Freitag, 30. Oktober 2015

Herbstreise III: Nonnen dürfen Aussicht haben (wie CEOs auch)

Fulda ist eine wunderschöne Stadt. Lieblich zwischen sieben Hügeln in die Rhönlandschaft eingebettet, präsentiert sich die Bischofsstadt mit einem riesigen Barockschloss mit anmutigen Gärten, einem fulminanten Dom mit dem Grab des Germanenmissionars Bonifaz und einer verwinkelten fachwerkbehausten Altstadt. Nachdem ich Dom und Grab, nachdem ich Schloss und Gärten sowie die Altstadt angeschaut und viele schöne, sehr schöne Fotos gemacht hatte, dachte ich, es wäre vielleicht noch interessant auf einen der Hügel zu fahren und ein Bild oder zwei von dem in die Rhön eingebetteten Fulda zu schiessen.

Ich besorgte mir ein Tagesticket der Fuldaer Verkehrsbetriebe und machte mich auf den Weg. Auf dem ersten Hügel erwartete mich ein 60er-Jahre-Beton-Viertel mit zentralem Platz, Begegnungsstätte, Kirche und PENNY inklusive, aber keine Aussichtsmöglichkeit. Beim Heruntersteigen von Hügel 2 (Villenviertel) hätte es viele Fotomöglichkeiten gegeben, aber diese wären alle von den Wohnzimmerfenstern der Einwohner aus gewesen. Darf man einfach so bei wildfremden Leuten schellen und fragen, ob man von der Wohnstube aus fotografieren darf? Ich beantwortete die Frage mit Nein.

Warum, diese Frage allerdings kam mir auch, warum stellt die Stadt Fulda keine Aussichtstürme auf? Warum baut sie keine Aussichtsplattformen? Warum will man nicht, dass die Domstadt in ihrer ganzen Schönheit und mit ihrer Umgebung auf Zelluloid gebannt wird? (Dies als Metapher, ich weiss, dass das Digitalbild diesen Stoff nicht mehr braucht.)
Was hat die Stadt zu verbergen?

Der dritte Versuch war der Frauenberg, ein Klosterberg im Westen der Stadt, der auch im Reiseführer ob der Aussicht gerühmt wurde. Ich fuhr also mit der Buslinie 1 hoch und sah schon von weitem die Klosterterrasse und wusste: Da gibt es ein Foto.
Gab es nicht, weil ich nicht zur Aussichtsterrasse kam. Das (noch bewohnte) Kloster war nämlich verschlossen, ein geschlossenes Kloster also, was eigentlich nicht verwunderlich ist, kommt doch das Wort Kloster von claustrum, was ja verschlossen heisst.
Also war auch die dritte Fahrt ein Metzgersgang.

Am nächsten Tag durchstreifte ich Läden und Kioske nach Postkarten oder Bildbänden mit meinem Motiv: Fehlanzeige. Es gibt kein Foto mit Fulda von oben, in die Landschaft gebettet.
Nun wurde ich ein wenig sauer auf die Klosterschwestern, hocken die einfach da oben, lassen niemand rauf und geniessen die Aussicht selber, wäre doch IHRE Terrasse der ideale Platz für einen unverstellten, herrlichen Blick über die Domstadt.

Dann aber kam ich ins Nachdenken: Warum dürfen Nonnen nicht eine schöne Aussicht haben? Du liebe Zeit, die Frauen tun den ganzen Tag nichts als singen und beten, sie verzichten auf Sex and  Drugs and Rock’n Roll, sie weben am spirituellen Faden der Welt wie weiland die Nornen, dann dürfen sie das doch auch an einem schönen Ort mit schöner Aussicht machen. Übrigens singen und beten sie natürlich nicht nur, manche schreiben, manche komponieren, manche malen, viele sind beruflich tätig, und das nicht nur in der Pflege.

Nein, gönnen wir den Bonifazianerinnen vom Frauenberg (Sie müssen in Fulda doch Bonifazianerinnen sein, oder?) ihre Aussicht und ihre Terrasse, denn:
Einem Nadelstreifenheini in der Teppichetage gönnen wir die Aussicht ja auch.
Jetzt können Sie einwenden, dass ein CEO ja etwas Wichtiges tue, er scheibe Mails und lese welche, er mache Meetings und halte Vorträge mit Kraftpunktpräsentationen, er sei den ganzen Tag am Rödeln und Schuften und Denken und Leiten, dann solle man ihm auch die Aussicht gönnen. Gut, aber was tut ein CEO wirklich, wenn man die Aktionen abzieht, die er zur Rechtfertigung seines
Gehaltes anstellt? Ist das Gebet der Schwestern nicht genauso nötig oder unnötig wie die Meetings in der 25. Etage der UZMUS AG?
Auf jeden Fall ist eine Messe mit Nonnengesang ästhetisch schöner als ein Vorstandsmeeting mit Kraftpunkt.
Und:
Der CEO hat ja ein verdammt hohes Gehalt PLUS Bonus PLUS Aktien PLUS Aussicht und die Bonifazianerinnen haben KEIN Gehalt, Bonuszahlungen und Aktien und KEINEN Sex und KEINE Partys und NUR die Sicht auf die Rhön.

Nein, gönnen wir den Nonnen ihre Aussichtsterrasse.

Fulda ist eine schöne Stadt. Dom, Schloss, Park und Altstadt sind wirklich sehenswert.
Und vielleicht baut die ja die UZMUS AG ein Bürohochhaus, ein ganz grosses, scheussliches, das höchste Gebäude von Nordhessen.
Dann sollte die Stadt Fulda unbedingt, auf jeden Fall und strikt, sie sollte ganz rigoros und ohne Diskussion, sollte tapferst auf einer Aussichtsplattform mit Publikumszugang bestehen, beharren, darauf pochen und hinarbeiten.

Was ja andere Städte versäumt haben sollen…


Dienstag, 27. Oktober 2015

Herbstreise II: Der Koffer und die Sicherheitsgründe



Ich habe wieder einmal eine Tollpatschigkeit fabriziert, die ihresgleichen sucht. Als ich, von Leipzig kommend, in Fulda aussteigen wollte, war mein Koffer verschwunden. Ich hatte ihn im untersten Fach jenes Metallregals abgestellt, das sich in den Eingangsbereichen von ICE 2050-Grossraumwagen befindet. Nun war das Fach leer. Jemand musste meinen Koffer absichtlich oder irrtümlich mitgenommen haben, in Erfurt oder Eisenach. Ich ging, nach zwei Beruhigungszigaretten, zum Info-Schalter im Fuldaer Bahnhof.

