Donnerstag, 31. März 2016

Kusadaly macht die Raute - Erdogan greift ein

Es wurde wenig bekannt, aber 2014 machte der türkische Comedian Kadir Kusadaly eine Kabarettnummer über Angie. (Das ist jetzt ein bisschen viel K, kann ich aber nix dafür.) Kusadaly stand dabei eine Viertelstunde lang mit heruntergezogenen Mundwinkeln auf der Bühne, sprach Uckermärkisch und machte die «Raute», jene Geste aus beiden Daumen und beiden Zeigefingern, über die Politologen seit dem letzten Jahrhundert rätseln, was sie bedeuten soll. Sein Uckermärkisch hatte Kadir übrigens bei einem Studienjahr in Berlin gelernt.

Die türkische Staatsführung fand den Beitrag nicht so lustig, man brauchte damals einen guten Draht nach Berlin, und den wollte man sich von einem dahergelaufenen Comedian nicht kaputt machen lassen. Erdi handelte schnell und präzis: Er verbot die Nummer, verbot ihre Verbreitung auf Social Media und um ganz sicher zu gehen, schloss er das Istanbuler Theater, wo Kusadaly regelmässig auftrat. Dann fand er, das sei noch nicht genug und liess das Theater auch noch abfackeln und schickte Kadir zum Wassergräben bauen ins türkisch-irakische Grenzgebiet. Als dann die Nummer doch noch auf Facebook auftauchte, musste er leider noch einmal zugreifen: Weitere 15 Personen durften nach Yüksekova und dem Kabarettisten beim Schaufeln helfen.

Leider sprach Angie beim nächsten Treffen die Sache nicht an, sie hatte sie nämlich gar nicht mitbekommen. Wenn Sie sich um alle Spassmacher, die die Mundwinkel abwärts ziehen, die Uckermärkisch parodieren und die «Raute» machen, kümmern müsste, dann käme sie ja zu gar nix mehr. Hätte sie gewusst, was da gelaufen war, dann hätte sie sicher Einhalt geboten, aber, wie gesagt, Mutti war ahnungslos. Erdi wusste aber nicht, dass Angie nix wusste, und wartete das ganze Treffen auf ein Lob, ein Lob wie: «Super, Erdi, das hast du gut gemacht, durchgreifen, handeln, harte Faust, das geht ja nicht an, dass da Leute in deinem Land mich veräppeln, die Mundwinkel verzerren, uckermärkern, die «Raute» machen.» Dieses Lob kam aber nie. Gut, dachte Erdi, gut, dann eben nicht, aber: Ich hab’ was gut!   

Diesen Bon wollte der gute Erdogan jetzt einlösen:
In einem Fernsehbeitrag wurde er so etwas von durch den Kakao gezogen, dass die Mutti-Parodie ein Dreck dagegen war. Nun konnte man doch erwarten, dass die Deutschen die Nummer verbieten, ihre Verbreitung verbieten und schauen, dass so etwas nicht mehr vorkommt. Ihm war klar, dass es in der BRD schwieriger ist, den ganzen Sender oder ein ganzes Theater zu schliessen, dass es noch schwieriger ist, alles abzufackeln und die Verantwortlichen zum Gräben schaufeln nach Oberbayern oder Vorpommern zu schicken, aber mindestens ein Verbot, mindestens das konnte man doch erwarten.

Und jetzt? Erdi versteht die Welt nicht mehr. Das kann doch nicht sein, dass den Heinis in Berlin die Hände gebunden sind, dass sie sich an Gesetze halten müssen, an die verfassungsmässig garantierte Freiheit von Medien, von Kunst und Kultur, das kann doch nicht sein, dass da gar nix geht? Die sind doch Regierung, oder? Und die Regierung macht die Gesetze, oder? Da kann man doch kurz einen StGB-Paragraphen entwerfen, wie z.B.
§ 45367 Wer ausländische Regierungschefs auf unangemessene Weise darstellt, sie verhöhnt oder beleidigt, wird mit Zwangsarbeit in Oberbayern, Vorpommern oder Niedersachsen nicht unter 3 Monaten bestraft.
Das muss doch gehen, wenn man Regierung ist, oder?

Erdi ist so enttäuscht, dass er sich immer mehr überlegt, ob er in diese Scheiss-EU überhaupt hineinwill. Das sind doch alles Weicheier. Kein Wunder kommen die nicht voran. Es wäre doch viel einfacher, wenn man sich in Brüssel trifft, etwas abmacht, dann gehen alle heim nach Berlin, Paris, Amsterdam und Rom und sagen: So wird es gemacht, und wer aufmuckt, bekommt eins auf die Fresse. Und wenn dann halt getwittert wird, dann MUSS man um der Sache willen das Land halt mal für eine Weile enttwittern, und wenn dann gefacebookt wird, dann MUSS man halt das Land für eine Weile entfacebooken. Und man muss halt auch mal Leute nach Oberbayern, Vorpommern oder Niedersachsen schicken, und wenn das nicht reicht, dann braucht man halt wieder ein paar Kolonien, vielleicht ein paar nette Inseln im Pazifik, wo man Comedians und Kabarettisten hinverbannen kann.

Nein, in diesen Verein von Schlappschwänzen, von Weichdemokraten will Erdi gar nicht mehr, es sei denn, man würde dem Mitgliedsland folgen, das es richtig macht: Ungarn. Die Magyaren sind für ihn die Nation, die es gecheckt hat, die dürfte man nicht strafen, sondern sich als Vorbild nehmen.

Nein, diese EU, diese Versammlung von Turnbeutelvergessern und Schattenparkierern, von Warmduschern und AGB-Lesern interessiert ihn nicht mehr.

2014 wurde Kadir Kusadaly nach Yükesekova geschickt, weil er die «Raute» gemacht hatte.
Und nun wollte Erdi einfach das Gleiche von den Deutschen.
Und da geht es nicht.

Und Erdi versteht die Welt nicht mehr.

Dienstag, 29. März 2016

Fritz (56) sucht eine Frau, die...



