Freitag, 16. September 2016

Der Dirigierroboter - Blogpause

Eine Nachricht der Baselbieter Verkehrsbetriebe hat mich neulich erschreckt: Auf der Schmalspurstrecke Liestal-Waldenburg sollen ab 2022 keine Lokführer mehr eingesetzt werden. Obwohl ich weiss, dass das technisch überhaupt kein Problem ist, obwohl ich weiss, dass der Mensch im Cockpit viel unzuverlässiger ist wie eine Maschine, obwohl ich wahrscheinlich in Grossstädten schon mit führerlosen U-Bahnen gefahren bin – ich sage immer, ich würde das nie tun – obwohl ich das also alles weiss, macht es mich unglücklich, macht es mich traurig.

Nein, ich möchte weiterhin von Menschen gefahren werden, ich möchte sehen, wie die Tramfahrer sich kollegial zuwinken, das hat so etwas Rühriges, ich möchte mich beim Chauffeur bedanken können, wenn er auf mich gewartet hat und ich möchte weiterhin hören, wie er brummelt, wenn jemand die Türen versperrt. Apropos Durchsagen: Ich bin auch gegen die elektronischen Ansagen, die ja meistens laufen. Am Anfang genoss ich auf meiner Morgenpendelfahrt noch Heidrun, so nannte ich sie, die mir in perfektem Hochdeutsch und immer gut gelaunt eine gute Fahrt wünschte, inzwischen ist es öde: «Die SBB begrüsst sie auf der Fahrt nach…» Heidrun klingt immer gleich, ist immer bei Stimme, hat nie eine Erkältung oder ist mal mies drauf. Umgekehrt freue ich mich jeden Tag bei der Rückfahrt auf den Zugchef, der die Anschlüsse nach «Basel Badisch» (Klingt ein wenig nach «Kaddisch») und Hamburg Altóna ankündigt. Von der DB mit ihrem so menschelnden «Sänk ju for trävelling wis Deutsche Bahn» oder «Sänk ju for tschuusing Deutsche Bahn, täk Kär änd gut bai» ganz zu schweigen.

Was werden wir eigentlich in 30 Jahren machen, wenn alle Arbeit von Maschinen gemacht wird? Wenn im Supermarkt nur noch ein Check-Out-Bereich ist und im Selbstbedienungsrestaurant auch der Schöpfvorgang automatisiert ist? Wenn alle U-, S- und Fernbahnen keine Fahrer mehr haben? Wenn nur noch per Lernprogramm gebüffelt wird und auch die Putzkolonnen nur noch aus Robotern bestehen? Wenn sogar – wie heute in 20min zu sehen war – auch der Pizzaiolo ein Robi ist? Was werden wir dann tun? Wenn auch zuhause der Herd alleine kocht und die Wischmaschine alleine schrubbt? Was also?

Ich habe mir bisher eingebildet, dass ich einen robotikresistenten Job habe.
Aber angeblich sollen grosse amerikanische Firmen schon am Dirigier-Roboter arbeiten. Die CMs (Conducting Maschines) sind natürlich in den Dingen der Präzision unschlagbar. Eine CM trifft stets auf den Metronomstrich genau das Tempo, sie hat die komplexeste Partitur in Sekundenschnelle im Kopf, sie kann den gespielten Ton auf das Hertz genau mit dem verlangten vergleichen, wobei ihr natürlich ausser der gleichschwebenden, wohltemperierten auch noch 45 andere, historische Temperaturen zur Verfügung stehen. Eine CM verschlägt sich nicht, sie gibt keine falschen Einsätze, sie ist in allen Dingen perfekt. Für den Probenbetrieb hat man 100 Stimmen zur Auswahl, von osteuropäisch-aggressiv bis zu wienerisch-schmähig, von britisch-kühl bis zu spanisch-temperamentvoll. Ausser faktische Aussagen wie «Oboe 4,3 Hertz unter b’’» oder «Pauke MM=88 statt MM=89» hat die CM noch 5600 Witze zur Probenauflockerung sowie etliche Standardaussagen, die immer stimmen, eingespeist:
«Flöte zu tief»
«Blech zu laut»
«Bratsche schleppt»