Auf dem Weg dorthin fiel mir allerdings ein, dass ich den Grossraumwagen am anderen Ende betreten hatte und dann eine lange Strecke durchgelaufen war, meinen Koffer aber DORT abgestellt hatte. Er befand sich also nicht in den Händen von Dieben oder schusseligen Menschen, sondern schlicht und einfach in Wagen 8 des ICE auf dem Weg nach Wiesbaden. Glück im Unglück: Spätestens in der Hessischen Landeshauptstadt würde er ausgeladen, man stelle sich vor, der Zug wäre nach München gegangen. Am Info-Schalter traf ich auf zwei sehr, sehr nette Mitarbeiterinnen, sie riefen im Zug an und erfuhren, dass der Koffer gesichtet sei, eine Ausladung in Frankfurt aber nicht mehr möglich sei, er würde in Wiesbaden am dortigen Infoschalter abgegeben. Auf meine Frage, ob man den Koffer nicht per Zug zurückschicken könnte, wurde mir gesagt, das sei aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Ich bedankte mich bei den beiden Damen und machte mich auf den Weg nach Wiesbaden.

Warum ich nach Wiesbaden fuhr? Natürlich weil ich meinen Koffer brauchte und weil mich eine Notausstattung mit Unterwäsche, Kosmetika und einem Hemd mehr gekostet hätte als die Fahrt an den Rhein. In Wiesbaden stand mein Koffer schon direkt am Infopoint und ich konnte ihn ohne Umschweife (ohne Personenangabe oder Ausweis!) mitnehmen.

Auf der Rückfahrt in die Domstadt kam ich aber doch ins Grübeln: Warum in aller Welt kann die DB mir den Koffer nicht in den nächsten Zug Wiesbaden-Fulda setzen? Sicherheitsgründe? Wenn ich vorgehabt hätte, eine im Gepäck versteckte Bombe zu zünden, per Zeitschaltung oder per Funk, hätte ich das doch schon im ICE NACH Wiesbaden tun können, der Koffer war ja 1 ½ Stunden herrenlos. Oder ich hätte NACH 15.33 (Ankunft in der Kurstadt) die beiden netten Hessen am Infopoint, die übrigens  genauso freundlich waren wie die Damen in der Domstadt, in die Luft jagen können – und den gesamten HBF Wiesbaden mit. Dass auf der potentiellen Rückfahrt meines Gepäcks eine Bombe losginge, wäre doch kompletter Nonsens. Denn ich war ja 15 Minuten am Schalter in Fulda gestanden, ZWEI Bahnfrauen konnten ein Phantombild von mir zeichnen, wahrscheinlich gab es sogar eine Überwachungskamera. Welcher Attentäter lässt seinen Koffer weiterfahren, meldet sich dann bei der DB und lässt sich das Teil hersenden, um es dann zu zünden, NACHDEM er sich vorgestellt hat?

Sicherheitsgründe?
Oft ein Totschlagargument erster Klasse. Ich kann etwas nicht begründen, aber …
Genau
Sicherheitsgründe.

Man nimmt mir am RheinMainAiport aus Sicherheitsgründen mein Essbesteck ab, das sich aus Versehen noch in der Sporttasche befindet und schickt mich aus Sicherheitsgründen auf einen Flug, auf dem noch echtes Besteck verteilt wird.
Man nimmt mir am EuroAirport vier meiner fünf Feuerzeuge ab, weil aus Sicherheitsgründen auf Flügen nur ein Feuerzeug erlaubt ist. Das passiert aber nur einmal, den anderen Flügen scheinen diese Sicherheitsgründe egal zu sein.

Man überlegt, ob aus Sicherheitsgründen Piloten mit schweren psychischen Problemen nicht mehr fliegen sollen, egal ob diese Probleme akut, behandelt, im Griff oder passé sind. Bei Piloten mit Herzproblemen scheinen Sicherheitsgründe keine Rolle zu spielen, auch wenn der Pilot schon zwei Bypässe hat und – so neulich geschehen – während des Fluges stirbt.

Aus Sicherheitsgründen dürfen in unsere Aula nur 140 Leute hinein, da ist die Gemeinde streng, sehr streng, ab dem 141. wird weggeschickt. Dass die Aula ebenerdig ist und acht grosse Fenster hat, dass man den Raum also bei einem Brand in Sekunden verlassen kann, ist wurscht, die Gemeinde achtet auf Sicherheit. Dass dieselbe Gemeinde eine Primarschule hat, bei der die Eingangstüren nach INNEN aufgehen, steht auf einem anderen Blatt.

Ich war dann endlich um 20.00 im HOTEL AM SCHLOSS in Fulda und checkte ein. (Statt um 14.00 wie vorgesehen)
Das was jetzt kommt ist auch wahr, schwörrr:
Obwohl ja via Internetbuchung und Kreditkartenangabe alle meine Daten bekannt waren, musste ich einen vollständigen Meldezettel ausfüllen und die Rezeptionistin machte, weil ich ja Exilant bin, eine Ausweiskopie.

Warum?
Sie ahnen es:
Aus Sicherheitsgründen

Freitag, 23. Oktober 2015

Herbstreise I: Malte-Torben sucht sein Schmusetuch



Ich habe in den Herbstferien eine kleine Rundreise durch Deutschland gemacht, bei der ich alte Freunde besuchte, eine Fahrt, die in Leipzig begann und die in Berlin endete. Und ich lasse mich von den Eindrücken zu kleinen Texten anregen.

In Leipzig lese ich den folgenden an einer Platane hängenden Zettel:

Wer hat gestern, am 5.10.2015 ein rot-blaues Wolltuch gefunden?
Es handelt sich um das Schmusetuch meines Sohnes xxxx, ohne das er eigentlich keinen Schritt macht.
Bitte meldet euch unter schmusetuch-xxxx@gmx.de
Vielen Dank

Ich habe den Namen von xxxx vergessen, aber wir geben dem Bürschlein jetzt einfach mal den Namen Malte-Torben.
Malte-Torben hat schon tolle Eltern, sie nehmen seine Sorgen und Nöte nicht nur ernst, nein, sie handeln auch sofort, sie drucken Zettel und hängen sie auf und richten sogar für die Lösung der Schmusetuch-Katastrophe eine eigene E-Mail-Adresse ein. Denn es kann ja nicht sein, dass der arme kleine Fratz nun mehrere Tage in seinem Bettchen liegt und nicht mal aufs Klo kann, weil er ja – wie weiland Linus – ohne Tuch KEINEN SCHRITT macht.