Es gibt für mich drei Gründe, mich jeden Tag ab 16.00 auf BLICK AM ABEND zu freuen. Der erste ist klar das Preis/Leistungs-Verhältnis. (Für meine nichtschweizer Leser: Es ist eine Gratiszeitung.) Der zweite ist das Kreuzworträtsel, das – im grössten Gegensatz zu meinem Morgenkreuzworträtsel in 2omin – lösbar ist. Die Morgenwurfzeitung geht irgendwie davon aus, dass jede und jeder ständig mit offenem Internet rumläuft, und ich renne nicht mit offenem Internet rum, genauso wie ich nicht mit offener Hose rumlaufe. Ich bitte Sie, wer kennt schon den 17. Nebenfluss des Grjpor? Wer weiss die Hauptstadt des Pootuui-Atolls? Abgesehen davon, dass viele Erklärungen einfach falsch sind. Budget und Etat sind nicht das Gleiche, genauso Reim und Vers, die Ilias hat Millionen Verse, aber Null Komma Null Reime.

Der dritte Grund, nein nicht der von Andersch, sondern MEIN dritter Grund, dieses Blatt zu holen, bei dem eigentlich nur das Datum stimmt, sind die Foto-Kontaktanzeigen auf der vorletzten Seite, die sind nämlich echt lustig.
«Florian sucht…» oder «Melanie sucht…» steht da immer, und ich finde es total spannend, was für Kriterien an eine Partnerin oder an einen Partner gestellt werden. Natürlich weiss ich, dass die Hälfte von diesen Dingern Beschiss (s.v.v.) ist, und sicher die Hälfte mit den Attraktiven. Wenn da Manuel, 22, Barkeeper aus Zürich, eine Freundin auf diesem Wege sucht, obwohl er mit seinen muskulösen Armen, seiner Trendfrisur und seinem Modelgesicht sich sicher vor Avancen nicht retten kann und 3987453 Facebookfreundinnen hat, dann kann man sicher sein, dass keine einzige Zuschrift bei ihm landet, weil die Entsorgung durch den BLICK zum Deal gehört. Bei der anderen Hälfte könnte wirklich Echtheit vorliegen.

Man kann die Menschen, die hier suchen in, drei Gruppen einteilen:
1)      Der Augenmensch
2)      Der Ich-stehe-auf-innere-Werte-Typ
3)      Der oder die Vorliebenschätzer(rin)

Der Augenmensch will ganz klare optische Gegebenheiten, will blonde oder braune Haare, schlanke Gestalt und optimale Grösse. Dass diese Angaben oft in krassestem Gegensatz zu seinem Foto stehen, macht die Sache so witzig. Da sucht Reto (41) eine «schlanke Frau mit schönen Augen», eben die Attribute, die ihm selber so fehlen. Ja, man möchte ihm zurufen, dass er mit seinen 120 Kilogramm Lebendgewicht neben einer zierlichen Dame noch viel fetter aussieht als jetzt schon und sich doch lieber etwas Molliges suchen soll. Oder möchte er mit seiner Holden gerne Aufzug fahren und sie würde die Masse ausgleichen, die er über den angegebenen 80kg pro Person ist?
Da sucht Marga (22) einen «Mann mit schönem Teint», dem Teint, den sie eben nicht hat, oder vielleicht hat sie ihn auch, aber warum verdeckt sie ihn dann unter drei Zentimetern Spachtelmasse? Da sucht Detlev (19) einen «Mann mit Muskeln» und wiederum stellt man sich vor, was für ein lustiges Paar der junge Schwule, der jetzt wirklich ein Spargel ist, mit einem Fitnessbegeisterten abgeben würde…

Der Ich-stehe-auf-Innere-Werte-Typ sucht so edle Dinge wie Treue, Liebe, guter Charakter, Dinge wie Ehrlichkeit, Toleranz, Dinge wie Ausgeglichenheit und Ruhe. Wenn aber die bildhübsche Rita (29) einen «treuen und ehrlichen Mann» sucht, welcher Mann klopft sich dann auf diese Werte ab und schreibt NICHT? Welcher Kerl würde angesichts von Ritas toller Figur und ihrem klassisch geschnittenen Gesicht in sich gehen und sagen: «Tolle Frau, Junge, aber du weisst, du bist ein Scheisskerl, du warst noch keiner Frau treu, spätestens nach vier Monaten liegst du mit ihrer besten Freundin in der Kiste und dann lügst du, bis sich die Balken biegen. Ausserdem lügst du eh, sobald du den Mund aufmachst.»? Nein, Innere Werte sind ein schlechtes Kriterium, weil wir alle meinen, wir hätten sie.
Vorlieben zu äussern ist nicht blöde. Wenn Tina (24) gerne tanzt, ist es klug, einen Mann zu suchen, der auch gerne das Bein schwingt und nicht einen Walzer- oder Tangomuffel zu nehmen, den man nur mit vorgehaltener Waffe aufs Parkett bekommt. Wenn Bob (18) aber eine «Frau, die BMWs mag» sucht – und dieses Beispiel ist jetzt echt (!), das hat mich gerade auf diesen Post gebracht – dann frage ich mich ernsthaft, ob der Junge noch alle Schrauben in der Motorhaube hat. Für jede Frau schrillen doch hier die Alarmglocken: Entweder er hüpft nach dem Beischlaf sofort in die Garage und unter den Fahrzeugboden oder er kommt umgekehrt direkt AUS der Werkstatt und, jetzt mal ehrlich: Wie erotisch ist der Duft von Benzin und Motorenöl? Oder meint Bob in echt, eine Partnerin zu finden, mit der gemeinsam den Ölwechsel und die Winterinspektion machen kann? Wenn es die gibt – verzeihen Sie mir das Klischee, aber es ist was dran – dann schreibt die eher auf die Anzeige von Tanja (26).

Warum werden eigentlich nie intellektuelle Sachen angegeben? Ich habe noch nie «Marissa (29) sucht einen Mann, mit dem sie nach Donaueschingen kann», «Victor (19) sucht eine Frau, die gerne liest.» oder «Helmut (30) sucht Frau, die Galerien mag»  gelesen. Gut, vielleicht liegt es daran, dass der oder die wahre Intellektuelle nicht BLICK AM ABEND liest – es sei denn, er oder sie hat drei gewichtige Gründe, siehe oben. Und ein Inserat «Rudi (31) sucht Mann, der nie in den BAB schaut» wäre ja ein wenig paradox.
Thornton Wilder lässt in Wir sind noch einmal davongekommen die Gewinnerin des Frühlings-Strand-Schönheitswettbewerbs sagen: «Mr. Antrobus, ich möchte nicht, dass Sie mich für so ein Mädchen halten, dass an Schönheitswettbewerben teilnimmt.» Parallel dazu müsste die ideale Anzeige lauten:
«Pia (28) sucht einen Mann, der nicht von ihr denkt, sie lese BLICK AM ABEND.»