Der SDS, der Standard-Dirigier-Stil kann mit ca.100 Zusatzfunktionen gekoppelt werden. Hier sind – und das Repertoire wird ständig erweitert – alle grossen Dirigenten gespeichert. Drückt man z.B. «Gergjew», so fangen die Hände des Roboters an zu zittern und vibrieren fortan in einer unglaublich interessanten Weise. Drückt man «Bernstein» fängt die Maschine an auf und ab zu hüpfen und nimmt gelegentlich den Stock in beide Hände. Bei «Karajan» verfällt die CM in eine meditativ-vergeistigte Haltung und bei «Celi» wird sie sehr, sehr, sehr langsam. Natürlich kann auch jeder Dirigent, der eine Vertretung braucht, seinen eigenen Stil der CM beibringen.

Die Conducting Maschine macht es endlich möglich, schlechten Orchestermusikern zu kündigen. Denn natürlich werden alle Patzer, Verspieler und Falschtöne gespeichert. So liefert die CM am Ende eines Monats eine genaueste Statistik, die vielleicht so aussehen könnte:


Abweichung vom Tempo
Abweichung von der Tonhöhe
Abweichung von der Lautstärke
Flöte 1
30%
15%
50%
Flöte 2
5%
11%
23%
Oboe 1
50%
70%
37%

 (Ausschnitt)

Hier wäre der Oboist schon so gut wie auf der Strasse.

Nein, genauso wie Tramchauffeur, Lokführer, Busfahrer, genauso wie Kellnerin, Kassierer, genauso wie Maler, Gipser, wie Schreiner und Polymech, aber auch wie Doktor oder Lehrer ist auch das Dirigieren kein robotikresistenter Job.
Fragt sich nur, ob irgendwann auch die Orchester nur noch aus Robotern bestehen. (Ehrlich gesagt, manche tun das heute schon.)
Eine Nachricht der Baselbieter Verkehrsbetriebe hat mich neulich erschreckt: Auf der Schmalspurstrecke Liestal-Waldenburg sollen ab 2022 keine Lokführer mehr eingesetzt werden.  Es macht es mich unglücklich, es macht es mich traurig (sic).

P.S. Der Blog macht aus beruflichen Gründen Pause bis Ende September

P.S.

Dienstag, 13. September 2016

Euphemismus für "Genozid"?

Liebe Leserin, lieber Leser, wissen Sie, was ein Euphemismus ist? Dumme Frage, natürlich wissen Sie es: Ein Ausdruck, der negative Dinge schönredet. Wobei «schönreden» so einen Beigeschmack hat, weshalb man lieber sagt «Das hast du euphemistisch ausgedrückt» als «Das redest du schön», wonach das Wort EUPHEMISMUS selber schon ein Euphemismus ist.

Unser Leben würde ohne Euphemismen gar nicht funktionieren. Wenn wir nicht für vieles ein netten, kuscheligen, zarten, warmen und weichen, einen unbescholtenen und unbefleckten, einen lieben und guten Ausdruck hätten, würden wir uns täglich totschlagen.
Wer möchte diesen Erdball
Noch fernerhin betreten
Wenn wir Bewohner überall
Die Wahrheit sagen täten
dichtet Wilhelm Busch in Kritik des Herzens

So ist eben ein Saugoof kein Saugoof sondern ein verhaltensorigineller Bub, so ist man nicht fett, sondern robust, vollschlank, stämmig oder untersetzt (kein Bereich ist so euphemisiert wie das Aussehen) und man ist nicht strunzdumm sondern eher praktisch orientiert. Eine Wohnung, die man nur mit Machete betreten kann, hat einen leichten Bohème-Touch und ein Auto, das seit 1998 nicht beim TÜV war, ist ein charmanter Oldtimer. Ein wüstes Saufgelage inklusive Prügelei und sexuellen Übergriffen wird zur Feucht-fröhlichen Runde und ein Fussballspiel, nach dem 3 Ohren, 4 Nasen, etliche Zähne und ein Arm auf dem Feld zurückbleibt, wird zur Kraftvollen Partie. In keinem Bereich stösst die Sprachwissenschaft auf so viele Neologismen und Neuphrasen wie in der sogenannten Euphemismologie, einem jungen Zweig der Linguistik, der sich mit den Schönredereien des Alltags beschäftigt. Die  DEG, die Deutsche Euphemismologische Gesellschaft vergibt seit 2014 einen Preis für die originellste Wortschöpfung, im ersten Jahr erhielt ihn die DB für «Verzögerungen im Betriebsablauf» (statt «Kaputte Technik und schlampige Planung»), 2015 bekam ihn der Flughafen Berlin-Brandenburg für «ausgeschöpfte Bauzeit» (statt «wir werden nie fertig»).

