Freitag, 17. November 2023

Gab es früher schon Telefon?

Mein Erzengel schreibt mir nach dem Post «Kuppeln»:

Nach der Telephonnummer fragen? Vor 100 Jahren? Unwahrscheinlich.
Es ist nicht Aufgabe des Glossisten mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit (eikos) oder Notwendigkeit (anankaion) Mögliche.

Ich antworte:

Doch, doch, doch.
Das war Berlin Mitte.
Natürlich mit Fräulein vom Amt.

Mein Erzengel schreibt:

Aha.

Und ich ergänze:

Also mütterlicherseits
Meine Urgrossmutter väterlicherseits (schwäbische Alb) hat glaube ich nie ein Telefon in der Hand gehabt.

Und ich komme ob all dieser Diskussion ein wenig ins Nachdenken. Ob meiner Urgrossmütter.

Anfang des 20. Jahrhunderts sassen meine vier Urgrossmütter in Berlin, in Danzig, in Stuttgart und in Ostdorf (damals selbstständig, heute Teil von Balingen). Vor allem die Mutter der Mutter meiner Mutter und die Mutter des Vaters meines Vaters befanden sich in Situationen, die extrem unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Clara Gerste, die Berliner Uroma pflegte als Postbeamtenfrau eine kleine Wohnung im Wedding und schaute den Fortschritten ihrer (einzigen) Tochter beim Klavier- und Tennisspielen zu. Kleiner Exkurs: Der Wedding war natürlich kein Beamtenquartier, kein besseres Viertel, keine Gegend, in der Töchter Klavier und Tennis lernten, der Wedding war ein «schlechtes» Viertel, ein Arbeiterbezirk, ein Bezirk, in dem am 1. Mai die Steine flogen; aber mein Urgrossvater hatte nun eben da sein Postamt und seine Dienstwohnung – meiner Oma war das immer peinlich und sie gab als Geburts- und Wohnstätte immer «Gesundbrunnen» an (das war ganz nah.)
Berlin war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Weltstadt. Es gab elektrisches Licht und Telefon, man fuhr mit der U- und mit der S-Bahn und die Fernzüge trugen einen in die Sommerfrische. (Harz oder Ostsee). Wollte man Kultur, standen einem Theater und Museen offen.
Und musste man mal aufs «Stille Örtchen», dann fand man – allerdings im Treppenhaus («halbe Treppe») ein Wasserklosett.
Clara Paech war nun – vielleicht wider Willen, aber trotzdem – eine Metropolistin.

Dorothea Herter, meine Alb-Uroma war früh Witwe geworden und sie zog ihre 12 Kinder alleine gross. Ich weiss zu wenig über ihr Leben, aber ich denke, das Folgende ist wahrscheinlich:
Sie hat nie einen Telefonhörer in der Hand gehabt. (Wenn doch, äusserst selten.)
Sie ist nie mit einer U-Bahn oder S-Bahn gefahren. ,
Sie ist ganz selten Bahn gefahren, vielleicht gar nicht, sicher nicht ins Ausland und auch sicher nicht in Urlaub. Wie alle Bäuerinnen war sie aber auch der Meinung, im schönsten Fleck der Welt zu leben – was sollte man da woanders hin? Ihre Enkelin Pauline (meine Patin) sagte noch dasselbe…
Musste die gute Uroma mal aufs «Örtchen», war das ein Plumpsklo – ich habe das in meiner Jugend auf dem Dorf noch erlebt, wie wahrscheinlich auch sehr, sehr, sehr viele meiner Leserinnen und Leser.

Ich bin als gebürtiger Stuttgarter nun genau zwischen den beiden Urgrossmüttern.
Stuttgart ist nicht wirklich ein Bauerndorf, obwohl es im Innenstadtbereich Agrarflächen gibt, aber ein Dorf ist es nicht, aber auch nicht wirklich eine Grossstadt, eine Metropole, auch wenn man das dort meint; und so schwanke ich zwischen dem Pol «Weltmann – Reisender – Technikfreak», der auftritt, wenn es mir gelingt, einen Flug und einen Museumstimeslot zu buchen und dem Dörfler, der gar nicht weg will, nur die wunderschönen Herbstbäume gegenüber betrachten, und der jede KI und AI und jede neue App mit grossem Argwohn beobachtet…

Die ganze Zeit stelle ich mir aber die eine Frage: Es gab ja kein Selbstwählen. Was wäre gewesen, wenn das Fräulein vom Amt dem jungen, feschen Burschen gesagt hätte: «Ich höre Ihrer Stimme an, dass Sie die Nummer einer jungen Dame wollen, bzw. der Eltern. Gehen Sie doch mit mir aus.» Wäre Gustav standhaft geblieben? Und wäre aus der Verbindung Gustav-Amtsfräulein auch so etwas wie ich entstanden?

Gut, dass die Dame gleich richtig vermittelt hat.







 

 

 

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