Dienstag, 28. November 2023

Weihnachtsbrief an die reichsten Deutschen

Lieber Dieter, lieber Klaus-Michael, lieber Reinhold, lieber Stefan und liebe Susanne, lieber Theo und lieber Karl, liebe Beate, lieber Andreas.

Weihnachten steht vor der Tür.
Weihnachten, das Fest der Liebe und der Freude. Das Fest des Schenkens und der guten Taten. Eine Zeit, an der wir nicht nur an uns selber denken sollten, sondern auch an unsere Mitmenschen.

Lieber Dieter, lieber Klaus-Michael, lieber Reinhold, lieber Stefan und liebe Susanne, lieber Theo und lieber Karl, liebe Beate, lieber Andreas,
2021 haben wir euch das Dorf Sao Stefano im Regenwald ans Herz gelegt, das eine Schule, eine Wasserversorgung, eine Strasse, ein Spital und ein Stromnetz brauchte. Und ihr wart so grosszügig, unglaubliche 3 Millionen zusammenzulegen, damit eine Schule, eine Wasserversorgung, eine Strasse, ein Spital und ein Stromnetz schnell gebaut werden konnten. Vielen Dank nochmal dafür.
2022 haben wir euch mit mehreren Projekten des Naturschutzes vertraut gemacht: Das Kenianische Baumkänguru, der Tibetische Schlappschwanztiger und die Argentinische Halbmaus waren zu retten. Und auch hier waren es eure 4 Millionen, die dem Kenianischen Baumkänguru, dem Tibetischen Schlappschwanztiger und der Argentinischen Halbmaus die Lebensräume retteten.
Vielen Dank nochmals!

Lieber Dieter, lieber Klaus-Michael, lieber Reinhold, lieber Stefan und liebe Susanne, lieber Theo und lieber Karl, liebe Beate, lieber Andreas,
Weihnachten steht vor der Tür.
Weihnachten, das Fest der Liebe und der Freude. Das Fest des Schenkens und der guten Taten. Eine Zeit, an der wir nicht nur an uns selber denken sollten, sondern auch an unsere Mitmenschen.

Und in dieser Weihnachtszeit 2023 appelliere ich noch einmal an eure Nächstenliebe.
Es geht um drei Männer, die in extreme Schwierigkeiten geraten sind. Es geht um Robert, Olaf und Christian. Allerdings geht es um…ähm…ähm…ein wenig mehr Geld.
Es geht um 60.
Nein, nein, nein.
Nicht um 60 Millionen.
Es geht um 60 Milliarden.

Ja, ja, ich weiss, die drei Herren, die drei Jungs, die drei Männer sind nicht ganz unschuldig dran. Man kann nicht einfach Geld umbuchen, nicht einfach Summen umwerten, ihr als Finanzgenies wisst das ganz genau.
Aber die drei Buben sind auch mit tollen, aber unlösbaren Zielen angetreten: Digitalisierung, Ausbau der Infrastruktur, Ökologischer Wandel und Wohlstand für alle. Und dann aber Digitalisierung, Ausbau der Infrastruktur, Ökologischer Wandel und Wohlstand für alle ohne Steuererhöhung. Und Digitalisierung, Ausbau der Infrastruktur, Ökologischer Wandel und Wohlstand für alle mit Einhaltung der Schuldenbremse. Also ohne neue Staatsschulden. Das konnte ja nicht gehen.
Ja.
Und nun fehlen 60 Milliarden. Und man weiss nicht, wo dir herkommen sollen.

Es gab einen Vorschlag, die Schweizer um Hilfe zu bitten. Aber aus Bern kam sofort ein Angebot, 1 Billion, 500 Milliarden für den Staat und 500 Milliarden verteilt auf alle Familien, aber dafür hätten sie den ganzen Staat übernommen. Musste man ablehnen, wie weiland der Bürgermeister von Güllen das Angebot der Claire Zachanassian.
Es gab den Vorschlag von Herrn Schubert (der ja auch ein Olaf ist…) in der «Heute Show» Sachsen-Anhalt zu verkaufen. Super Idee, aber mit einem Haken: Niemand will Sachsen-Anhalt.
Und jetzt ist man am Streichen, und zwar immer bei den Ärmsten: Kindergeld, Sozialsicherung, Zuschuss fürs Heizen usw., usw.

