Freitag, 10. November 2023

Kuppeln

In meiner Jugend, also vor vielen, vielen, vielen Jahren war es so: Man wartete auf die Traumprinzessin oder den Traumprinzen, auf sein oder ihr Erscheinen, das stets hochromantisch und spektakulär war, entweder flog die Tür vom Eiscafé «Venezia» auf und sie schwebte unter Violinenklängen hinein, man ertrank im Meer (fast) und wurde vom Baywatcher gerettet oder man stand auf einer öden Party und auf einmal sah man ihn (oder sie), oder…

Natürlich alles Quatsch.
Es war nie so hochromantisch und spektakulär. Und manchmal wurde man sogar verkuppelt. Nein, sehr häufig wurde man verkuppelt, aber das hatte immer einen «Geschmack». Während das Hineinfliegen ins «Venezia», das Gerettetwerden aus dem Meer und das blitzartige Erblicken auf der Party wie der Turbo-Porsche waren, wie Free Climbing, war «Verkuppelt werden» wie Automatik fahren, wie Kletterwand mit Anseilen und dicker Matratze. Einfach irgendwie spiessig.

Dabei war das Verkuppeln eigentlich eine tolle Sache: Man überlegte, wer zusammenpassen könnte, und lud die zwei Menschen ein.
Eine richtig schöne Geschichte ereignete sich vor 100 Jahren: Die Amtmannsfrau Frieda sprach zu ihrem Mann: «Du erzählst doch gerade immer von so einem jungen, feschen Kollegen. Lade den doch mal zu meinem Geburtstags-Kaffeetrinken ein. Ich glaube, der könnte sich gut mit Hertha verstehen.» (Hertha war ihre Nichte.) Gesagt, getan. Und der fesche, junge Kollege unterhielt sich in der Tat ganz nett mit der Nichte, und als Hertha mit ihrer Mutter schon auf dem Heimweg war, da rannte ihnen Gustav (so hiess der junge Kollege) nach und fragte die Mutter höflich, ob er die Telefonnummer haben könnte…
Und er bekam sie.
Und rief einen Tag später an. Die beiden trafen sich zum Kaffee, dann zu einem Abendessen, zum Tanzen – nach 3 Monaten waren sie verlobt und nach weiteren 6 Monaten verheiratet. Geschieden hat sie erst der Tod: Gustav starb 1964 viel zu früh an Krebs.
Sie ahnen es längst: Hertha und Gustav waren meine Grosseltern.

Heutzutage wird natürlich nicht mehr verkuppelt. Heute hat man Dating-Apps.
Obwohl: Die Datingplattformen machen eigentlich genau das, was meine Urgrosstante Frieda (genannt Tante Friedchen) so wunderbar tat, sie versuchen Menschen zusammenzubringen, die hoffentlich irgendwie passen. Aber im Gegensatz zum Verkuppeln haben «Love_up» und «Up_love» usw. nicht den Geschmack vom Automatikfahren oder mit Seil klettern, sie geben sich den Touch «die Tür vom Eiscafé flog auf und sie schwebte unter Violinenklängen hinein», den Toch von «man ertrinkt im Meer (fast) und wird vom Baywatcher gerettet» oder den Touch von «man steht auf einer öden Party und auf einmal sieht man ihn (oder sie)» – was natürlich Unsinn ist…

Es gibt über 2000 Dating-Apps im deutschsprachigen Raum. Wobei man trennen muss: Es gibt ganz verschiedene:
Es gibt Apps für Liebe.
Es gibt Apps Liebe und Heirat.
Es gibt Apps für schnellen Sex mit Partnern, die zu haben sind.
Es gibt Apps für schnellen Sex mit Partnern, die eigentlich und ausdrücklich nicht zu haben sind.
Es gibt Apps für jeden speziellen Wunsch.
Haben Sie den Wunsch, mit jemand zusammenzukommen, der oder die ein Haustier besitzt (wie Sie)?
Haben Sie den Wunsch, mit jemand zusammenzukommen, der oder die gläubig ist (wie Sie)?
Haben Sie den Wunsch, mit jemand zusammenzukommen, der oder die Geld hat (wie Sie)?
Es gibt für jeden Wunsch eine App.

Dabei gehen die meisten Dating-Plattformen von einem Denkfehler aus: Es muss ja gar nicht sein, dass das Gleiche immer das Richtige ist.
Eine weitere Geschichte aus alten Zeiten ist die eines Bekannten meiner Eltern: Er hatte eine Frau gefunden, die 1 zu 1 zu ihm passte; beide waren verträumt, romantisch, Anthroposophen und Vegetarier, liebten das Häusliche und das Stille, und wenn sie sich bei Jasmintee und Kerzenlicht Märchen vorlasen, dann war das Glück perfekt. Es war aber zu perfekt, alles war zu verträumt und zu unrealistisch und es hätte ein wenig ein Gegengewicht gebraucht. Die Ehe hielt nicht. Der Träumer oder die Träumerin brauchen eben jemand, der ein bisschen mehr auf dem Boden steht:

Mein Mann ist schön, ich bin praktisch.
Er ist ein bisschen verrückt, ich bin bei Verstand.

(in freier Abwandlung von Brecht)

Vielleicht sollten wir das Kuppeln wieder anfangen. Denn einen Aspekt haben wir noch gar nicht besprochen: Es macht wahnsinnig Spass. Und wenn es gelingt, dann erfüllt den Kuppler oder die Kupplerin eine hämische Freude.
Ich denke, Friedchen ist auf der Hochzeit von Gustav und Hertha herumgerannt und hat jedermann und jederfrau erzählt, wie die Sache zustande kam.
Und sie durfte ja auch stolz sein: Es sind ja so schöne Dinge wie ich aus der Beziehung entstanden.

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