gerne einen Fremden mit dem Rotstift in einem Erguss der eigenen Kreativität herumstreichen. Bei jungen Menschen kann das zu schweren Traumata führen. Sind die Klassen gross genug, werden die Deutschlehrpersonen sich auf kurze Kommentare beschränken. Orthografie muss eh nicht mehr angestrichen werden, weil es ja Korrekturprogramme gibt.

5.)    Niemand sitzt gerne in einem leeren Kino. Und da die Lehrerinnen und Lehrer ja zu 50% Filme zeigen, ist die Kinoatmosphäre bei 60 SuS (sorry) gewährleistet.  Diese Kinoatmosphäre fördert die Eindringlichkeit des Films und damit den Lernerfolg, ausserdem kann man im Dunkeln noch ein bisschen fummeln (siehe Punkt 2.)

6.)    Wenn eine Grossklasse Fussball spielt, sitzen etliche auf den Reservebänken, wovon ich meine ganze Schulzeit immer nur geträumt habe. Keine noch so besessene Sportlehrperson wird es schaffen, dass alle innerhalb einer Doppelstunde zum Einsatz kommen und die Unsportlichen werden nicht gezwungen hinter einem Ball herzurennen. (siehe auch Punkt 3.)

7.)    Was für ein Chor wird da im Musikunterricht seine Stimmen erschallen lassen! Denn Reinheit wird ja heute völlig überbewertet, wenn man sich manche Theaterchöre anhört, merkt man doch: Es geht um Lautstärke!

8.)    Viele Chemielehrerinnen und Chemielehrer sind begeisterte Experimenteure. Bei einer grossen Gruppe ist die Überlebenschance für den Einzelnen immens grösser, wenn wieder einmal die ganze Suppe mit lautem Getöse in die Luft fliegt. Man kann sogar heil davongekommen, wenn der Mitschüler oder die Mitschülerin auf einen geworfen wird, evtl. auch Gelegenheit zum Körperkontakt. (siehe Punkt 2.)

9.)    Alles Aufgerufen-Werden, An-die-Tafel-Müssen, Wir-leisten-heute-einen-mündlichen-Beitrag, alles Und-Was-sagt-Jochen-dazu, die ganze Demütigung und alles Ausgestelltsein, das so tiefe Wunden in der Kindesseele hinterlässt, entfällt, vor allem auch, weil kein Pädagoge mehr die Namen kann. (siehe Punkt 3.)

10.) Jetzt noch ein Ausblick in das spätere Leben: Je grösser die Klasse desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass, wenn alle 95 sind, noch ein paar am Leben sind und ein Klassentreffen zustande kommt.

Alle diese Punkte gelten natürlich nur für wirklich grosse Klassen. Insofern muss die klare Forderung lauten: Klassenstärken hoch; aber richtig! Rumdreckeln bei 28 oder 29 SuS (sorry) bringt nix. Ab 60 wird die Schule richtig gut.