Dienstag, 7. November 2023

Herbstreisen (5) - Kassel und die Grimmwelt

Unsere Herbstreise(n) endet/enden in Kassel.
Also natürlich eigentlich in Basel, aber Kassel ist die letzte Station. Und dieses Mal ist es nicht die Documenta oder der Herkules, sondern das neugebaute Grimmmuseum, die Grimmwelt. Und dieses Museum widmet sich nicht dem Grimm, also dem Zorn, der Wut, sondern dem Leben und Werk der Gebrüder Grimm.
(Kleine Randbemerkung: Ein Wutmuseum, ein Zornmuseum, ein Grimmmuseum, das wäre doch wirklich eine Idee, da kann man doch von Reklametafeln bis zu Waffen alles Mögliche aufstellen, es scheint keine solche Einrichtung zu geben, Google gibt mir keinen Treffer für «Wutmuseum», für «Zornmuseum» schon, aber das ist in Schweden und einem Maler namens Zorn gewidmet. Aber wahrscheinlich ist eben die Auswahl für ein Wutmuseum, ein Zornmuseum, ein Grimmmuseum das Problem, zurzeit regt einen ja ALLES auf…)

Die Gebrüder Grimm also.
Wenn man alle die Werke und Werklein, die die beiden verfasst haben, ansieht, gefühlte 10 Billionen Seiten Papier, stellen sich zunächst Fragen:
Woher haben die beiden die Zeit genommen? Haben Sie nicht geschlafen? Haben Sie nicht gegessen? Auf was haben Sie verzichtet? Das Gleiche fragt man sich ja bei einigen Menschen, die einen Werkausstoss haben, der einen schwindeln lässt, Goethe oder Mann oder Lenin oder Rosamunde Pilcher, um hier mal in ganz verschiedenen Ecken zu fischen, ich weiss schon, dass die nicht in die gleiche Kategorie gehören.
Fest steht: Die Grimms hatten keine Kinder, über Reisen wurde nichts berichtet, und wahrscheinlich mussten sie sich um den Haushalt nicht kümmern – lachen Sie nicht, das ist schon etwas, das Zeit kostet. Wilhelm Carl Grimm hat übrigens dann noch geheiratet, und seine Frau hat auch gesammelt, Kochrezepte, die sind sogar ausgestellt. Mehr muss man da wohl nichts sagen.
Was die Gebrüder Grimm auch nicht hatten, ist TV, Internet, Handy, sie hatten kein Twitter, kein Facebook, kein Instagram, das ersparte ihnen sicher auch noch einmal 10 Stunden pro Woche.

Eine ebenso erstaunliche Tatsache wie das Vielschreiben ist die, dass die Gebrüder Grimm, nachdem sie wegen revolutionären Umtrieben ihre Uni-Stellen verloren hatten, die Idee zu einem deutschen Wörterbuch entwickelten, um – jetzt halten Sie den Atem an und schlucken Sie tief, wenn Sie das zusammen hinbekommen – damit Geld zu verdienen. Nochmal Klartext: Sie verlieren eine Uni-Stelle und machen als Geldquelle wissenschaftliche (keine populärwissenschaftliche) Publikationen, das ist heute so möglich wie mit Rollschuhen auf den Mount Everest oder CO2-neutral nach Australien. Heute ist es ja umgekehrt: Das höchste aller hehren Ziele, der Olymp und Herrscherthron ist die Professur, der Lehrstuhl, und UM den zu erreichen, publizieren sie, und nicht weil man mit der «Einführung in die Strukturlinguistik in 5 Bänden» oder «Handbuch der Ägyptologie in 6 Bänden» Geld verdient.
Aber die Grimms bekamen Geld, und zwar – wieder Luft anhalten und schlucken – laufend, nicht als das Ding fertig war.
Goldene Zeiten.

Ich weiss, Sie wollen jetzt endlich was von den Märchen hören. Wobei die Märchen eben nur ein ganz kleiner Teil des Grimm-Werkes und des Grimm-Lebens und damit eben auch der Grimmwelt sind.
Aber nun gut.
Die Märchen also. Die sind ja das, was wir mit den zweien verbinden: Rotkäppchen und Dornröschen und Aschenputtel und Frau Holle und Hans im Glück.
Als Kind hatte ich immer gedacht, dass Rotkäppchen und Dornröschen und Aschenputtel und Frau Holle und Hans im Glück Erfindungen von Jacob und Wilhelm seien, so wie die Lindgren die Pippi und Preussler den Hotzenplotz, so wie Enid Blyton Hanni und Nanni und der Herr Kruse das Urmel erfunden und geschrieben hatten, so hatten Jacob und Wilhelm eben Rotkäppchen, Dornröschen, Hans im Glück, das tapfere Schneiderlein und die Gänsemagd erdichtet.
Später lernte ich dann, dass die beiden Herren die Märchen GESAMMELT hatten, das waren keine Kunst-Märchen, das waren Volks-Märchen, die waren in den deutschen Landen umhergefahren, und die Menschen in den Dörfern hatten ihnen von Aschenputtel und der Gänsemagd und dem Froschkönig erzählt.
Noch später merkte ich dann, dass das so eben auch nicht stimmt. Und die Grimmwelt zeigt das auch klar: Die Grimms hatten wenig Quellen, und diese erzählten eben auch Kunstmärchen, die sie gelesen hatten (nicht aus Bosheit, sondern weil das alte Leute waren, bei denen die Erinnerungen durcheinanderflossen). So war meine kindliche Vorstellung eben fast näher an der Wirklichkeit wie das Sammel-Narrativ.

Unsere Herbstreise(n) endeten Kassel. Also natürlich eigentlich in Basel, aber Kassel war die letzte Station. Und dieses Mal war es nicht die Documenta oder der Herkules, sondern das Grimmmuseum, die Grimmwelt. Und dieses Museum widmet sich nicht dem Grimm, also dem Zorn, der Wut, sondern dem Leben und Werk der Gebrüder Grimm.
Und ist extrem schön.
Und ist extrem sehenswert.



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