Lieber Dieter, lieber Klaus-Michael, lieber Reinhold, lieber Stefan und liebe Susanne, lieber Theo und lieber Karl, liebe Beate, lieber Andreas.

Weihnachten steht vor der Tür.
Weihnachten, das Fest der Liebe und der Freude. Das Fest des Schenkens und der guten Taten. Eine Zeit, an der wir nicht nur an uns selber denken sollten, sondern auch an unsere Mitmenschen.

Und nun, öffnet eure Geldbeutel und spendet die 60 Milliarden. Als Zeichen der Nächstenliebe. Und weil ihr ja auch ganz schön gespart habt: 1997 wurde die Vermögensteuer ausgesetzt. Bei einem Steuersatz von 1% und eurem Gesamtvermögen von über 200 Milliarden kommen wir ja auf 50 Milliarden Euro. Da könnte doch was gehen.

Lieber Dieter, lieber Klaus-Michael, lieber Reinhold, lieber Stefan und liebe Susanne, lieber Theo und lieber Karl, liebe Beate, lieber Andreas.
Ich wünsche euch eine schöne Adventszeit, fröhliche Weihnachten und ein gutes Neues Jahr.





 

 

 

 

 

 

Freitag, 24. November 2023

Der Loriot-Text (ein Tagebuch)

Freitag, den 17. November 2023

Ein Leser hat mich gebeten, etwas über Loriot – der dieses Jahr ja immerhin seinen 100sten gefeiert hätte – zu schreiben. Nichts leichter als das. Ich habe ja auch etwas Schönes zu seinem Tod geschrieben. Auf den Tag genau vor 12 Jahren liess ich ihn auf «Wolke 317» mit Georg Kreisler und Franz-Josef Degenhardt zusammentreffen.
Morgen gehe ich an die Arbeit.

Samstag, den 18. November 2023

Wollte den Tag mit einem schönen Frühstück beginnen, und dies als Motivation und Anschub für meinen Loriot-Post nehmen. Aber schon Ärger am Morgen: Das Ei war hart! Obwohl es – laut meines Partners dreieinhalb Minuten gekocht hatte, dreieinhalb Minuten nach Gefühl – war es hart. Habe mich so geärgert, dass ich nichts schreiben konnte.

Sonntag, den 19. November 2023

Konnte mich nicht konzentrieren, weil meine Nachbarin laut für ihre Ausbildung übte. Sie macht an einer privaten Akademie ein Jodel-Diplom.

«Hollara di dudl dö.
Hollara di dudel di.
Dudl, dudl, dudel dö
Hollari di didl du.
Di düdl di.»

Wie soll ein normaler Mensch sich da konzentrieren?

Montag, den 20. November 2023

Nun wollte ich aber endlich drangehen! Aber es kommt immer anders. Ich sitze am Schreibtisch, es klingelt. Draussen steht ein Wein-Vertreter, und vielleicht, so denke ich ist eine Oberföhringer Vogelspinne eine gute Inspiration, also probiert, und schon bei der Hälfte der Flasche klingelt es wieder: Ein Vertreter für Staubsauger-Föhn-Kombinationen, der mittrinken und sein Gerät «Heinzelmann» vorführen durfte. Als dann noch ein Versicherungsagent zu unserer Runde stiess, wurden noch Hupfheimer Jungferngärtchen, der Klöbener Krötenpfuhl und eine Spätlese vom Bremer Roten Kreuz kredenzt.
Danach war ich so betrunken, dass an Schreiben nicht zu denken war.

Dienstag, der 21. November 2023

Ich hatte angefangen!
Eine entzückende kleine Geschichte, bei der Loriot und Evelyn eine Tournee durch die deutsche Provinz machen und in Städten mit lustigem Namen gastieren. Aber in Tahlschfrö…, in Thelasch..., Thalesch…, Thesch…, Frösch…, Thaleischweiler-Fröschen verhakte ich mich schon total und konnte nicht weiter.

Mittwoch, den 22. November

Wollte heute zur Entspannung ein Bad nehmen und dann erholt und erfrischt beginnen. Aber im Badezimmer habe ich mich wieder nur aufgeregt.
Die Ente! Die Gummiente! Sie grinste mich wieder aus dem Wasser an. Und das, obwohl ein grosses Schild steht:

DIE ENTE BLEIBT DRAUSSEN

Zwei Valium zum Herunterkommen. Schreiben undenkbar.