Donnerstag, 24. März 2016

Ein geheimes Konzert am Karfreitag


Ich habe Ihnen noch gar nicht erzählt, was mir am Karfreitag des letzten Jahres, also 2015, passiert ist.
Ich war in einer grösseren deutschen Stadt, aus Sicherheitsgründen, immerhin geht es um Menschen, die in Gefahr geraten könnten, Sie werden später merken, warum, codiere ich ihren Namen mit Mannfurtbaden. Ich sass also am Morgen jenes hohen Feiertages in Mannfurtbaden in der U-Bahn, als ich zwei Männer vor mir tuscheln hörte. Obwohl sie extrem leise redeten, schnappte ich doch einen Brocken auf: «…20.00 Uhr, Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit, Passwort VIBRATO…»

Den ganzen Tag liess mir dieser Brocken keine Ruhe. Was hatten die Geheimtuer am Abend in der Kirche vor? Und das am Heiligen Tag? Sie hatten einen sehr seriösen Einduck gemacht, so dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie dort eine Schwarze Messe feiern, Hühnerblut verspritzen, dass sie dort eine Nazi-Kundgebung oder eine Revolution machen würden. Und VIBRATO ist ja ein Wort aus der Musik…  Oder hatten sie doch VIBRATOR gesagt? Planten sie eine Sex-Orgie? Einen (s.v.v.) Rudelbums? Nein, ein R war nicht dabei gewesen.

Ich war so neugierig, so von den zu Unrecht empfangenen Infos vereinnahmt, dass ich mich abends zur St. Trinitatis begab.
Es standen viele Leute vor dem Portal, alle seriös und dunkel angezogen, alle machten sie einen eher gebildeten und kulturellen Eindruck, so dass meine Neugier nur noch grösser wurde. Einzeln wurden wir eingelassen und mussten dem Sicherheitsmenschen unsere Parole sagen. «Vibrato» «Bitte schön, einen genussvollen Abend.»
Als ich in das Kirchenschiff kam, war ich bass erstaunt: Da standen Notenständer! Da stand ein Orgelpositiv und lag ein Kontrabass! Es war für ein Orchester und einen Chor bestuhlt, vorne ein Podest und ein Dirigentenpult.
Meine Spannung wuchs in unerträgliche Ausmasse.
Um 20.10 war es endlich so weit, alle hatten die Passwortkontrolle passiert, die Kirche war zu 2/3 voll und vorne betrat ein Mann die Bühne. Er schnappte sich ein Mikrofon und begann zu reden:
«Liebe Mitglieder und Freunde des VNHA, des Vereins für Nichthistorische Aufführungen. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind und darf Ihnen heute einen Leckerbissen präsentieren: Die Lukas-Passion von A. B. Schmutzbauer. Wir haben ein ausländisches Ensemble, selbstverständlich bleiben sie auch dieses Jahr aus Sicherheitsgründen anonym, sie sind unter schärfster Geheimhaltung und schärfsten Sicherheitsvorkehrungen hierher gebracht worden. Und nun wünsche ich Ihnen allen interessante und geniesserische anderthalb Stunden.»

Die Musiker und der Chor betraten die Bühne, die Orchesterleute stimmten (auf 443 (!) Hertz), dann kamen Sopranistin, Altistin (was sonst?), Tenor, Bass und der Dirigent. Applaus. Verbeugung. Und dann ging es los. Der Eingangschor: «Wehe! Wehe! Schmerzen! Schmerzen!» bot allen Beteiligten die Möglichkeit, ihre unhistorische Einstellung sofort auszuleben. Die Geigen spielten saftig und schmusig, sparten nicht mit Vibrato, viel Lagespiel, der Chor sang breit und strömend, jede Artikulation vermeidend.
Schon jetzt litt ich Höllenqualen, aber an eine Flucht war nicht zu denken. Wenn ich nun aufgestanden und gegangen wäre, hätte ich mich sofort als Spion enttarnt. Und als Spion in einer Art Loge, in einem Geheimbund enttarnt zu werden, ist ein wenig ungeschickt. Also blieb ich sitzen und liess die Schmutzbauer-Passion über mich ergehen, ich liess die Schmalzgeigen über mich ergehen, die viel zu lauten Bläser, den brahmsenden Chor, ich ertrug den Sopran der wie eine Traviata, den Tenor, der wie Siegfried und den Bass, der wie Wotan sang.

Nach 90 Minuten war der Spuk vorbei und das Publikum applaudierte heftigst. Beim Hinausgehen sprach mich noch einer an, ob ich noch zum Umtrunk mitkäme, ich lehnte aber mit dem Hinweis auf die Verarbeitungsnotwendigkeit meiner Ergriffenheit ab, so konnte ich endlich in mein Hotel.
Dort angekommen, startete ich sofort meinen PC – und siehe da: Es gab die Passion auf YouTube, in einer Aufnahme mit Les art florissants unter William Christie, und ich zog mir die ganze Sache noch einmal rein, diesmal schwelgte ich. Das war so, wie wenn Obelix sagt: «Ich brauche noch viele Wildschweine, um den Piratenapfel zu vergessen.»
Dann, beruhigt und durch ein Omelett und eine Flasche Montepulciano vom Roomservice gestärkt, kam ich doch ins Grübeln:
Sicher macht MAN heutzutage Barockmusik so nicht mehr, aber weil MAN es nicht mehr macht, müssen Freunde von Schmuseinterpretationen sich in Geheimlogen treffen? Müssen Passwörter vereinbaren? Müssen die Interpreten geheim halten und sie mit Personenschutz an den Konzertort bringen? Aber ich war nicht ganz unschuldig; hatte ich auch nicht schon gedacht: Nach Harnoncourt DARF man einfach nicht mehr so musizieren?
Denn mal ganz ehrlich: Das BGB verbietet nicht
·         Schmalzig-langsam gespielte Barockmusik
·         Verdi auf Deutsch gesungen
·         Inszenierungen in Originalkostümen
Ebenso wenig wie:
·         Naturgetreue Bilder
·         Gedichte, die man versteht

Alles das ist erlaubt, und man müsste vielleicht ein wenig toleranter sein. Gerade Nikolaus H. war das, er liess die Solistinnen und Solisten oft erst nach einer Klavierprobe den Vertrag unterschreiben, nach dem Motto: Ich mach das so, wenn ihr nicht mitmachen wollt, ist das auch OK.
Lassen wir also diejenigen, die den Boris Godunow auf Russisch nicht mögen, diejenigen, die bei einem Bild sofort wissen möchten, ob es richtig herum hängt, die Leute, die einfach eine Matthäuspassion MIT Vibrato lieber haben, in Frieden, lassen wir das Man-darf-das-nicht. Denn – wir erinnern uns: Ich war ja zum VNHA nicht gezwungen worden, ich hatte mich eingeschlichen.