Politiker sind naturgemäss Meister des Euphemismus. Da kann es sein, dass nach einer Wahl alle, aber auch alle Parteien sich hochzufrieden äussern: Die CDU ist stärkste Kraft geblieben, die SPD hat dazugewonnen, die GRÜNEN sind reingekommen, die FDP ist dringeblieben, die AfD hat aus dem Stand den Einzug geschafft und die LINKEN haben ihre Ziele erreicht, welche das waren, sagen sie nicht so genau.
Wenn ein Politiker redet, dann strotzt es so von Schönrederei, dass er mit jedem Satz einen Ausdruck, hervorbringt, der auf die Shortlist der DEG kommen könnte.
«Sicher besteht bei dieser Vorlage noch ein gewisser Optimalisierungsbedarf.»
Auf Deutsch: Der eingereichte Gesetzesentwurf ist a) nicht verfassungsgemäss, b) sachlich falsch, c) 45 Seiten zu lang und d) in einem Deutsch, das jedem Migranten die Sprachprüfung versauen und diesem die angestrebte Staatsbürgerschaft verunmöglichen würde.

Wenn hier Politiker die ungekrönten Könige sind, dann ist es umso erstaunlicher, dass auf internationalem Parkett so viele Pannen passieren.
Stellen Sie sich die folgende Situation vor: Da beschuldigt Staat A den Staat B, bei sich Terrororganisationen zu beherbergen, die Staat A schaden wollen und macht mal kurz einen kleinen Überfall auf Staat B. Und Staat C, der mit beiden gut auskommt, weiss jetzt nicht, wie er was sagen soll. «Terror» und «Invasion» möchte er nicht in den Mund nehmen, also stottert und stammelt er, er haspelt und wispelt und kommt zu keinem Potte. Dabei könnte er doch einfach von «undiplomatischen Splittergruppen» und von «undiplomatischem Eingriff» reden, das hört sich doch schon viel konzilianter an.
Und trotzdem wissen alle, was gemeint ist.

Und hier kommen wir auf den Punkt: Wir brauchen einen Euphemismus für «Völkermord». Wenn wir schon nicht sagen dürfen und wollen, was da geschehen ist, weil Erdie so leicht einschnappt und weil wir Erdie ja irgendwie brauchen und weil das alles so kompliziert ist, weil zwar der Bundestag eindeutig Stellung bezogen hat, aber Angie jetzt verkündet hat, das sei nur eine Empfehlung gewesen, weil also dieses Wort so schwer über unsere Lippen kommt, müssen wir es schönreden.
Was wäre aber ein geeigneter Euphemismus für Genozid?
Vielleicht «Ethnische Annullation»?
Vielleicht «Verhinderung weiterer Ausbreitung eines Volkes»?
Vielleicht «….»?
Nein.
Nein und nochmals nein.
Gewisse Dinge gehen einfach nicht.
 Wir müssen uns eingestehen, dass man manche Dinge nicht schönreden kann. Es gibt einfach Grenzen. Jemand der seit 1998 seine Wohnung nur zugemüllt, aber nicht geputzt hat, ist kein Bohemien, sondern ein Messie. Ein Fussballspiel, bei dem Körperteile abgerissen werden, ist nicht mehr kraftvoll, sondern gewalttätig und kriminell. Eine Fete, bei der Frauen vergewaltigt werden, ist nicht mehr feucht-fröhlich.

Und ein Genozid bleibt ein Genozid; und es ist schade, dass die Bundesregierung hier zurückgekrebst ist.