Donnerstag, den 23. November

Auch heute machte der Lärm im Haus ein konzentriertes Schreiben unmöglich. Nicht nur dass die Nachbarn über mir ein Klavier geliefert bekamen, nein, der grenzdebile Vater hatte noch die oberschwachsinnige Idee, das Ereignis zu filmen, sodass das Instrument zig Male in die Wohnung geschleppt wurde. Und immer riefen alle: «Ein Klavier! Ein Klavier!»

Freitag, den 24. November 2023

Ich habe nichts hinbekommen.
Ich werde dieses Tagebuch veröffentlichen.
Obwohl der Text weiss Gott nichts mit Loriot zu tun hat.

Ich entschuldige mich dafür.



















 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dienstag, 21. November 2023

Die weinende Aussenministerin

Es gibt echte und falsche Tränen.

Echte Tränen weinen wir alle, wir weinen, wenn uns der Mensch neben uns im Bus auf den Fuss tritt, wenn ein Organ schmerzt, wenn der Doktor uns piekt, wir weinen aber auch, wenn das Leben es schlecht mit uns meint, wenn wir Unglück und Schmach erfahren, wenn uns die Liebe entzogen wird und wir verlassen werden. Und das obwohl die Zarah sang:

Nur nicht aus Liebe weinen
Es gibt im Leben nicht nur den einen…

Aber manchmal hält man es aber mit Rosenstolz

Kein Make-up, verletzte Seele
Lass den Tränen freien lauf
Brauch den Arm, der mich jetzt festhält
Bitte fang mich wieder auf…

Unechte Tränen weinen wir, wenn chemische Substanzen unsere Netzhaut und unsere Augen reizen. Das klassische Beispiel ist hier das Zwiebelschneiden, die Zellwand der Zwiebel enthält die schwefelhaltige Aminosäure Iso-Alliin. Beim Schneiden wird das Enzym freigesetzt und kommt so in Kontakt mit der Aminosäure, das Ergebnis: Das reizende Gas Propanthial-S-oxid entsteht. Sobald es verdunstet und die Gase in unsere Augen gelangen, fangen sie an zu tränen.
Genauso werden die Augen gereizt, wenn Sie sich auf Demos begeben und da Stunk machen: Das heisst ja nicht umsonst «Tränengas».
Schauspielerinnen und Schauspieler, die weinen müssen, tun etwas Ähnliches: Sie verwenden keine Zwiebeln, aber Glyzerin.

Nun gibt es aber auch die halbechten Tränen. Halbechte Tränen sind Tränen, die man produziert, aber ohne chemische Substanzen. Die Fähigkeit, einfach auf Befehl loszuheulen, loszuflennen, die Zähren fliessen zu lassen, das ist eine Sache, die nur wenigen Menschen vorbehalten ist.
Aber eine praktische Sache.
Wenn Sie weinen, dann sind Sie das Opfer, dann haben Sie recht.
Wenn Sie heulen, dann bilden Sie wie einen Kokon der Schutzbedürftigkeit um sich.
Wenn Sie flennen, wird man sie weiter nicht behelligen.
Wenn Sie greinen, sind Sie König.

Meine Oma (nicht die Berliner!) konnte das, als sie, zum ersten Mal in ihrem Leben fliegend, und dann gleich von Stuttgart nach Miami, am JFK umsteigen musste, war sie natürlich vollständig überfordert. Sie stellte sich dann einfach irgendwo hin und weinte. Lange und hemmungslos. Und es kam ein Offizier der US-Luftwaffe, der die «old German Lady» einfach unterm Arm zum richtigen Gate bugsierte…

Eine Meisterin des Weinen-Könnens war Margarethe Schreinemakers. Die Talkerin liess so mitfühlend, so empathisch, sie liess so emotional und therapeutisch ihre Zähren rinnen, dass die Menschen, die bei ihr sassen, vergassen, wo sie waren. Sie wähnten sich in einer mitfühlenden, empathischen, therapeutischen Zweierrunde und waren doch für 4000000 Leute sichtbar. Sie erzählten alles, und erst viel später merkten sie den Betrug.
Dies war so unverschämt und impertinent, dass sogar das Magazin «Psychologie Heute» sich der Sache annahm und darüber berichtete – und warnte!
Und der Witz ging um:
Was heisst «Margarethe Schreinemakers» auf Schwedisch?
«Flenne-Henne»