Montag, 21. März 2016

AfD-Kultur: Deutsch muss es sein!


Die AfD wünscht sich in ihren Wahlprogromen, oops, das war ein Freudscher, ich meinte natürlich Wahlprogrammen, dass die staatlich geförderte Kultur nur noch solche Kunst zeigt, in der Deutschland als Land und Heimat positiv dargestellt wird. Also weg mit den Miesmachern, den Linken, den schlimmen und bösen Autoren, die nur alles schlechtmachen und puren Defaitismus verbreiten. Deutschland ist schön! Die deutsche Heimat ist die beste! Das muss die Devise sein.

Abgesehen davon, dass die Freiheit der Kunst verfassungsmässig gesichert ist und es eine Verfassungsänderung bräuchte, um so etwas durchzusetzen, abgesehen davon, dass wir mit staatlich gelenkter Kultur ja auch so unsere Erfahrungen gemacht haben, 1933-1945 in Gesamtdeutschland und ab 1945 in der Osthälfte, abgesehen davon, ist es gar nicht so einfach, Kultur einzuschätzen. Haben AfD-Menschen überhaupt eine Ahnung? Lesen sie? Gehen sie ins Theater? In Museen? Ich kann mir Leute, die in ihren Träumen mit Waffen auf Flüchtlinge zielen irgendwie nicht in einem Streichquartettabend oder bei einer Lyriklesung vorstellen, vielleicht fehlt mir aber auch einfach die Phantasie. Es könnte aber gut sein, dass die Beurteilung von Kultur mit jener Dummheit abläuft, die ein DDR-Grenzer zeigte, als ein Westler mit zwei Büchern einreisen wollte: Deutschland, Deutschland über alles von Kurt Tucholsky und Animal Farm von George Orwell. Der gute Beamte wusste natürlich nicht, dass der Tuchotitel ironisch gemeint war, er wusste genauso nicht, dass Orwells Buch aufzeigt, wie ein sozialistischer Ansatz schiefläuft, also kam er zum Schluss: «Das Deutschland-Buch muss ich Ihnen wegnehmen, das Landwirtschafts-Handbuch dürfen Sie behalten.»

Wie soll man nun Theaterstücke und Opern, Texte und Bilder, wie soll man Schauspielhäuser und Galerien, wie soll man Kultur beurteilen? Wo haben wir ein positives Deutschlandbild? Hier käme nun der Begriff der Ambivalenz ist Spiel, und Parteien wie die Alternative sind eben nicht ambivalent. Gut, dann brauchen wir eben klare Kriterien, damit wir nicht zu viel diskutieren:

Nehmen wir doch mal das Theater:
Kriterium 1: Nur noch deutsche Autoren.
Adieu Shakespeare und Moliere, adieu Goldoni und Wilder, ihr könnt als Ausländer die deutsche Heimat nicht begreifen.
Kriterium 2: Ein Stück muss in Deutschland spielen. (Sonst kann es ja keinen Heimatbegriff vermitteln, logo, nich?)
Gestrichen werden Don Carlos, Maria Stuart, Dantons Tod, Die Jungfrau von Orleans genauso wie Nathan der Weise, Emilia Galotti und viele andere mehr. Pech für die Klassiker, warum müssen sie ihre Texte auch nach Spanien, England, Frankreich, nach Italien und Jerusalem verlegen.
Kriterium 3: Die Hauptfigur muss ein positiv eingestellter, aufrechter, smarter Deutscher sein, kein Psycho und kein Wahnsinniger, kein Verbrecher und kein Krimineller, sonst wird das ja auch nix mit dem positiven Bild.
Jetzt kippen der Woyzeck, Die Räuber, Faust I, Faust II, jetzt verschwinden Der Biberpelz und Und Pippa tanzt.
Da ist jetzt nicht viel übrig, gell? Ich sehe mich schon die Premierenpläne der Theater im Jahre 2030 durchgehen: Bochum: Die Hermannsschlacht (10.9.), Das Käthchen von Heilbronn (3.10.), Der Fröhliche Weinberg (12.11.) – Stuttgart: Das Käthchen von Heilbronn (11.9.), Die Hermannsschlacht (13.10.), Der Fröhliche Weinberg (2.11.) – Braunschweig: Der Fröhliche Weinberg (12.9.) Die Hermannsschlacht (10.10.), Das Käthchen von Heilbronn (3.11.)

Vielleicht müssen wir aber auch nur richtig inszenieren:
Wenn wir uns den Woyzeck anschauen, handelt er von einem klassischen Opfer: Die psychisch labile Hauptfigur hat ein uneheliches Kind in die Welt gesetzt, muss jetzt überall Geld auftreiben, rasiert seinen arroganten Hauptmann, schneidet Weiden, lässt sich vom Doktor für unethische Stoffwechselexperimente missbrauchen. Zum Dank betrügt ihn seine Holde mit dem Tambourmajor und Woyzeck bringt sie um. Was für ein Stoff! Aber wenn wir so inszenieren, dass das Publikum sich mit dem schmucken, smarten, gut gebauten Musiksoldaten identifiziert, wird das Ganze schon schöner, die Frau entscheidet sich dann eben zu Recht für den standhaften Major und nicht für den Psycho. Ausserdem könnte man, wenn der Tambourmajor als eigentliche Hauptrolle eingeführt wird, auch sämtliche örtliche Blaskapellen einsetzen, die z.B. den Badenweiler Marsch spielen.