      

Freitag, 9. September 2016

"Überbewertet" wird überbewertet

Als die versammelte Elternschaft der Klasse 5c in der Heinrich-Böll-Gesamtschule Herrn Friedebeul, den Deutschlehrer ihrer Jungs und Mädels, in einer Elternversammlung zur Rede stellt, weil ihre Kinder immer noch dehnen und schärfen, wie sie gerade Lust haben, also eigentlich deenen und scherffen, sagt Friedebeul nur ganz lapidar:

«Rechtschreibung wird überbewertet.»

Als Jochen seinen Kumpels Michek und Sefan nach dem zweistündigen Hockeytraining vorschlägt, in den neuen Jason Bourne-Film zu gehen – er liest offensichtlich meine Posts nicht – und Michek eifrig bejaht, aber klar sagt, man müsse vorher noch duschen, spricht Jochen die eindeutigen Worte:

«Duschen wird überbewertet.»

Als die Kritikerrunde, die sich für SWR2 nach der Premiere von «La Citronella» bei den Lutzhausener Festspielen zusammensetzt, auf die Problematik kommt, dass die Hauptrollensopranistin bei zwei Arien doch weit die vom Komponisten Mario Dubacci vorgeschriebenen Töne umging, also einfach falsch sang, räuspert sich der Feuilletonchef einer grossen Tageszeitung und grummelt:

«Intonation wird ja auch überbewertet.»

Als man den Ortsvorsitzenden der AfD darauf hinweist, dass er vielleicht doch nicht so gut macht, wenn er konsequent «Schwuchteln», «Neger», «Araber» und «Weiber» sagt, runzelt er die Stirn, überlegt kurz, was er sagen soll und grunzt dann:

«Politische Korrektheit wird in diesem Land seit Jahren überbewertet.»

Überbewertet.
Was für ein bescheuertes Wort.
Eine Sache als überbewertet zu bezeichnen nimmt dem Gegenüber auf eine so fiese Weise den Wind aus den Segeln, dass man kotzen könnte. Es heisst ja dann eigentlich: Die Sache ist ja gar nicht so wichtig, das checken aber alle die Dummbacken nicht, aber ich, ich habe endlich den echten Wert der Sache herausgefunden, und der Wert der Sache ist praktisch gleich null.
Überbewertet.
Dabei ist es eigentlich völlig egal, ob überbewertet oder richtigbewertet oder unterbewertet wird. Wenn man von der Bedeutung einer Sache in der Öffentlichkeit abhängig ist, muss man sich dieser beugen.

Werden die Kinder der 5c, wenn sie einen Anruf vom erhofften Lehrmeister bekommen, der ihnen mitteilt, dass er keinen Lehrling nimmt, der in seinem Bewerbungsschreiben «Leerstelle» «miht freundlichen Grüsen» und «Abschluhss» schreibt, diesem Meister entgegenhalten, dass Ortographie überbewertet sei? Wenn ja, wird er leise kichern und meinen, dass er ja die Bewertung vornimmt und für IHN die Einhaltung gewisser Normen einfach wichtig sei.
Werden Jochen, Michek und Sefan dem Herrn in der Reihe vor ihnen, der sich lautstark beschwert, dass sie sich woanders hinsetzen sollen, weil er den Film nicht geniessen kann, wenn es hinter ihm wie in einem Kamelstall stinkt, auch vorhalten, dass er Duschen überbewertet? Sie haben schlechte Karten, weil notfalls fliegen sie aus dem Lichtspieltheater, weil nämlich der Betreiber SEINE Einstufung von olfaktorischer Zumutbarkeit vornimmt.
Wird die Sopranistin bei zukünftigen Vorsingen den Satz des Feuilletonisten vor sich hertragen und jedem Studienleiter klarmachen, dass Intonation nicht so wichtig sei?

Wird der AfDler seinen Spruch auch nach einem Wahldesaster wiederholen, weil selbst für Schlimmwähler es ein Zu-schlimm gibt? (Ist wahrscheinlich Unsinn, weil die AfD gerade wegen solcher unmöglicher Sätze gewählt wird...) 

