Freitag, 28. Juli 2017

England 1: Ich fahre Erste Klasse - Nicht wissen ist besser



Ja, ich war wieder in England und ja, ich war wieder in Nottingham. Mir hat es da letztes Jahr gefallen und die Robin Hood-Stadt bietet einen idealen Ausgangspunkt für Touren in die East Midlands. Und wie so oft werde ich keinen Reisebericht schreiben, verweise wie immer auf die gängigen Reiseführer, Marco Polo oder DuMont, verweise auf die Internetseiten von Nottinghamshire, Derbyshire oder Lincolnshire, verweise also auf Leute und Schreiber, die mehr wissen und bessere Tipps geben, nein, ich nehme Begebenheiten und Streiflichter zum Anlass, über das Menschlich-Allzumenschliche nachzudenken. 

Ich bin dieses Mal nicht geflogen, sondern mit dem Zug gefahren. Das geht eigentlich ganz hurtig und ist ein lustiges Abenteuer. (Für die Unkundigen: Basel-Paris Gare de Lyon mit dem TGV Lyria / Bahnhofwechsel zum Gare du Nord / vom Gare du Nord mit dem EUROSTAR® durch den Kanaltunnel nach London St. Pancras / von genau diesem Bahnhof nach Nottingham Central.) Kleine Schwierigkeit war, dass man mir in Basel kein Ticket ab London verkaufen konnte und eine Onlinebestellung irgendwie auch nicht klappte, Kaspersky hielt die Homepage der East Midlands Railway anscheinend für eine gefährliche Sache aus dem Mittleren Osten. Ich brauchte also ab St. Pancras eine Fahrkarte. Was kein Problem sein sollte, es gibt genügend Automaten, also hurtig zur Ticketmaschine und los ging’s:
Die Oberfläche bot diverse Destinationen in England, Nottingham war nicht dabei, aber es geht auch via Eingabe A-Z, war das geschehen, zeigte sich mir die folgende Auswahl:
EAST MIDLAND TRAINS ONLY
ANY PERMITTED
Wissend wie ich bin, wählte ich natürlich das Erste, denn in die Region um Nottingham fährt nur die besagte Gesellschaft. Nun kam ich auf die nächste Oberfläche
PEAK OFF-RETURN
RETURN ANY DAY
SINGLE
Da ich nicht am gleichen Tag zurückwollte, aber auch schon beide Tickets haben, wählte ich selbstverständlich die zweite Variante und landete bei
RETURN 1st Class 111.-
Das wollte ich natürlich nicht, ich drückte aber mal drauf und bekam jetzt eine Übersicht über alle Angaben, hinter jeder ein Button CHANGE. So, und jetzt kommt’s: Wenn man dieses CHANGE bediente, wurde man ganz an den Anfang zurückgeworfen; gehen Sie zum Start zurück, gehen Sie nicht über LOS, ziehen Sie keine 4000.- ein. Ich versuchte das Ganze noch dreimal, schielte stets zum Schalter, wo eine Schlange von 50 Leuten war, schielte auf die Uhr, mein Zug ging in 15 Minuten und – kaufte ein Erste Klasse-Ticket. Und fuhr First Class an den Trent.

In Nottingham hatte ich am nächsten Tag Zeit, das Ganze noch einmal durchzuspielen. Die Lösung war, wie viele Lösungen, denkbar einfach: Wenn man auf ANY PERMITTED ging, bekam man ein Billett der Zweiten Klasse von Nottingham nach London (und natürlich auch retour). Ganz klar ein Fehler im System, ein Fehler aber, und jetzt wird es spannend, den nur den oder die trifft, der oder die weiss, dass Nottinghamshire von den East Midland Trains bedient wird. Alle Unkundigen, Unwissenden, alle Neulinge und Greenhörner sparen 50 Pfund.
Wissen ist also manchmal blöd.

Ja, manchmal ist es richtig falsch, von einer Sache eine Ahnung zu haben. Manchmal steht einem eine Orts- oder Sachkenntnis, eine zu viel gespeicherte Information richtig im Wege.
Wenn zum Beispiel ein Basler am Bahnhof von der Tramstation in die Bahnhofshalle spurtet, verarbeitet sein Hirn blitzschnell die Tramlinien, die Kurse, die diese fahren, die Gleise, die gleich belegt sein werden, er spurtet los und wird von einem 2er überfahren, der wegen Bauarbeiten in Binningen nicht nach rechts Richtung Markthalle, sondern nach links Richtung Peter Merian abbiegt. Dem Ortsunkundigen, dem Nicht-ÖV-Fahrer, der Touristin und dem Touristen wird das nicht passieren. Wissen kann also richtig (s.v.v.) scheisse sein, ja sogar lebensgefährlich. 