Hier ist das Regietheater gefragt! Mit Verlegung der Handlung – machen die Regieheinis ja eh ständig – wäre sogar wieder ein Sommernachtstraum möglich. Dann ist das eben ein deutscher Wald und sind das deutsche Waldgeister und ein deutscher Zaubertrank und deutsche Handwerker und die Hauptfiguren heissen statt Demetrius und Lysander Detlev und Lisshardt.
Ungeahnte Möglichkeiten!
Vielleicht lassen wir aber auch alles beim Alten. Denn – wie schon gesagt – 
Welcher AfDler geht ins Theater?








Freitag, 18. März 2016

Protestwahl ist blöd - jetzt haben wir die AfD



Zeichen setzen. Einmal zeigen, was Sache ist. Den Tarif durchgeben.

Das tut zum Beispiel Lehrer Huber von Zeit zu Zeit, indem er eine besonders knifflige Hausaufgabe gibt oder ein besonders gemeines Arbeitsblatt verteilt. Immer mit dem Hinweis, das sei jetzt das Niveau, das Anna und Melanie, das Marco und Slobo haben sollten und die Guten, Anna, Marco, Melanie und Slobo brüten über den Fragen und haben richtig Bammel vor dem nächsten Test und büffeln wie blöde. Die Prüfung wird natürlich leichter, und sie sind gut, weil sie so viel gelernt haben. Natürlich wäre eine hammerschwere Prüfung deutlich wirkungsvoller als nur eine kochlöffelschwere Hausaufgabe, aber Huber möchte seinen Jungs und Mädels, Slobo und Marco, Melanie und Anna ja nicht die Zukunft versauen.

Zeichen setzen. Einmal zeigen, was Sache ist. Den Tarif durchgeben.

Unter den vielfältigen Protestformen, die wir in den 80ern pflegten, war der Die-In eine der nettesten. Es war eigentlich eine hübsche Variante des Sit-In: Um unsere nicht vorhandene Zustimmung zu den Pershings auszudrücken, legten wir uns eine halbe Stunde wie tot auf einen Platz oder eine Grünanlage. Natürlich hätte ein echtes Sterben die Angst vor dem Atomraketenangriff und dem Tod viel besser ausgedrückt, nur mit eben blöden Folgen. Wir hätten uns bei einer Massenvergiftung oder Massenselbstverbrennung die Zukunft nicht nur versaut, sondern unmöglich gemacht.

Zeichen setzen. Einmal zeigen, was Sache ist. Den Tarif durchgeben.

Ein gutes Zeichen für die Umwelt ist es auch, bestimmte Produkte nicht mehr zu kaufen und zu verzehren. Da essen manche kein Fleisch mehr, manche keine tierischen Produkte, manche essen nichts Gekochtes und manche nur Früchte, die die Pflanze freiwillig gibt. Manche boykottieren Gen-Food und andere Nestlé (was eh dasselbe ist). Natürlich wäre es das stärkste Zeichen, überhaupt nichts mehr zu essen – denn was kann man denn noch unbedenklich zu sich nehmen? Aber auch das hätte wiederum weitreichende Folgen, siehe oben…

Zeichen setzen. Einmal zeigen, was Sache ist. Den Tarif durchgeben.

Wie obige Beispiele zeigen, sollten gesetzte Zeichen nicht zu weitreichende Folgen haben. Insofern ist eine Protestwahl, eine So-geht’s-nicht-weiter-Abstimmung eine ganz doofe Sache. Wer eine unwählbare Partei wählt, um es «denen da oben» mal zu zeigen, bedenkt nicht, dass jetzt irgendwelche Deppen in drei Landesparlamenten hocken, und zwar nicht Einzelmasken wie einst die Republikaner oder die NPD – ja, die war auch schon in deutschen Landtagen! – sondern gleich in satter Fraktionsstärke.
«Ups», sagen da einige, «ich wollte ja schon, dass die reinkommen, aber nicht gleich so viele». Wie bescheuert ist das denn? Wenn ich mein Kreuzchen setze, muss ich damit rechnen, dass es andere auch tun, und dann ist das Schlamassel da. Sonst müssten sich grössere Gruppen verabreden: Von uns 1000 wählen genau 230 die AfD, nicht mehr und nicht weniger, sonst wird es zu arg.

Konfrontiert man AfD-Wähler mit für sie so nebensächlichen Dingen wie dem Parteiprogramm, dann zucken sie nur mit den Schultern, sie haben es eh nicht gelesen. (Wussten Sie, dass die AfD z.B. Kultur fordert, die Deutschland als Heimat positiv darstellt? Dazu am Dienstag.) Das genaue Studium eines Parteiprogramms ist für den Protestwähler ein völlig unnütziger (sic) Ballast, er oder sie will ja nur ein Zeichen setzen.
Es aber nicht zu kennen, ist so, wie wenn Lehrer Huber sich nicht überlegt, wie seine Klasse notenmässig steht, bevor er den Hammer-Test ansetzt. Es nicht zu kennen, ist so, wie wenn die Schausterber sich nicht überlegen, wie viel Schlaftabletten man einnehmen kann, ohne dabei draufzugehen. Sich mit den Grundsätzen einer Partei nicht auseinanderzusetzen ist so, wie wenn man beim Hungern nicht das Mindestgewicht eines Erwachsenen im Blick hat.

Natürlich haben die Zeitungen und Zeitschriften berichtet. Aber die einen Tatsachen («Wir könnten auch auf Flüchtlinge schiessen») konnte man schulterzuckend damit abtun, dass hier halt ein erfrischend offensiver Wahlkampf geführt wurde – das ist übrigens so, wie wenn bei einem Fussballspiel eine Taktik, die vor allem die kaputten Schienbeine der Gegner als Ziel hat, als «dynamisch» bezeichnet wird. Andere Sachen, die die Medien herausfanden, z.B. dass Kandidaten die Zeit zwischen CDU- und AfD-Mitgliedschaft in inzwischen verbotenen Parteien zubrachten, konnte man mit dem Argument beiseitelegen, dass die Zeitungen und Magazine eh nur die Unwahrheit sagen. («Lügenpresse! Lügenpresse! Lüg…»)

Zeichen setzen. Gut, Leute, ihr habt Zeichen gesetzt.
Mal zeigen, was Sache ist. Gut, habt ihr gemacht.
Den Tarif habt ihr durchgegeben.
Wir müssen jetzt 4 Jahre damit klarkommen. Es sage aber bitte keiner, das habe er nicht gewollt.