Aber dann stossen uns doch kleine Fragen auf, sie blubbern die Kehle hoch und strampeln durch den Hals und wollen formuliert werden, gut, formulieren wir sie, die kleinen Biester:
Wie konnte das Tuch denn verloren gehen, wenn Malte-Torben KEINEN SCHRITT ohne das Ding unternimmt? Schlief er in seinem Bettchen und Papa hat das Schmusteil zum Joggen mitgenommen und dann verloren? Unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich, dass Mama es verschludert hat. Wahrscheinlich ist, dass es Malte-Torben aus der Hand gerutscht ist, als er etwas entdeckt hat, das im Moment wichtiger als das Tuch war, einen Vogel, eine Blume, ein Bio-Eis oder einen Müslikeks (Natürlich nimmt Malte-Torben nur Müslikekse und Bio-Eiscreme zu sich) und dass er dann das Tuch irgendwo vergessen hat, aber dazu muss er ja EIN PAAR SCHRITTE gelaufen sein, oder?

Eine andere Frage ist allerdings – und ich wage sie zu stellen, obwohl ich keine Kinder und damit in den Augen der meisten Malte-Torben-Mütter und Malte-Torben-Väter auch keinen blassen Schimmer von Erziehung habe – ob man die jungen Menschen nicht irgendwann auf das Thema „Verlust“ einstimmen sollte. Ganz nach dem Motto, das ich stets hörte: „Hättest du besser aufgepasst.“ Ich bekam zum Beispiel, wenn mir ein Softeis oder ein Stück Kuchen, eine Portion Pommes oder etwas ähnlich Ungesundes (meine Mutter gab mir so schreckliche Sachen, im Gegensatz zu Malte-Torben, der ja seine Müslikekse und seine Bio-Eiscreme hat und so Furchtbares nicht essen muss), also wenn mir das aus der Hand rutschte nicht einfach eine neue Ladung, obwohl wir es uns hätten leisten können. Genauso hätte ich sicher ein NEUES Schmusetuch bekommen, aber man hätte für das alte nicht die Welt auf den Kopf gestellt. Und wenn ich gesagt hätte, ich mache KEINEN SCHRITT ohne mein Tuch, dann wäre die lapidare Äusserung gekommen, dass ich dann halt bis ans Ende meiner Tage dort stehenbleiben könne, wo ich sei. Nein, ich finde, auch ein ganz Kleiner sollte mitbekommen, dass Dinge verloren gehen können und dass das Leben immer auch Verlust mit sich bringt.

Eine dritte Frage stösst, blubbert und strampelt nun bei Leipzig-Kennern und sie lautet:
Wo hing dieses Tuch?
Nun, Leipzig-Kenner, raten Sie!
Sie meinen: Schleussig oder Plagwitz?
Bingo, Schleussig Holbeinstrasse.
War ja klar.
Kurze Erklärung für die Nicht-Leipzig-Kenner: Gründerzeitviertel, ehemals alternativ, dann „in“, jetzt hochpreisig, eben ein Viertel für Bio-Kekse und Malte-Torbens.
Na, Freiburger? Wo hinge bei Euch der Zettel? Ganz eindeutig in der Wiehre.
Berliner?
Prenzlauer Berg, wo denn sonst?
(Eines der Highlights meiner Reise war ja dann auch der (inzwischen dritte) Besuch des Prime-Time-Theater im Wedding mit seiner Bühnensoap Gutes Wedding – Schlechtes Wedding, bei der der Prenzlauer Berg, die „Prenzelwixer“ sehr aufs Korn genommen werden.)

Und ihr, Basler?
In Basel ist das – zum grossen Glück – nicht so eindeutig. Vielleicht im Schützenmattquartier oder im Neubad, aber man kann das nicht so klar sagen. Und das ist gut so.

Vielleicht kann man es in einem kleinen Gedicht so auf den Punkt bringen:

Wohl dem Quartiere, wohl der Stadt
Die keine Malte-Torbens hat
O wohl der Stadt, wohl dem Quartiere
Das nicht wie Schleussig oder Wiehre
Wo man auch mal Pommes schätzt
Und Schmusetücher halt ERSETZT.

Dienstag, 20. Oktober 2015

Verfassungsschutz und Stasi - Scylla und Charybdis

Oh, da haben etliche Leute etwas in den falschen Hals bekommen!
Ich habe neulich nicht behauptet, dass Stasi und Verfassungsschutz das Gleiche waren, ich habe nur gesagt, auch der VS könnte mal die Archive öffnen und die Akten zeigen, und dazu stehe ich.

Stasi und VS waren nicht das Gleiche, absolut nicht, aber sie taten das Gleiche, beide spionierten bzw. spionieren, den VS gibt es ja noch, den Bürgern hinterher. Ja, geschenkt, die eine Organisation für einen Unrechts- und die andere für einen Rechtsstaat, aber, ehrlich gesagt, ist es mir egal, ob ein Rechts- oder Unrechtsspion meine Post aufmacht.
Nein, der grosse Unterschied war die vollständige Durchakquirierung eines ganzen Volkes für die eigenen Zwecke. Die Dichte des Netzes der IM war phänomenal, davon hätte der VS nie zu träumen gewagt. Dass der VS davon träumte, auch so ein Heer freiwilliger Helferinnen und Helfer zu haben, dessen bin ich sicher. Wie oft müssen sie dagesessen haben und Demo-Fotos betrachtet und geflüstert, wenn wir jetzt einen IM im Umfeld von XY hätten, dann wüssten wir 100% sicher, ob das der XY auf dem Foto ist. Wie oft müssen sie Berichte gelesen haben, von Leuten die zu oft irgendwo hinfahren, sagen wir mal Heidelberg, und geseufzt haben, wenn wir jetzt ein IM im Umfeld von YZ hätten, dann wüssten wir 100%ig, was YZ in, sagen wir mal Heidelberg, macht.
Nein, von so einem IM-Netz träumten die VSler, aber sie haben sich nie getraut, es wirklich anzulegen.