Das Phänomen «Wissen hindert» ist sogar schon wissenschaftlich untersucht worden. Rolf Dobelli berichtet darüber in seinem wunderbaren Buch über Denkfehler. Man legte deutschen und amerikanischen Studenten Fragen vor wie z.B.
Wo hat es mehr Kinos?
a)      Chicago
b)      St. Paul
Nun lagen die deutschen Studenten fast immer richtig, sie nahmen einfach die Stadt, die sie kannten; St. Paul, die Hauptstadt des Bundesstaates Minnesota, die zusammen mit Minneapolis die Twin Cities bildet, kennen nur die Cohn Brothers-Fans aus dem Film Fargo. Die Amis aber kennen natürlich beide, und sie kommen nun ins Grübeln: Hat vielleicht doch das kleinere St. Paul mehr Lichtspieltheater? Was soll man sonst in dieser trüben Gegend auch machen? Ein eklatanter Teil der Befragten gibt eine falsche Antwort.

Wissen kann also manchmal richtig hinderlich sein.

Also vergessen Sie ganz schnell alles, was Sie eben gelesen haben, die Verbindung Basel – England, die East Midland Trains, vergessen Sie, wo der Zweier fährt und die Twin Cities. Und vergessen Sie noch schneller den Namen Dobelli.
Sie wollen doch am Leben bleiben.
Und kein Geld verlieren.



Dienstag, 25. Juli 2017

dOCUMENTA 14 - Kunst ist, was für Kunst erklärt wird



«Kann ich da nicht auch irgendwie was machen?» fragt mich Nick, mein Schüler und dreht wie wild seinen Fidget Spinner. «Wo was machen?» «Na, auf diesem Kunst-Dings in Berlin, wo Sie hingehen.» «Das Ding heisst dOCUMENTA und ist in Kassel.» «Wo ist denn Kassel und warum in Kassel?» Ich seufze hörbar, der Spinner wandert auf die Nase. Nick hat ADHS, wenn Sie das noch nicht gemerkt haben. «Also», beginne ich nochmal, «Kassel ist in Nordhessen auf dem halben Weg von Frankfurt nach Berlin, die Ausstellung hat sich halt da entwickelt und etabliert, und um auf deine erste Frage zurückzukommen: Was willst du denn dort machen?» «Na, irgendwie rumtoben.» Der Fidget Spinner fällt auf den Boden. Rumtoben wäre kein Problem, das kann er. «Zur dOCUMENTA wird man eingeladen», doziere ich, «wenn du also jemand findest, der deine Spinnereien für Kunst hält, für Kunst erklärt, wenn du dann eingeladen wirst zu so einer Ausstellung, dann bist du Künstler und alle finden dich toll. Aber das wird nicht passieren.»
An diesen Dialog muss ich denken, als ich vor dann in Kassel vor einem Video stehe. Ein Mann im Anzug wirft sich darauf mit aller Heftigkeit gegen eine schwarze Wand, bei jedem Aufprall gibt er ein «Hmpf», «Boohhh», «Urps» oder «Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa» von sich. Der Mann scheint auch ein schwerer Fall von ADHSler zu sein, denke ich, und ich denke auch: Das hätte Nick besser hingekriegt, irgendwie cooler, und er hätte sicher bei jedem Bums ein Schimpfwort losgelassen, z.B. «ficken», was der gesamten Performance noch eine wüste, subversive Note gegeben hätte.

Kunst ist also Kunst, wenn sie als Kunst deklariert wird. Oder anders formuliert: Ist das Kunst oder kann das weg? Kunst ist, wenn jemand einen rosaroten Teppich auslegt. Oder wenn jemand sämtliche Fotos, Notizen, alle Terminbögen und Fresszettel einer Theaterproduktion in eine Vitrine legt, Kunst ist, wenn jemand ein Video von Orthodoxen Gesängen zeigt. Kunst ist, wenn jemand 100 kleine Fotos in eine Reihe hängt, oder 50 Blumentöpfe aufstellt. (Alle Beispiele auf der dOCUMENTA 2017 zu sehen.) Nun hat es auf jeder solchen Veranstaltung Dinge, die diesen Na-ja-Effekt haben, auf der diesjährigen Kasseler Ausstellung häufen sich allerdings Sachen mit einer gewissen Beliebigkeit.