Montag, 14. März 2016

Kretschmann, der Tod des Kabaretts - US-Satiriker brauchen Trump

Ich kann mich noch gut an jenen Morgen im Jahre 1983 erinnern: Wir vom Musik-LK im Eberhard-Ludwigs-Gymnasium lagen uns in den Armen und weinten Freudentränen: Die GRÜNEN hatten es mit einer papierdünnen Mehrheit geschafft, sie zogen in den Bundestag ein, mit eben dieser fadendünnen Mehrheit und mit Turnschuhen, was zum ersten Skandal wurde. Was haben sich Zeiten doch geändert! Damit meine ich nicht die Sneakers, die ja inzwischen, angesichts von Preisen im dreistelligen Bereich fast zum oberprotzigen Statussymbol geworden sind («…er muss Halbschuhe kaufen, weil er sich keine NIKE® leisten kann…»), nein ich meine natürlich die Ökopartei. Wer hätte damals, an jenem Morgen gedacht, dass wir einen grünen BW-Ministerpräsident haben und dass die GRÜNEN stärkste Partei im Ländle sein würden? Wer hätte vermutet, dass der Südweststaat einmal als «Stammland der GRÜNEN» tituliert würde? Und dass man, wenn man von den «beiden grossen Volksparteien» redet, NICHT die CDU und die SPD meint, diese SPD, die mit ihren paar Prozentlein ja wahrlich keine Volkspartei mehr ist? Wer hätte das gedacht?

Derart euphorisiert rufe ich meinen alten Kumpel Uwe Häberinger an, der in einer schwäbischen Mittelgrossstadt eine professionelle Kleinkunstbühne betreibt. Merkwürdigerweise ist die Stimmung in der schwäbischen Mittelgrossstadt gedrückt. «Freust du dich gar nicht?», frage ich ihn. «Nein» ist die Antwort, «ich freue mich überhaupt nicht. Und bevor du fragst: Ich habe natürlich Wolf gewählt.» «Du hast Wolf gewählt? Du, der du seit Jahren im Bioladen einkaufst und deinen Müll trennst und mit dem Fahrrad ins Büro fährst? Du, der Tomaten auf dem Balkon ziehst und in deiner Freizeit immer noch Wollpullover strickst? Wie krieg ich das zusammen?»

Und dann fängt Uwe an darzulegen: Er sei ja nicht nur selber Kabarettist, er sei eben auch Intendant und Inhaber und Geschäftsführer einer Bühne, und die sei, schliesslich habe er auch Gastro, ein Unternehmen, er sei also nicht nur Künstler-Spinner, sondern auch ein KMU. Und aus unternehmerischer Sicht sei völlig klar: Kretschie ist der Tod des Kabaretts. Der Mann sei ja so beliebt, an den dürfe man ja niemals ran, überdies gebe es auch keine Stelle, an der dieser Mensch irgendwo angreifbar sei. Das sei ja fast ein Heiliger, irgendwo zwischen Augustinus und Gandhi, zwischen St. Nikolaus und Luther King angesiedelt, bodenständig, volksnah, integer, wenn es nur solche Politiker gäbe, wäre es der Tod der Satire!

Einmal, ein einziges Mal habe ein Kabarettist bei ihm auf der Bühne es gewagt, er habe eine Nummer begonnen – und er betone: begonnen – die gelautet habe: Kretschmann im Puff. Der gute Mann, er nenne jetzt keinen Namen, habe abbrechen müssen, und er selber habe am nächsten Tag 20 Abonnementskündigungen gehabt, das sei ein herber Verlust, das könne er sagen. Nein, nein, Winnie treibe die BaWü-Kleinkunst in den Ruin, da seien sich auch alle einig, von Deutschmann bis Richling, Bubi Wolfie wäre da sicher das Bessere gewesen.

Er habe auch einen guten Draht zu den Amis, und er wisse aus zuverlässiger Quelle, dass die AAC (American Association of Comedians) Donald Trump mit 30 Millionen Dollar unterstütze. Nicht, weil sie seine Politik gut fänden, sondern weil sie endlich wieder Arbeit wollten. Die Amerikanische Satire leide ja – wie die Baden-Württembergische – seit Jahren unter einem Präsidenten, der dem Kabarett, der Glosse, den Comedians und Sketschschreibern nichts biete. Obama sei so etwas von anständig und sauber, dass man an ihm abgleite wie an einem rutschigen Fisch. «In Trump investieren heisst in die Zukunft investieren» sei der Slogan der AAC, an diesem Kerl sei nun alles unmöglich, der sei nun wirklich eine Goldgrube, ein Eldorado, ein Garten Eden der Kleinkunst. Wo man hingreife, sei dieser Mensch peinlich: Peinliche Frisur, peinliche Ansichten, peinliche Äusserungen, wo man hinlange, sei Trump geschmacklos, geschmacklos sei seine Wohnung, seine Bilder an den Wänden, seine Tischdekoration, geschmacklos seine Einstellung zu jeder und jedem, der nicht ins Raster W-M-W (working, married, white) passe.

Das besonders Ärgerliche sei ja auch, dass man in den USA und in BaWü in Ländern lebe, in denen man Kabarett machen DÜRFE, er kenne auch einen Kleinkünstler aus Moskau, der habe natürlich eine Quelle vor der Nase, aus der zu trinken ihm aber nicht erlaubt sei. Er habe eine in Putin herrliche Vorlage für die bösesten Satiren, riskiere aber, ins Straflager zu kommen. Wir hätten die Erlaubnis, aber wir hätten keine so schönen Vorlagen…»

Ich musste lange über Uwes Worte nachdenken. Und schliesslich musste ich ihm Recht geben. Leute wie Winnie sind nicht gut für die Satire, die Glosse, für das Kabarett und die Comedy. Die Satire braucht etwas zum Angreifen, zum Veräppeln, zum Verarschen (s.v.v.). Zu glatte Politiker sind der Tod für jede Attacke.

Zum Glück haben wir Trump.
Zum Glück haben wir Putin.
Zum Glück haben wir die AFD.
Dazu mehr am Freitag.






Donnerstag, 10. März 2016

Warum "mehr als..."???