Gut, es wäre auch sicher nie vorgekommen, dass man Leute verpfiffen hätte, weil sie Ostfernsehen geschaut hätten. Nicht weil in unserem demokratischen Land das nicht verboten war, nein, nein, denn VERDÄCHTIG wäre es ja auf jeden Fall gewesen, niemand schaute Ostfernsehen, weil es einfach so rattenschlecht war. Es wäre auch niemand verpfiffen worden, weil er oder sie das NEUE DEUTSCHLAND bezog, nicht weil es legal war, nein, nein, denn VERDÄCHTIG war es ja. Niemand wäre auf die Idee gekommen, das AD zu abonnieren, einfach weil es ein so hundsmiserables Blättchen war.
Niemand wurde also denunziert, weil er ostfernsah und ND las, das heisst aber nicht, dass nicht denunziert wurde.

Während der VS kein wirkliches Glück bei der Rekrutierung von IMs hatte, hatte das BKA es in Zeiten des Heissen Herbstes ja fast geschafft. „Halten Sie Augen und Ohren offen“ hiess es da, Ihr Nachbar könnte ein Terrorist sein, und wie viele riefen da bei der Polizei an um irgendwas zu melden, und Eduard Zimmermann und BILD halfen mit und zerstörten nebenbei ein paar Existenzen (Katharina Blum lässt grüssen), aber das sind Kollateralschäden.
Ja, ich wage zu behaupten, dass gewisse Leute auch prima DDR-IMs abgegeben hätte.
Frau F. aus G., die feststellte, dass die Frau in der Wohnung über ihr, eine 30jährige (!) Studentin (!) der Politologie (!), eben diese Wohnung öfter anderen Leuten überliess und dies natürlich der Polizei meldete, sie hätte wunderbar als „IM Torte“ funktioniert.
Herr T. aus M, der feststellte, dass seine Nachbarin genau an jenem Tag, als Holger Meins beerdigt wurde, in Richtung Friedhof lief, und das natürlich der Polizei meldete, er hätte herrlich als „IM Wurst“ ausgesehen.

Ich habe vorhin gesagt, dass Ost-TV und Ost-Zeitung kein Problem waren.
Anders mit Reisen in die DDR: Die waren verdächtig, sehr verdächtig, wenn man keine Verwandte hatte, und sie waren dem VS schon etliche Bogen Papier wert. Wer nun einfach so rüber fuhr, und das mehrfach, der konnte sich gewisse Dinge schon einmal abschminken.

Sie fragen, was man sich abschminken konnte?
Eine Beamtenstelle natürlich.

Ich habe es selber leider nie ausprobiert, deshalb fände ich eine VS-Archiv-Öffnung ja auch so glatt, ich habe es nie ausprobiert, ob ich in den Staatsdienst gelangt wäre. Aber ich habe meine grossen Zweifel. Immerhin WAR ich ja in einem antimilitaristischen Arbeitskreis, der marxistisch unterwandert war und immerhin WAR ich ja auf nichtgenehmigten Demos gewesen. Nein, ich habe es nicht probiert, aber vielleicht hätte ich auch zu hören bekommen, ich führe , nein nicht nach Heidelberg, aber an den Bismarckplatz, wo ich ja immerhin stadtbekannte Kommunisten besuchte. (Eine Ironie, die mir bis heute entgangen war: Dass Marxisten am Bismarckplatz wohnen)
Nein, ich habe es nie ausprobiert, aber dass da irgendwo etwas stand, da bin ich sicher.
Nein VS und Stasi waren nicht identisch, aber Erfahrungen mit ihnen konnten sehr ähnlich sein, so berichten Wolf und Wallraff fast dieselbe Szene: Wie sie die Leute im Auto vor ihrem Haus fragen, ob sie nicht gleich mit hochkommen wollten, sei doch gemütlicher und Kaffee gebe es auch…

In einem war der VS sogar noch viel weiter als die Stasi: Wenn Heinemann in einem Telefonat zu Böll sagt, das könne man hier nicht besprechen, er werde abgehört, dann ist dies eine so grosse Unverschämtheit, schliesslich war er das Staatsoberhaupt, wie sich die Stasi – glaube ich – nie geleistet hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ulbricht und Honecker bespitzelt wurden.

 Aber möglich ist ja alles…

Freitag, 16. Oktober 2015

Knastgespräch zwischen Winti und Blatti

Ein regnerischer Montagnachmittag im Herbst des Jahres 2017.
Die Häftlinge 3355 und 7788, die sich untereinander als „Winti“ und „Blatti“ titulieren, sitzen in der Vollzugsanstalt, rauchen und trinken Bier. Der dritte im Bunde, Luigi Mascarpone, sitzt auf seinem Bett und reinigt sich die Fingernägel, denn ein Pate schaut auch im Knast darauf, sauber und gepflegt zu sein und eine „bella figura“ zu machen.



„Weisst du, Blatti“, beginnt Winti, „wenn wir einmal rauskommen, dann…“
„Wir kommen nicht raus“, kontert Blatti, „wir kommen nicht raus, die haben uns 30 Jahre gegeben.“
„Und gute Führung?“
„Vergiss es, dafür hatten wir in Freiheit lange genug Zeit, uns gut zu führen. Rede im Konjunktiv.“
„Also gut“, beginnt Winti erneut, „wenn wir rauskommen WÜRDEN, MÜSSTEN wir alles anders machen.“
„Und was, du Schlaumeier?“, seufzt Blatti.
„Es bräuchte eine Kombination unserer beiden Systeme: Nicht nur Korruption, nicht nur Manipulation, sondern beides.“
„Und wie sollte das genau aussehen?“
„Schau mal: Du hast 10 Millionen von den Scheichs gekriegt, dass du ihnen die WM gibst. Davon hast du 5 Millionen wiederum an Funktionäre und die Mitbewerber verteilt, dir blieben 5. Aber die Fans, die Fans haben’s nicht geschluckt. Also hätte es Untersuchungen und Messungen gebraucht. Untersuchungen und Messungen, die bewiesen hätten, dass Katar ein mildes und idealfeuchtes Klima hat, auch im Sommer, dass der bauliche Untergrund ideal für Stadien ist, dass es keine logistischen Probleme gibt, usw., usw.“
„Und du hättest mehr schmieren müssen.“ Blatti trinkt sein Bier leer und greift zu einer neuen Flasche.
„Genau. Ich hätte nicht nur die Abgasmessungen fälschen dürfen, sondern alle Umweltheinis, Kontrolleure, alle Staatsanwälte und natürlich auch ca. 100 Politiker auf meine Gehaltsliste setzen müssen. Erst die Kombination von Bestechung und Betrug bringt das gewünschte Ergebnis.“