Natürlich hat auch Meister-Talkerin Oprah Winfrey die Mit-Heulerei in ihrem Programm, aber dezenter. Sie kann schlicht und einfach alle Gefühle auf Knopfdruck abrufen und ist deshalb wohl die begehrteste Talkerin der USA. (Und wahrscheinlich auch die reichste…)

Neu im Stall der Flenne-Hennen (bitte die Sonanten «l» und «n» sehr lange aussprechen, dann klingt es so schön schwedisch: Fllllllllllennnnnnnnnnnne Hennnnnnnnnnnnnne) ist Annalena Baerbock. Die deutsche Aussenministerin faket ihre Gefühle nicht, aber sie ist in der beneidenswerten Lage, zum passenden Gefühl die passenden Tränen abrufen zu können. Und insofern sind ihre Zähren halt auch nur halbecht und nicht echt:
Baerbock steht an Yad Vashem und ihre Augen gehen über.
Baerbock steht in Kiew und die Tränen fliessen.
Baerbock denkt an hungernde Kinder und heult.
Baerbock redet über die Not der Welt und in ihren Augen glitzert es. 
Und all das wird ihr als «emotionale Politik», ja gar als «authentische Politik» ausgelegt. Merkt denn niemand, dass sie quasi betrügt?
Also quasi.
Wirklicher Betrug wäre es, wenn sie Glycerin oder Zwiebeln benutzen würde, das macht sie nicht.

So.
Genug für heute.
Ich gehe ein wenig Weinen üben, wer weiss, wann man das noch braucht.

P.S. Die Stuttgarter Oma war die Schwiegertochter der Bauersfrau.

P.P.S. Natürlich muss man auch die Songs von der Leander mit gelängten Sonanten singen: Nnnnnnnnnurrrrrrrrrr nnnnnnnnicht aus Llllllllllllliebe weinnnnnnnnnnnnnnennnnnnnnn



 

Freitag, 17. November 2023

Gab es früher schon Telefon?

Mein Erzengel schreibt mir nach dem Post «Kuppeln»:

Nach der Telephonnummer fragen? Vor 100 Jahren? Unwahrscheinlich.
Es ist nicht Aufgabe des Glossisten mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit (eikos) oder Notwendigkeit (anankaion) Mögliche.

Ich antworte:

Doch, doch, doch.
Das war Berlin Mitte.
Natürlich mit Fräulein vom Amt.

Mein Erzengel schreibt:

Aha.

Und ich ergänze:

Also mütterlicherseits
Meine Urgrossmutter väterlicherseits (schwäbische Alb) hat glaube ich nie ein Telefon in der Hand gehabt.

Und ich komme ob all dieser Diskussion ein wenig ins Nachdenken. Ob meiner Urgrossmütter.

Anfang des 20. Jahrhunderts sassen meine vier Urgrossmütter in Berlin, in Danzig, in Stuttgart und in Ostdorf (damals selbstständig, heute Teil von Balingen). Vor allem die Mutter der Mutter meiner Mutter und die Mutter des Vaters meines Vaters befanden sich in Situationen, die extrem unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Clara Gerste, die Berliner Uroma pflegte als Postbeamtenfrau eine kleine Wohnung im Wedding und schaute den Fortschritten ihrer (einzigen) Tochter beim Klavier- und Tennisspielen zu. Kleiner Exkurs: Der Wedding war natürlich kein Beamtenquartier, kein besseres Viertel, keine Gegend, in der Töchter Klavier und Tennis lernten, der Wedding war ein «schlechtes» Viertel, ein Arbeiterbezirk, ein Bezirk, in dem am 1. Mai die Steine flogen; aber mein Urgrossvater hatte nun eben da sein Postamt und seine Dienstwohnung – meiner Oma war das immer peinlich und sie gab als Geburts- und Wohnstätte immer «Gesundbrunnen» an (das war ganz nah.)
Berlin war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Weltstadt. Es gab elektrisches Licht und Telefon, man fuhr mit der U- und mit der S-Bahn und die Fernzüge trugen einen in die Sommerfrische. (Harz oder Ostsee). Wollte man Kultur, standen einem Theater und Museen offen.
Und musste man mal aufs «Stille Örtchen», dann fand man – allerdings im Treppenhaus («halbe Treppe») ein Wasserklosett.
Clara Paech war nun – vielleicht wider Willen, aber trotzdem – eine Metropolistin.