"Mehr als nur ein Konzert"
wirbt ein Plakat in der Innenstadt.
Mehr als nur ein Konzert
und ich frage mich, was dieses «mehr» nun zu bedeuten hat. Ist es ein Musical, eine Show, eine Oper, aber wieso schreibt man dann nicht gleich den Fachbegriff? Machen die Künstlerinnen und Künstler noch irgendwas extra? Tanzen sie? Ziehen sie sich lustige Kleider an? Töten sie Tiere auf offener Bühne oder werfen sie mit Luftschlangen? Was bedeutet dieses «mehr», das man nun ständig liest?
"Mehr als eine Badewanne"
wirbt eine Sanitärfirma in ihrem Prospekt für ihr neuestes Luxusprodukt.
Mehr als eine Badewanne
und ich frage mich, was nun das schon wieder meint. Ist es eine Badewanne mit Schäumfunktion? Aber dann könnte man doch gleich Whirlpool schreiben. Kann man darin Längen ziehen? Aber dann wäre es doch ein Schwimmbad. Was kann diese Badewanne, das sie «mehr» als eine Badewanne ist? Vielleicht gibt es Unterwassersound, so dass ich während des Mango-Erdbeer-Schaumbades noch Mahler VII hören kann. Vielleicht hat es Unterwasser-Farbeffekte, dann könnte man Skrjabins grosse Erlösungskomposition unter Wasser mit den entsprechenden synästhetischen Rot- und Blautönen hören. Vielleicht fliegt diese Mehr-als-eine-Badewanne-Badewanne, vielleicht fährt sie oder brät Spiegeleier, man weiss es nicht.
Überall werde ich bombardiert mit Dingen, die mehr sind als sie selbst:
TUI® bietet mir 2 Wochen Türkei, die mehr sind als Urlaub.
In Jack’s Gym bekomme ich mehr als Fitness und mehr als Krafttraining
Und bei Mooncracks bekomme ich Kaffee, der – Sie erraten es – MEHR als Kaffee ist.
Was soll der Mist, warum wird einem stets etwas angepriesen, das «mehr als» etwas anderes, aber auch nichts anderes ist?
Ich mache einen Test:
In Gesprächen flechte ich ganz elegant und smart ein, ich sei ja «mehr als nur ein Singlehrer». Nun kann man die Zuhörer jeweils zwei Gruppen zuordnen: Gruppe I lauscht gebannt und fällt dann in andächtiges Schweigen, die Mienen bekommen religiös-erstaunte Züge und ich kann die Leute dieser Gruppe nur mit Mühe davon abhalten, vor mir auf den Boden zu fallen und mir die Füsse zu küssen.
Gruppe II fragt nach: Warum «mehr»? Und nun kann ich ihnen alle meine Diplome und Zusatzdiplome, allem voran natürlich meine Künstlerische Ausbildung (KA) Chorleitung um die Ohren hauen, ohne schlechtes Gewissen, denn SIE haben ja danach gefragt.
Als wir es von meinen täglichen 500m Brust haben, erwähne ich ganz beiläufig, Schwimmen sei «mehr als nur ein Sport», und wieder haben wir die erste Gruppe, die mit verzückten Gesichtern auf mein Parkett sinkt, und ich kann sie nur mit Mühe davon abhalten, mir die Füsse mit Rosenöl zu salben, Rosenöl macht auf Holzböden nämlich ganz hässliche Flecken, und dann die zweite Gruppe, die fragt. Hier hole ich weit aus, von der Herkunft des Menschen aus dem Meer, von unseren ersten 9 Monaten im Wasser, und so bekommt mein Schwumm (sic!) etwas Holistisch-Spirituelles, etwas Philosophisch-Ganzheitliches, was natürlich Blödsinn ist, aber die anderen hatten gefragt…
Eine Berlinreise sei «mehr als nur Ferien» sage ich in einer Runde, und wieder die beiden Varianten, hier Andacht und Verzückung, dort Frage, und ich schlag der zweiten Gruppe die Bühnen von BE bis Deutsche Oper, sämtliche Museen und Ausstellungen auf den Kopp, ohne dass ich vergässe zu erwähnen, dass die historische Dimension, die Greifbarkeit der Geschichte… hier findet noch einmal alles vom Grossen Kurfürsten bis Angie Platz.
Und nun habe ich es begriffen. Der saudumme Ausdruck «mehr als» bringt dem, der ihn setzt, nur Vorteile. Entweder die Zuhörer fallen vor dem «mehr» in religiöse Verzückung und wälzen sich trancehaft auf dem Boden oder sie fragen nach und dann kann man sie bombardieren.
Mehr als ein Konzert
klingt einfach so viel besser als «Konzert mit Tanz- und Sprecheinlage», was es ja wahrscheinlich ist.
Mehr als eine Badewanne
klingt so viel besser «Badewanne mit Whirldüse», denn sicher hat die Wanne eine solche, an den Unterwassersound und den Unterwasserfarbgeber für Mahler und Skrjabin glaube ich nicht.
Und bei TUI®? «Mehr als Urlaub» ist ja ein totaler Quatsch, denn zum Urlaub kann ja alles gehören, wenn ich aber anrufe und frage, was das «mehr» bedeute, bin ich ja genauso ein Gruppe 2-Opfer und die Dame an der Leitung haut mir alle Animationsangebote und die Speisekarte um die Nase. Und speichert meine Telefonnummer. Und verkauft sie weiter.
So, genug lamentiert für heute.
Bleiben Sie mir gewogen, liebe Leserin, lieber Leser,
denn
DIE DIENSTAG-FREITAG-GLOSSE IST MEHR ALS EINE GLOSSE


Dienstag, 8. März 2016

Manchmal fühlt man sich wie 20 (und manchmal wie 80)