„Quatsch!“ Luigi hat seine Maniküre beendet, ist aufgestanden und hat sich zu ihnen gesetzt. Er nimmt ein Bier und zündet sich einen Stumpen an.
„Der wahrhaft grosse Kriminelle baut auf drei Säulen: Manipulation, Korruption und Exekution.“
„Wie meinst du das?“
„Porco miserico! Madonna mia! Sei stupido! Stupidissimo!”
(Luigi fällt immer ins Italienische, wenn er sich aufregt.)
„Guckt mal, ihr beiden Pagliacci. Manipulatione ist gut, machen wir auch. Wir fälschen unsere Personaldokumente, unsere Steuererklärungen, unsere DNA-Tests, unsere Rechnungen von Ristoranti und Alberghi, Corruptione ist gut, wir haben praktisch alle, die im Mezzogiorno was zu sagen haben, auf der Gehaltsliste. Aber manchmal hilft nur piombo.“
„Du meinst…“
Porco miserico! Madonna mia! BLEI! Töten! Peng, peng! E il nemico è mortuo. Es ist nämlich so:
Es gibt Leute, die sind intelligent, aber unanständig, sie kommen dir auf die Schliche, aber nicht, weil sie für das Gute kämpfen, sondern weil sie auf deine Lohnliste wollen. Einfach zu handhaben, du musst nur überlegen, wie viel sie ermittelt haben und wie viel ihr Schweigen wert ist. Die anderen sind hochanständig, absolut unbestechlich, aber viel zu blöd, dir etwas nachzuweisen, auch weil sie, eben wegen IHRER Anständigkeit auch immer Anständigkeit bei ANDEREN wittern.
Die dritte Gruppe ist gefährlich: Superschlau und total integer.“
„So Leute gibt es?“, rufen Winti und Blatti wie aus einem Munde.“
„Aber natürlich! Ihr seid beide über so Leute gestolpert. Nehmt diese Umweltheinis, nehmt die Lynch, nehmt Menschen wie Snowden, nehmt die ganzen hurenverdammten NGOs, die Liste ist verflucht lang. Und bei solchen hilft halt nur ein gezielter Schuss, oder, wenn einem das zu brutal ist, ein wenig Strychnin im Essen oder ein kleiner Autounfall, oder, wenn man es als Exempel machen will, ein bisschen Beton an den Beinen, was ja unter Wasser auch relativ unbekömmlich ist.“



Winti nimmt sich noch eine Zigi. „Wenn wir rauskommen…“
„Wir kommen nicht raus, wir kommen nicht raus“, unterbricht Blatti, „sprich im Konjunktiv.“
„OK“, fährt Winti fort, „wenn wir rauskommen WÜRDEN, WÜRDEST du uns dann das Schiessen beibringen?“
„Certo, amici, certo!“

Und so beginnt es zu dunkeln in der Zelle von 3355, 7788 und 9911 (das ist Mascarpone) und ein regnerischer Montagnachmittag beginnt sich seinem Ende zuzuneigen.
Und Ruhe kehrt ein in der Haftanstalt.
Und wir hoffen, dass die drei so schnell da nicht rauskommen.

 

Denn ein Winterkorn oder Blatter mit Knarre, das wäre nun wirklich ein Albtraum.

Dienstag, 13. Oktober 2015

Amok verhindern - Lehrer bewaffnen

Die seit einer Woche angekündigte MTC (main teacher´s council, auf Deutsch Gesamtlehrerkonferenz oder auf Deutsch(CH) Lehrerkonvent) der Big Valley High School in Husterton (Wyoming) hat schon im Vorfeld für Diskussionen gesorgt. Völlig überflüssig, denn eine Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern hat einen sinnvollen, nützlichen Antrag gestellt, einen Antrag, der dem Frieden, der Sicherheit und dem Wohlergehen aller dient. Aber Sie kennen das ja: Nörgler gibt es immer.



Der Antrag lautet im Wortlaut:
For prevention/prohibition of any violence and murders at the Big Valley High School should every teacher have a gun in his class room desk.
(Als vorbeugende Massnahme zur Verhinderung von Gewalt und Mord an der Big Valley High School sollte jede(r) Lehrer(in) ein Gewehr im Schreibtisch haben.



Zur Begründung heisst es, dass im Falle eines Amoklaufes das Lehrpersonal die Möglichkeit hätte, den Gewalttäter noch vor dem Eintreffen der Polizei zu eliminieren.

Auf der Konferenz fliegen nun – überflüssigerweise, wie gesagt – die Fetzen.



Jim Broker, Kunstlehrer (na klar! alles verkappte Kommunisten!) schreit herum, dass es doch kompletter Wahnsinn sei, in allen 55 classrooms eine Waffe + Munition zu haben, das hiesse ja, dass ein potentieller Amokläufer nur das Lehrerpult öffnen müsse und nun an Gewehr gelangt sei. Man müsse die Knarren AUS der Schule verbannen, nicht Knarren IN die Schule schleppen.



Der Konter von Jack McTrevis, Sportlehrer (Ex-Marine, aufrechter Mann!) kommt sofort: Wenn Jim nicht in der Lage sei, sein Pult in Gegenwart von Schülerinnen und Schüler verschlossen zu halten, dann sei er wohl verkehrt im Job, schliesslich befänden sich auch zu schreibende Tests, Notenbüchlein, heikle Unterlagen etc. darin, eine Lehrkraft, die das Zimmer verliesse ohne das Pult abzusperren, sei ein(e) Chaot(in) und in diesem Beruf, der ja die jungen Leute zu Ordnung, Moral und Sauberkeit führen sollte, eh nicht zu gebrauchen.



Nun ergreift Mary O’Hill, Psychologielehrerin (O diese Psychologen! Der Teufel hole sie!) das Wort und gibt zu bedenken, dass ja auch Lehrpersonen nur Menschen seien und ob man denn für jede(n) der über 100 Lehrer(innen) mit absoluter, 100%iger, festgemauerter Sicherheit sagen könne, dass ihre Nerven über jeden Zweifel erhaben seien. Immerhin habe es im Jahre 2014 USA-weit 367 Fälle von Gewaltattacken gegeben, die von Unterrichtenden ausgegangen seien.