Dorothea Herter, meine Alb-Uroma war früh Witwe geworden und sie zog ihre 12 Kinder alleine gross. Ich weiss zu wenig über ihr Leben, aber ich denke, das Folgende ist wahrscheinlich:
Sie hat nie einen Telefonhörer in der Hand gehabt. (Wenn doch, äusserst selten.)
Sie ist nie mit einer U-Bahn oder S-Bahn gefahren. ,
Sie ist ganz selten Bahn gefahren, vielleicht gar nicht, sicher nicht ins Ausland und auch sicher nicht in Urlaub. Wie alle Bäuerinnen war sie aber auch der Meinung, im schönsten Fleck der Welt zu leben – was sollte man da woanders hin? Ihre Enkelin Pauline (meine Patin) sagte noch dasselbe…
Musste die gute Uroma mal aufs «Örtchen», war das ein Plumpsklo – ich habe das in meiner Jugend auf dem Dorf noch erlebt, wie wahrscheinlich auch sehr, sehr, sehr viele meiner Leserinnen und Leser.

Ich bin als gebürtiger Stuttgarter nun genau zwischen den beiden Urgrossmüttern.
Stuttgart ist nicht wirklich ein Bauerndorf, obwohl es im Innenstadtbereich Agrarflächen gibt, aber ein Dorf ist es nicht, aber auch nicht wirklich eine Grossstadt, eine Metropole, auch wenn man das dort meint; und so schwanke ich zwischen dem Pol «Weltmann – Reisender – Technikfreak», der auftritt, wenn es mir gelingt, einen Flug und einen Museumstimeslot zu buchen und dem Dörfler, der gar nicht weg will, nur die wunderschönen Herbstbäume gegenüber betrachten, und der jede KI und AI und jede neue App mit grossem Argwohn beobachtet…

Die ganze Zeit stelle ich mir aber die eine Frage: Es gab ja kein Selbstwählen. Was wäre gewesen, wenn das Fräulein vom Amt dem jungen, feschen Burschen gesagt hätte: «Ich höre Ihrer Stimme an, dass Sie die Nummer einer jungen Dame wollen, bzw. der Eltern. Gehen Sie doch mit mir aus.» Wäre Gustav standhaft geblieben? Und wäre aus der Verbindung Gustav-Amtsfräulein auch so etwas wie ich entstanden?

Gut, dass die Dame gleich richtig vermittelt hat.







 

 

 

Dienstag, 14. November 2023

Wie viele Nailstudios, Bäckereien und Parteien braucht es?

Guten Tag. Lassen Sie mich Ihnen sechs wichtige Fragen stellen:

1) Wie viele Nail Studios braucht ein Ort mit 2000 Einwohnern?
2) Wie viele Nail Studios verträgt ein Ort mit 2000 Einwohnern?
3) Wie viele Kaffee- und Backwarenstände braucht ein Bahnhof mit 150 Abfahrten pro Tag?
4) Wie viele Kaffee- und Backwarenstände verträgt ein Bahnhof mit 150 Abfahrten pro Tag?
5) Wie viele Parteien braucht eine Demokratie?
6) Wie viele Parteien verträgt eine Demokratie?

Schwierige Fragen, nicht? Meine Antworten wären
1) null / 2) null / 3) ca. drei / 4) beliebig viele / 5) minimal zwei / 6) beliebig viele

Wie ich auf diese Antworten komme?
Nun, ich halte Nagelstudios für eines der schrecklichen Dinge überhaupt, aber das ist vielleicht Geschmackssache. Tatsache ist, dass ein Ort mit 2000 Einwohnern, statistisch gesehen, eine Menge Nail Studios hat, die Schweiz hat ca. 2200 Gemeinden und ca. 3400 Nagelschuppen, aber längst nicht alle Gemeinden haben 2000 Einwohner.
Drei Kaffee- und Backwarenstände halte ich für nötig, damit beim Lunchholen nicht zu grosse Schlangen entstehen. Aber wenn es 40 sind, stört das auch nicht. Die werden halt keinen Gewinn machen, aber das ist nicht mein Problem. Im Bahnhof Olten gibt es gefühlt 50 Bäckereien und Coffee Shops, und die meisten davon haben keine Kunden – dort wird Geld gewaschen.
Ja, und die Parteien. Zwei braucht es, da werden Sie mit mir einig sein, eine einzige Partei, die dann 80% der Stimmen bekommt, das ist dann keine Demokratie mehr, die können machen, was sie wollen. Aber umgekehrt kann es natürlich unendlich viele Parteien geben, man muss aber schauen, dass die unzähligen PARTEIEN nicht zu unendlich vielen FRAKTIONEN werden…

Aber es gibt natürlich Menschen, die hier völlig andere Ansichten haben.