Es gibt Tage, da fühlt man sich jung und dynamisch. Da spürt man schon beim Aufwachen Kraft und Energie, da tanzt man zur Kaffeemaschine, wo man mit ungeheurem Schwung ein Pad einwirft und dann ins Bad, wo man versucht ist, mit den Seifen zu jonglieren. An Tagen wie diesen fühlt man sich wie 20 und man möchte das Fenster aufreissen und «Credo! Credo!» hinaussingen, überlegt ignorierend, dass man ja, wäre man wirklich keine 30, diese Deo-Reklame aus den 80ern gar nicht kennen könnte. An solchen Tagen möchte man Bäume ausreissen und mit dem Wolf oder Bär steppen, da hat man Lust ein Bild zu malen oder Usbekisch zu lernen, da will man die Welt und die Wale retten, da kommt man auf die wildesten Ideen: Eine Hula-Hoop-Schule gründen, einen Film über das Leben von Leonhard Euler drehen (Arbeitstitel Lost in Addition) oder 2067 Senf-Muffins backen und an Passanten verschenken. An solchen Morgen zieht man sich hip und stylisch an, man verschmäht den Mantel und stürmt mit Basecap und Kapuzenshirt – und NIKE®-Sneaker, natürlich – aus dem Haus, wo die verschreckten Fussgänger nur auf die Seite hüpfen können: «Hoppla, jetzt komm ich! Alle Türen auf, alle Fenster auf und die Strasse frei für mich!» (Auch wieder ignorierend, dass ein Twen diesen Hans Albers-Hit nicht mehr kennen kann.)
An Tagen wie diesen sind dann auch die Reaktionen der Mitmenschen entsprechend: Da bekommt man Komplimente für seine hyperschicke Brille und im Museum Studentenrabatt, da glaubt einem keiner sein Alter und am Görlitzer Bahnhof quatschen einen die jungen farbigen Dealer an, ob man Gras haben möchte. Es kann sogar passieren, dass man im Tram für eine ältere Dame aufstehen muss, aber das nimmt man in Kauf. An solchen Tagen liegt das Leben weit vor einem, und es ist einem völlig schleierhaft, was man in 15 Jahren sein wird. (Rentner, aber diese Antwort ignoriert man.)

Und dann gibt es Tage, da ist es genau umgekehrt: Da wacht man auf und fühlt sich wie 95, da schlurft man in die Küche und löffelt mit zitternder Hand Instantkaffee in eine Tasse, weil man sich der Pad-Maschine geistig nicht gewachsen fühlt, da lässt man das Waschen sein, weil das Wasser zu kalt ist und wählt sorgfältig eine graue Hose und einen braunen Pullunder aus dem Kleiderschrank. An solchen Tagen knacken die Beine und ächzen die Arme, da hätte man gerne einen Rollator, um die notwendigen Einkäufe (Herzpillen, Faltencreme und Klosterfrau Melissengeist) einigermassen in der Zeit zu schaffen. An Tagen wie diesen sieht man im Spiegel – wie Doris Dörrie so schön schreibt – schon den Totenkopf einem entgegengrinsen. An solchen Vormittagen lässt man die Bäume stehen und will weder Sprache lernen noch Firma gründen, an solchen Vormittagen sucht man im Branchenverzeichnis (Internet? Was ist das? Kann man das essen? Ist was für Junge…) nach Betreutem Wohnen und Geschäften, die Stützstrümpfe führen.
An solchen Tagen sind dann auch die Reaktionen der Mitmenschen entsprechend: Da wird einem im Tram sofort ein Platz angeboten, da fragt der Nachbarsjunge, ob er die Einkaufstaschen tragen soll und im Museum wird, ohne zu fragen, der Rentnerpreis verlangt. Da sagt die Frau an der Schwimmbadkasse, wenn man den Eintritt für seine 500m-Runde zahlt: «Wenn Sie zum AquaFit wollen, das hat schon angefangen.» An Tagen wie diesen liegt das Leben weit, weit hinter einem und es ist einem völlig schleierhaft, was man vor 15 Jahren war. (Jung, aber diese Antwort ignoriert man.)

Wenn man sich jung fühlt, behandeln die Leute einen als jung, finden die Sneakers cool und bieten einem Drogen an, wenn man sich alt fühlt, behandeln die Leute einen als Greis und wollen einen zur Wassergymnastik schicken. Könnte man letzteres als Teufelskreis bezeichnen, müsste ersteres wohl ein Engelkreis sein. Wie kommt man aber nun vom Teufels- in den Engelkreis?

Hier setzt nun die Werbung ein. Glaubt man ihr, liegt es nur an der Wahl der richtigen Produkte, ob man als Tattergreis oder als jugendlicher Held in den Tag startet. Erwachen Sie am Morgen müde und zerknautscht, haben Sie vielleicht in der falschen Bettwäsche geschlafen. Hätten Sie TSCHUBI®-Baumwollwäsche aus Tradition (250.- pro Garnitur) genommen, würden Sie wie eine afrikanische Rennschwalbe in den Tag segeln. Oder brauchen Sie ein neues Duschgel? Mit OLVIA® (in den Duftvarianten Minze, Limone und Mango) tanken Sie beim Brausen so viel Energie, dass Sie gar nicht wissen, wohin damit. Wenn Sie dann, aus TSCHUBI® gestiegen und mit OLVIA® geduscht, noch einen RUSTA®-Kaffee trinken, wachsen Ihnen förmlich Flügel. Oder brauchen Sie doch ein Tonikum, vielleicht SANOPROMPT® mit Ginseng und Rosmarin? Das verjüngt um 20 Jahre, sagt die Firma. Möglicherweise kann auch ein wenig Sport am Morgen helfen, aber nur in den richtigen Kleidern und in den richtigen Schuhen, auch hier gibt es genügend Marken, die Ihnen zur Seite stehen.

Natürlich ist das alles Quatsch. Der Mann, der in den 80ern in der Deodorant-Werbung das Fenster aufriss und «Credo-Credo» rausbrüllte (Ein Wunder, dass die Firma nie wegen Blasphemie drankam), also dieser Mann WAR jung, WAR dynamisch, WAR ausgeschlafen und frisch, genauso wie die CK-Models auch alle jung, fit, waschbrettbäuchig und durchtrainiert sind, genauso wie OLVIA®-Vorduscher, die RUSTA®-Trinker und die TSCHUBI®-Schläfer. Alle diese Figuren haben genau das Problem, sich jung und fit zu fühlen, nicht, denn sie sind jung und fit.

Was hilft nun?
Die Antwort ist so einfach wie kurz: Gar nix.
Man muss einfach akzeptieren, dass es solche und solche Tage gibt. Manchmal fühlt man sich jung und manchmal alt.
Und:
Sie können ja immer noch reagieren. Sie müssen den angebotenen Sitzplatz nicht nehmen, und Sie müssen nicht ins Aquafit. Umgekehrt müssen Sie die angebotenen Drogen auch nicht kaufen.