Harsche Erwiderung von Susan Hoblovski (Astronomielehrerin, war bei der NAVY und der NASA!): Wenn es schon so weit gekommen sei, dass Psychopathen im Schuldienst seien, dann müssten halt die Lehrpersonen getestet werden, getestet ob ihrer psychischen Gesundheit. Oder man trennte sich von vorneherein von solchen in ungefestigten Situationen: Singles, Schwule, Lesben, Leute, die nicht beim Militär waren und Leute, die in keiner Kirche seien, sie selbst sei glücklich verheiratet, 4fache Mutter, sei als Lieutenant bei der NAVY abgegangen und in der Batipste Church, SIE sei emotional gefestigt und mental stabil.



Nachdem noch eine Stunde die bösesten Bälle hin- und hergeflogen sind, bringt es der Schulleiter auf den Punkt:
„Leute, Leute, jetzt mal Ruhe im Karton. Ihr habt doch alle als Kinder Western geguckt. Und im Western gibt es die Guten, die Cowboys, Sheriffs, die Deputies und die Bürger, die Händler, Farmer, Pfarrer und die Siedler, und es gibt die Bösen, die Gauner, die Halunken, die Outlaws und die Räuber. Und die Guten müssen doch Knarren haben um sich gegen die Bösen zu verteidigen, sonst würden sie doch einfach abgeknallt. So, und WIR sind die GUTEN, wir können gar nicht falsch handeln, weil WIR Lehrer die Guten sind. Und die Amokläufer, DIE sind die SCHLECHTEN. Habt ihr’s kapiert?“



Die Abstimmung ergibt:
Annahme des Antrags
JA   88 Stimmen
NEIN 10 Stimmen
ENTHALTUNGEN 7 Stimmen



Die seit einer Woche angekündigte MTC (main teacher´s council, auf Deutsch Gesamtlehrerkonferenz oder auf Deutsch(CH) Lehrerkonvent) der Big Valley High School in Husterton (Wyoming) hat schon im Vorfeld für Diskussionen gesorgt, ist aber nun zu einem klaren und sinnvollen Ergebnis gekommen.



Die Gruppe der Nein-Sager, Broker, O’Hill und acht weitere erhalten auf das nächste Semester ihre Kündigung.



Die Gruppe, die den Antrag stellte, McTrevis, Hoblovski und noch 5 weitere wird von der eigentlichen Urheberin, der NRA (National Rifle Association) mit Familien zu einem Wochenende in DISNEYLAND eingeladen.

Freitag, 9. Oktober 2015

Keine Neuen nach Bern

Ich hatte neulich einen verrückten Traum: Ich war für die RIP ins Schweizer Parlament eingezogen. Keine Ahnung, für was RIP steht und für oder gegen was sich diese Partei einsetzt, es war ja ein Traum, auf jeden Fall erinnere mich an eine Szene, in der ich in meinem Büro sass und verzweifelt versuchte, ein Riesendossier zu bewältigen. Dieses Dossier sollte dem Anfänger, dem Neuling alles erklären, was er so in seinem Parlamentarierleben brauchen würde, von A wie Amtsgeheimnis bis Z wie Zuschauertribüne.

Merkwürdigerweise –wie gesagt, ein Traum – war das Büro in den Farben Rot-Lila-Rosa tapeziert und mit blauen Fröschen bevölkert, die mich ständig von meiner Lektüre ablenkten. Das wirklich Schlimme waren aber nicht die Amphibien, sondern die Tatsache, dass auch der Ordner zu leben schien. Ständig wuchsen neue Kapitel vorne, hinten und seitlich heraus, Kapitel, die denen widersprachen, die ich schon hinter mich gebracht hatte. Hatte ich nun gerade die grünen Seiten zur Datensicherheit gelesen, die mir ein Passwort nahelegten, wölbten sich auf der linken Seite braune heraus, die vor sämtlichen Passwörtern ausdrücklich warnten. Hatte ich die Seiten 23-25 durch, die das Prozedere bei Wahlen beinhalteten, so entsprossen dem Deckel neue Seiten 23-25, die mir klarmachten, dass es gar keine Wahlen, nur Losverfahren gebe.

Es folgte eine Art Filmschnitt.

In der nächsten Szene irrte ich durch das Bundeshaus, auf der Suche nach Raum 342, in dem der Militärausschuss tagen sollte. Jetzt fragen Sie bitte nicht, warum ich, ausgerechnet ich in der Militärkommission war, ich war es halt, und jetzt suchte ich verzweifelt den Raum 342. Es gab zwar einen dritten Stock, in diesem aber nur die Zimmer 301-337, der vierte Stock fing dann bei 503 an.
An wen ich mich auch wandte, wen ich auch fragte, wem ich die Info zu entlocken zu versuchte, alle waren Neulinge, Anfänger wie ich. Nirgends ein Oldie, ein Alter Hase, der einen mitgenommen hätte und vor die betreffende Türe gebracht.
Schliesslich tauchte die Zimmerflucht 338-342 auf, sie war einfach in dicken, schwarzen Nebel gehüllt gewesen. Da alle Kommissionsmitglieder Neue waren, war ich auch nicht zu spät, sondern wir begannen gemeinsam.

TOP 1 / Traktandum 1 brachte uns aber schon ins Schwitzen. TOP 1 / Traktandum 1 hiess nämlich AUFGABEN UND FUNKTIONEN DER MILITÄRKOMMISSION. Um es kurz zu machen, niemand hatte den leisesten Schimmer, was unser Ausschuss überhaupt machte und machen sollte. Wehrgesetze? Waffengesetze? Kontrolle der Armee? Kontrolle der Waffen im Zeughaus? Oder mussten wir selber zur Waffe greifen und Schiessübungen machen?
Ich war so himmeldämlich, den Vorschlag zu machen, Armeechef Blattmann anzurufen und ihn zu fragen. Himmeldämlich deshalb, weil natürlich alle einverstanden waren und natürlich mir den Auftrag gaben, genau dies zu tun.