Wie aber kann das sein?
Machen wir doch einmal das folgende Gedankenexperiment:
Ich schare für diesen Herbst 15 Musiker um mich und lade am 14. 10. 2017 zu einer musikalischen Performance ein. Die Aufführung beginnt mit 5 Minuten Schweigen, dann spielen alle 10 Minuten und 23 Sekunden (exakt einzuhalten), was sie wollen, d.h. der E-Pianist klimpert die Sonata facile, während die Violinistin sich an Piazzolla versucht, der Trompeter spielt das «Trumpet Voluntary», während die Saxofonistin ein wenig «Take Five» intoniert. Danach wieder 4 Minuten Schweigen. Darauf erklingt 7 Minuten und 35 Sekunden (exakt einzuhalten) der Ton d’. Wieder Schweigen, 6 Minuten, zum Schluss der Schweizer Psalm, aber so aufgeteilt, dass jedes Instrument genau einen einzelnen Ton spielt, immer im Kreis.
Ziemlicher Schwachsinn, aber weil ich in Musikerkreisen ja auch nicht ganz unbekannt bin, werden die Leute kommen, sie werden nicht davonlaufen und sie werden einen Sinn, eine Idee, sie werden eine Philosophie oder Konzeption dahinter suchen. Wäre es IRGENDJEMAND, der das macht, würden alle Besucherinnen und Besucher beim Arrangeur Schwachsinn, Trunkenheit oder Drogensucht konstatieren, aber kann der dann gerade zurückgetretene Leiter der KKB völlig danebenliegen, kann es sein, dass er besoffen oder dement ist? Wenn der Kerl also anerkannter Musiker ist, dann ist das auch irgendwie Musik.
Unser ganzes Leben läuft übrigens so; wir gehen zum Bäcker und kaufen Brot, weil es ja ein Bäcker ist, muss er ja sicher Brot machen, er kann uns aber ein Teil verkaufen, das den Ehrentitel Brot gar nicht mehr verdient, es wird zum Brot, weil es ein Bäcker – der ja per definitionem Brothersteller ist – verkauft. Wir holen einen anerkannten Unternehmensberater, der uns den Ratschlag gibt, unsere Firma müsse, wolle sie nicht Pleite gehen, mehr Waren verkaufen, einen Ratschlag, für den wir jeden Normalo zum Teufel jagen würden, aber weil es ja ein Unternehmensberater…

Sehen Sie:
So funktioniert das auch mit der dOCUMENTA.
Anerkannte Künstler werden gefragt, und wenn das, was sie machen auch noch so idiotisch ist, es ist Kunst, weil es Künstler sind. Sagen Sie also nie: «Das könnte ich auch», es wäre, weil sie nicht Künstler sind, keine Kunst. Wenn Sie einen rosaroten Teppich auslegen, wenn Sie sämtliche Fotos, Notizen, alle Terminbögen und Fresszettel einer Theaterproduktion in eine Vitrine legen, wenn Sie ein Video von Orthodoxen Gesängen zeigen, wenn Sie 100 kleine Fotos in eine Reihe hängen oder 50 Blumentöpfe aufstellen, es wäre keine Kunst.

Ein Highlight gab es übrigens: Als wir um ca. 13.30 ins Fredericianum wollten, stand eine Frau mit dOCUMENTA-Badge davor und teilte uns mit, dass wegen Überfüllung zurzeit ein Einlassstopp verhängt sei. Grossartige Performance! Da eines der Themen ja gerade Migration und Flucht war, wurde hier super demonstriert, wie es ist, wenn man nicht hineinkann, wenn man wartet, wenn man aussen vor, nicht drinnen, wenn man in der Warteschlange, wenn man unwillkommen ist. Meine Freunde sagten zwar, das sei echt gewesen, also gar keine Kunst, sondern ein echter organisatorischer Einlassstopp und die junge Dame auch einfach eine studentische Aushilfe, aber ich kann mir das nicht vorstellen. 