Thea Charmekind, die zwei Strassen weiter wohnt, ist der Ansicht, dass man so viele Nail Studios braucht, dass frau spätestens in drei Stunden einen Termin bekommt – in einem Notfall, und Notfall heisst Nagel abgebrochen. Das gleiche gilt für Friseure und Visagisten. Und «verträgt»? Beliebig viele, so Thea, auch toll fürs Stadtbild, denn die dekorieren so hübsch. Nicht so wie die hässlichen Buchhandlungen, die legen nämlich – Thea legt einen ekelleidenden Unterton in ihre Stimme – Bücher ins Schaufenster.
Ruedi Schmidlin, der einen Backwarenstand im Bahnhof Olten betreibt, ist klar der Ansicht, dass es ausser ihm keinen braucht, und auch keinen verträgt. Die anderen Betreiber von ähnlichen Buden sind der gleichen Ansicht. Mein Nachbar Kurt ist der Ansicht null / null, denn er hat seit 30 Jahren keinen Bahnhof betreten. (Wozu hat man ein grosses Auto?)

Ja, und die Parteien. Beziehungsweise die Fraktionen.
Da ist es ja auch so, dass man ganz unterschiedliche Antworten bekommt, je nachdem welchen Blickwinkel man einnimmt.
Ein Amerikaner oder Engländer wird beide Fragen 5) und 6) mit «zwei» und «zwei» beantworten. Wir haben die Republikaner und die Demokraten, was braucht oder verträgt es noch? Wir haben die Tories und Labour, und jetzt? Natürlich gibt es kleinere Parteien, aber die spielen keine Rolle.
In der Schweiz ein buntes Spektrum, SP, SVP, CVP, EVP, GP, GLP, FDP usw. Spannend ist hier, dass mehrere Parteien eine Liste bilden – und dann auch eine Fraktion.

In Deutschland kann man die Meinung auf den Punkt bringen: «Jede neue Partei ist unnötig und schädlich.» Also nicht die Meinung des Volkes, aber die Meinung der etablierten Parteien. Und die werden gerade am meisten gefragt. Das ist aber so, wie wenn man die Inhaberin von «Super Nails» befragt, ob es in ihrem Dorf ein weiteres Nagelstudio braucht und ob dies schädlich sei. Das ist so, wie wenn man die Bäcker und Kaffeestände in Olten fragt, ob es noch mehr haben könne…
In meiner Jugend gab es eigentlich nur zwei Parteien, CDU und SPD, und manchmal brauchte es die kleine, winzige FDP als Zünglein an der Waage.
Dann kamen die GRÜNEN. Und lange wurde diskutiert, ob jetzt nicht die Demokratie im- oder explodiert, ob das System das verträgt und ob man nicht einen Riegel vorschieben muss.
Dann kam die LINKE. Und lange wurde diskutiert, ob jetzt nicht die Demokratie im- oder explodiert, ob das System das verträgt und ob man nicht einen Riegel vorschieben muss.
Dann kam die AFD. Und lange wurde diskutiert, ob jetzt nicht die Demokratie im- oder explodiert, ob das System das verträgt und ob man nicht einen Riegel vorschieben muss.

Und nun kommt Sahra Wagenknecht. Und ich sage: Willkommen. Natürlich verträgt Deutschland noch eine weitere Partei, und vielleicht braucht es auch noch eine neue. Und – mal ganz ehrlich – wenn die Wagenknechtpartei überflüssig und blöd ist, wird sie nicht gewählt und wieder verschwinden, wenn sie gewählt wird, dann war sie nötig.
Auf jeden Fall wäre Sahra eine gut angezogene Ministerin.

Gestern – der Post war schon fertig – war ich übrigens (wie jeden Tag) am Bahnhof Olten. Und das ist jetzt wirklich wahr: Der grosse Laden zwischen Gleis 4 und Gleis 7, jener, in dem die Handy-Klinik war und der so lange leer stand, hat einen neuen Mieter.
Und es ist nicht der einundfünfzigste Backshop / Kaffeestand!

Es wird ein Nagelstudio.

Man kann an der Menschheit schon verzweifeln.