Nun sass ich also in meinem rot-lila-rosa Büro zwischen den blauen Fröschen und zitterte vor Angst. Denn eins war klar: Der Anruf konnte nur peinlich werden. Entweder war Blattmann nämlich mir unterstellt, dann würde die Frage, was ich zu tun hätte, meine Autorität wie einen Luftballon zum Platzen bringen, oder ich war wiederum ihm unterstellt, dann konnte er mich furchtbar zur Sau machen. Nach langem Zögern griff ich zum Telefon, wählte, es tutete und dann hörte ich einen so lauten Blattmann-Schrei, dass die rot-rosa-lila Tapeten von den Wänden fielen und die Frösche durch die Luft wirbelten.
Schweissgebadet wachte ich auf.

Die Deutung des Traumes liegt auf der Hand:
Jemand, der eingearbeitet ist, arbeitet besser als jemand, der nicht eingearbeitet ist. Oder anders formuliert: Wenn ein Parlament zu viele Newbies bekommt, fängt man in vielen Bereichen total von vorne an. Da haben sich ja auch Leute gefunden, über Parteigrenzen hinweg, die miteinander
 können, wo „die Chemie stimmt“. Da gibt es, wie Ständerätin Fetz (SP) so schön sagt, Bretter, für deren Bohrung man mehr Zeit als eine Legislaturperiode braucht.
Abgesehen davon, dass das Nicht-zurecht-finden am Anfang auch Zeit kostet.

Also, liebe Schweizer.
Wählt doch am 18.10. einfach alle, bei denen BISHER steht.
Panaschiert einfach alle, die schon Nationalrat waren, auf eine Liste. (Welche das ist, ist ja dann egal.)
Das ist nicht die blödeste Lösung.

Dienstag, 6. Oktober 2015

25 Jahre Fehl (zu-früh)-Entscheidung

Berta und Heinz Duppertz haben neulich ihre Silberhochzeit gefeiert. Und da es eben eine Silberhochzeit war, wurde auch nicht gespart, da hatte man das Nebenzimmer vom Schützen gemietet, da hatte man alle eingeladen, Kinder und Enkel und Geschwister und den ganzen Bekanntenkreis, die Leute aus dem Taubenzüchterverein und dem Kirchenchor. Zunächst gab es einen Sektempfang und dann ein Dreigang-Menü, aber was Anständiges, schliesslich weiss man ja, was die Verwandten und Vereinsleute und Chorsänger gerne essen, also nicht so Schnickschnack, nein, es gab erst eine Nudelsuppe, dann Braten mit Gemüse und Pommes und schliesslich einen Eisbecher. Um 21.00 kam dann eine Dreimannkapelle und es wurde getanzt, auf Oldies natürlich, versteht sich fast von selbst. Und alle, die dabei waren, fanden es ein wirklich gelungenes Fest. Nur ganz selten wurde getuschelt, dass die beiden ja eigentlich, also wenn man ehrlich ist, 25 Jahre Fehlentscheidung feierten, nein, Fehlentscheidung trifft’s nicht ganz, Zu-früh-Entscheidung wäre besser. Denn es musste vor 25 Jahren halt alles so schnell gehen, Berta schon schwanger und er noch in der Ausbildung, da hätte man vielleicht noch überlegen sollen. Und man hätte eventuell auch und man hätte, man hätte…

Aber HÄTTE bringt ja nix.

Urs Vögeli hat neulich seine 25jährige Zugehörigkeit zur VONTISAR AG mit einem Apéro begangen. Die ganze Abteilung war eingeladen und es gab einen guten Fendant und einen feinen Cremant, Schnittchen und Schinkengipfeli und Chäschüechli wurden serviert und man stand zwei Stunden zusammen und plauderte. Und auch hier flüsterten nur wenige, dass Urs ja eigentlich, ganz eigentlich 25 Jahre Unglücklichsein beging, denn er habe sich ja eigentlich bei der VONTISAR AG nie richtig wohlgefühlt. Der Eintritt vor 25 Jahren sei halt eine Fehlentscheidung, nein eine Zu-früh-Entscheidung gewesen, Urs hätte vielleicht nicht so schnell unterschreiben sollen, er hätte vielleicht doch das Angebot der ECHRO AG noch prüfen sollen, vielleicht auch nicht so schnell Wohneigentum erwerben, was ihn an eine gut bezahlte Stelle band, er hätte, er hätte…

Aber HÄTTE bringt ja nix.

Und so haben auch die Deutschen 25 Jahre Zusammensein gefeiert und auch hier war es ein schönes Fest, mit viel Musik und Tanz und Reden und Feuerwerk und Würstchenbuden, Gauck war da und Angie war da und alle waren fröhlich. Und auch hier tuschelten nur wenige, flüsterten, munkelten, brabbelten, dass man ja eigentlich 25 Jahre Fehlentscheidung feiere, nein Fehlentscheidung ist das falsche Wort, Zu-früh-Entscheidung, wenn es damals nicht so rasend schnell hätte gehen müssen – warum musste es eigentlich so schnell gehen? – dann hätte man eventuell doch einiges anders machen können…

Vielleicht hätte man McDoof und Schlecker nicht so schnell nach Sachsen und Thüringen lassen sollen, vielleicht hätte man doch nicht alle Nebenstrecken-Schienen der Eisenbahn rausreissen sollen, vielleicht hätte es doch eine neue Hymne und eine neue Flagge gebraucht, vielleicht hätte sich auch im Westen etwas ändern müssen, um richtig neu zu starten, vielleicht hätte man nicht nur die Stasi-Unterlagen sichtbar machen müssen, sondern auch die des Verfassungsschutzes? Vielleicht hätte man…
hätte man…
hätte man…

Aber HÄTTE bringt ja nix.

Berta und Heinz Duppertz haben 25 Jahre geschafft, trotz allem, und nun werden sie auch den Rest ihrer Tage zusammenbleiben. Man hat sich irgendwie zusammengerauft, und nun wird man auch nix Neues mehr anfangen, bis dass der Tod euch scheidet, sagt man doch so.

Urs Vögeli ist jetzt 55 und wird sich für die letzten zehn Jahre auch nix Neues mehr suchen, die Zeit bis zur Rente bringt er auch irgendwie rum. Die ECHRO sucht zwar gerade wieder händeringend Leute, aber wer sagt denn, dass es da wirklich besser ist?

Die Deutschen werden nun auch zusammenbleiben, man hat die 25 Jahre irgendwie hingekriegt, und nun fängt man auch keine Sperenzchen mehr an.