  

Donnerstag, 20. Juli 2017

Ich habe auch keinen Ghostwriter



Wir haben neulich besprochen, dass ich keine Look-a-likes beschäftige.
Nun ist die Frage aufgetaucht, ob alle meine Posts von mir stammen. Die Leute, die man hier einsetzt, heissen allerdings nicht Look-a-likes, sondern Ghostwriter. Und auch hier kann ich Ihnen versichern, ich beschäftige keine solchen Leute.

Und das nicht aus finanziellen Gründen, sondern aus germanistischen.

Der normale Ghostwriter liefert einen solchen Mist, ein solchen (s.v.v.) Scheissdreck ab, dass der Teufel einen Kopfstand macht, dass Cerberus den Schwanz einzieht und Hella zum Friseur rennt, weil selbst für ihre Verhältnisse die Haare zu sehr vom Kopfe stehen. Dies liegt nicht daran, dass Ghostwriter nicht schreiben könnten, dass sie schlechte Texter wären, dies liegt an der Dummheit ihrer Klientel, den Popsängern, Filmschauspielern, It-Personen, den Fussballern und Rennfahrern, an der Dummheit derer, die sich beghostwriten lassen. Ich muss natürlich hier mein Pauschalurteil ein wenig revidieren, es gibt durchaus Intelligenz in den genannten Berufen, ein Bruno Ganz kann jetzt wirklich nicht als doof bezeichnet werden, eine Franka Potente schreibt selber – und nicht einmal schlecht – und einen Profifussballer durfte ich selber zwei Jahre in meiner Klasse unterrichten, dumm war der auf jeden Fall nicht. Aber das Gros derer, die nicht in der Lage sind, ihre eigene Biografie zu verfassen, ist eben doch so dämlich, dass sie einen Ghostwriter schon für einen zweiten Goethe, einen zweiten Mann oder einen zweiten Grass halten, wenn ihnen ihr Leben in ganzen, korrekten und einigermassen flüssigen Sätzen entgegenlacht.
Warum sollte sich dann ein Geistschreiber mehr Mühe geben? Wenn man mit einem Text, der die haltlose Begeisterung des oder der Beschriebenen hervorruft und drei Tage gekostet hat, eine Menge Kohle verdienen kann, warum sollte man da 7 Tage dransetzen?

Eine andere Sache ist Dummheit derer, die solche Biografien lesen. Man stelle sich vor, der Schriftsteller Harmin Gundel begünne (sic) die Lebensbeschreibung des Popstars Didi Popel folgendermassen:

Gemütlich, klein und an die wilden Berge angeschmiegt war Durchheim, jenes Dorf, jener Weiler, in dem Didi am 3. März 1947 als drittes von drei Kindern des Dorfschullehrers das erblickte, was die Menschheit in ihrer Begeisterung als «Licht der Welt» zu nennen pflegt, was allerdings in der Engen Tallage Durchheims durchaus eine Mangelware war.

Versteht keine Sau.
Versteht zumindest kein Fan von Popel.
Ein Anhänger eines Sängers, dessen Refrains nach dem Muster

Komm mit mir / auf die Reise
Komm mit mir / Wind weht leise
Sonne scheint / Regen fällt
Wir sind alleine auf der Welt

gestrickt sind, wären mit so einem Buchanfang heillos, restlos, fundamental und absolut überfordert.
Und diejenigen, die den obigen Beginn interessant finden, sind auf keinen Fall Popelfans.  

Ich würde jeden, der für mich Texte schriebe, zur absoluten Verzweiflung treiben.
Ich würde verlangen, dass meine Ghostwriter etwas tun, was sie seit Jahren nicht getan haben: Überlegen.
Nachdenken.
Hirnen.
Könnte man hier nicht die beiden Sätze verbinden? Würde ich sie fragen.
Könnte man hier nicht ein Synonym verwenden?
Wäre hier nicht die Alliteration «alte Altäre» ganz hübsch?
Könnte man hier nicht ein Pronomen setzen?

Ich würde mit ihnen Satz für Satz durchgehen, würde Verbesserungen fordern, Vorschläge machen, ich würde sie eben nicht für Goethe, Mann oder Grass halten, nur weil sie einen fehlerfreien Satz schaffen, ich würde sie darauf hinweisen, dass meine Leserschaft eben nicht aus Popelfans besteht, ich würde sie zwingen, so zu schreiben, wie sie seit Jahren nicht schreiben dürfen. Ich würde sie so sehr nerven, bis mir das Tablet an den Kopf flöge, gepaart mit dem Ruf:

«Schreib deine Scheissposts doch selber!»

Was ich ja auch mache.