In diesem Sinne:
Glückwunsch, Berta und Heinz, zur Silberhochzeit!
Glückwunsch, Urs, zum Silberfirmeneintritt!
Glückwunsch, ihr Deutschen, zur Silberwende!

Weil:
HÄTTE bringt ja nix.

Freitag, 2. Oktober 2015

Das Sommerende macht mich sentimental und damit vernünftig

Ich habe am Sonntag mein Kästchen im Gartenbad St. Jakob geräumt, das heisst, ich habe Badehose, Schwimmbrille und Handtuch eingepackt, habe die leeren Tuben mit Duschgel, Haargel, Lotion und Sonnencreme (sie waren genau bis zum Saisonende leer), ich habe den Schlüssel abgegeben und mein Depot wieder zurückerhalten. Bevor ich allerdings mein Kästlein verliess, stand ich noch eine Minute davor, ich streichelte noch ein bisschen die Tür, die Stange, die Haken und die Wände und seufzte. Ich seufzte ob des Sommers, der nun wirklich SEHR GROSS war, ich seufzte ob der Winde, die jetzt losgelassen werden, ich seufzte ob des Herbstes, der ja immer ein wenig wie Sterben ist, ich seufzte ob der schwindenden Sonne und der schwindenden Wärme.

Hätten Sie nicht gedacht, dass ich so sentimental sein kann?
So sensibel, sensitiv, so gefühlvoll?
Dass mich die Dinge so angehen, so berühren?
Ja, manchmal bin ich sentimental, bin ich sensibel. Meine Güte, ich bin zwar Berufszyniker, aber auch Berufszyniker dürfen doch mal sensibel sein. Ich glaube, dass selbst Thomas Bernhard an gewissen Abenden, wenn es niemand sah, nur dann(!!), zwei Tränchen verdrückte und leise ob des Sonnenunterganges seufzte.

Sensibel  und sentimental kommen ja eigentlich von sensus und sentire. Das heisst, dass ein sensibler Mensch, ein sentimentaler Mensch zunächst einfach einer ist, der intensiv wahrnimmt, der Schall und Licht, Berührung und Geruch an sich heranlässt, der also – noch so ein heikles Wort sinnlich ist.
Im Englischen bedeutet sensible ja interessanterweise vernünftig.
Und ich behaupte jetzt mal ganz frech, dass ein sensibler, ein sinnlicher Mensch auch vernünftig handelt.

Ich habe nichts gegen Blinde, mir ist aber doch wohler, wenn der Chauffeur der Linie 14 oder 8 oder 6 NICHT blind ist. Mir ist einfach wohler, wenn ich weiss, dass dieser, sollte ein Kind, ein Velo, ein Auto oder ein kleiner Elefant auf den Schienen sein, Kind, Elefant, Auto und Velo sinnlich erfassen kann und entsprechend bremsen; und damit auch Velo, Kind , Dickhäuter und Motorfahrzeug retten.

Ich habe nichts gegen Schwerhörige, mir ist aber doch wohler, wenn sich im Cockpit der Boeing 70 auf dem Flug KLM 7865 nicht folgender Dialog entspinnt:
-Boeing 70, hier Tower, sofort 500 Meter tiefer!
-Tschuldi, aber ich höre nicht mehr so gut, wie war das?
-500 Meter runter, SOFORT!
-Sorry, ich hör echt nicht mehr gut, war das rauf oder runter? Und 400 oder 500?

Ende des Dialogs, Ende des Piloten, des Fluges und auch mein Ende. Solche Befehle müssen nämlich sofort befolgt werden (ohne Nachfragen), weil es bedeutet, dass eine Maschine im Luftraum ist, die irgendwie spinnt und der man zunächst einfach den Weg freischaufelt.

Die Sinne und damit die Vernunft kommen uns immer mehr abhanden. ich habe einen Schüler, der in Aeschi (SO) wohnt und bei mir in Solothurn in die Schule geht. Als ich ihm sagte, dass wir am Nachmittag nach Subingen (SO) zum Fussballspielen gingen, war er erst einmal völlig verwirrt und ärgerlich: Wie er denn da fahren müsse und wohin er fahren solle und wie das alles ginge? Ich erklärte ihm, dass er im gleichen Bus fahren solle und einfach FRÜHER AUSSTEIGEN. Er wohnt seit einem halben Jahr in Aeschi und hatte noch nicht bemerkt, dass die Buslinie 5 von Aeschi  nach Solothurn DURCH SUBINGEN fährt! Die Ohren zugestöpselt, die Augen starr auf den Smartphone-Bildschirm geheftet, hatte er von Orten und Landschaft nichts mitbekommen.

Wir sehen nur noch die Bilder, die eigentlich nicht vor unseren Augen sind, wir nehmen die Geräusche um uns nicht mehr war.
Wir schmecken nichts mehr, weil wir unsere Knospen mit diesem blauen, grünen oder roten Matsch, der in Schwimmbädern und auf Jahrmärkten verkauft wird, verdorben haben. (Mir wird da immer schon beim Angucken schlecht.)
Wir riechen nichts mehr, weil nichts mehr riechen darf. Wohnungen dürfen nicht riechen, Kleidung darf nicht riechen, Menschen dürfen nicht riechen (ich meine nicht stinken). Letzteres kommt aus Amerika, in Arizona und Texas duschen die Leute bis zu 4mal am Tag, um ja nicht den leisesten Körpergeruch zu haben.
Wir fühlen nichts mehr, weil wir Buchseiten durch E-Book-Pages und Spielkarten durch Online-Symbole ersetzt haben.

Heute habe ich meinen Balkon geräumt, die Pflanzen kamen alle nach drinnen, auch das Regal, damit ich innen Platz für die Pflanzen habe. Mein Balkon ist jetzt leer und öde. Bevor ich allerdings meinen Balkon verliess, stand ich noch eine Minute darauf, ich streichelte noch ein bisschen die Tür, das Geländer, den Boden und die Wände und seufzte. Ich seufzte, ob des Sommers, der nun wirklich SEHR GROSS war, ich seufzte, ob der Winde, die jetzt losgelassen werden, ich seufzte ob des Herbstes, der ja immer ein wenig wie Sterben ist, ich seufzte ob der schwindenden Sonne und der schwindenden Wärme.

Hätten Sie nicht gedacht, dass ich so sentimental, so sensibel, so gefühlvoll und sinnlich bin?

Ich bin halt ein vernünftiger Mensch.