Überbewertet.
Interessant ist ja auch, dass der Spruch immer von denen kommt, die die Sache nicht machen, nicht haben, nicht dabei sind.
Stellen Sie vor, dass der Filmschauspieler X, der gerade erfährt, dass er zum dritten Male zum «Sexiest Man Alive» gewählt wurde, vor die Mikros tritt und kichert:
«Schönheit wird ja allgemein überbewertet»
Das hätte was, ja das wäre eine Aussage.
Stellen Sie sich vor, dass Michael, der stets 30 Minuten vorher am Treffpunkt steht und noch nie in seinem Leben zu spät gekommen ist, irgendwann meint:
«Pünktlichkeit wird überbewertet.»
Das hätte Charme, das wäre unanfechtbar.

Leider ist es nicht so, ständig sagen die Illiteraten, Lesen sei überbewertet, die Schmutzfinken, Sauberkeit sei überbewertet, die Raser, Verkehrssicherheit sei überbewertet. Es ist zum Heulen.

Angeblich soll letzte Woche auf der Claramatte ein Mann erwürgt worden sein. Und auch angeblich soll noch folgender Dialog stattgefunden haben: «Ich… be…komm…kei…ne…Luft…mehr…»
«Atmen wird überbewertet.»



  



















 

Dienstag, 6. September 2016

Hoch über dem Strand steht der Mond im... Quadrat? oder: Menschen sind unbelehrbar

Viele Menschen singen unter der Dusche. So tut das auch der junge Mann im Duschbereich des Freibades Frankfurt-Hausen, der neben mir wie sich das Chlor des 50m-Beckens abspült:
Hoch über dem Strand steht der Mond im Quadrat…
Das erstaunt mich nun doch etwas, es ist ein Song der Basler A-capella-Gruppe THE GLUE, eine Formation, deren Weg ich seit langem mitverfolge. Als ich den jungen Kerl auf seinen Gesang anspreche, erzählt mir Daniel, wie er sich vorstellt, dass er das Quintett im Winter in Frankfurt gehört habe und ihm gerade dieses Lied nicht mehr aus dem Kopf gehe. Das sei interessant, meine ich, ich würde die Fünf seit vielen Jahren kennen und es sei witzig, dass man nun in Deutschland auch auf ihre Nummern treffe. Allerdings habe er sich den Text falsch gemerkt, korrekt heisse es:
Hoch über dem Strand steht der Mond im Spagat…

Daniel schüttelt den Kopf, er sei sich ganz, ganz sicher, es laute Quadrat, und die Symbolik eines quadratischen Mondes sei doch auch angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt absolut einleuchtend, ausserdem spiele es auf die Quadratur des Kreises an. Das möge sein, so ich, es sei aber dennoch falsch. Nun muss ich doch erzählen, dass ich in Basel, der Heimstatt der Acapellisten wohne, dass ich vier der fünf durch die Knabenkantorei seit Kindesbeinen, und das ist nicht übertragen gemeint, sondern wirklich so: von Kindesbeinen, kenne, dass ich…

Daniel glaubt mir nicht. Als ich den Vorschlag mache, den Song einfach zu googeln, winkt er ab: Im Internet stehe ja aller möglicher Blödsinn, das sei kein Beweis. Na ja.
Ich biete an, ihm den Beweis zu erbringen und verabrede mich mit dem jungen Mann in 10 Minuten im Freibad-Café.
Ich renne zu meinem Schliesskasten, hole Geld und Handy und schicke Gregor, einem der fünf eine SMS:
Rufe mich in 10 Minuten an – Textklärung gegenüber einem Hessischen Fan von euch LG

Als Daniel und ich im Café sitzen und an unseren Espressos nippen, klingelt mein Handy. Ich reiche Gregor an mein Gegenüber weiter und ich entnehme seinem Nicken, dass mein Basler Freund ihm den Text des Songs noch einmal genau vorsagt. Er legt auf und schweigt eine Weile, dann meint er:
«Der sagt Spagat, aber hier in Frankfurt haben sie Quadrat gesungen.»

Mir fällt fast die Tasse aus der Hand: Wie stur kann ein Mensch sein? Er trifft jemand (nämlich mich, der die Gruppe kennt, der in der gleichen Stadt wohnt, der sogar Handynummern von mehreren Mitgliedern hat, der ihm sogar den Direktkontakt vermittelt und checkt seinen Irrtum immer noch nicht?
Ich greife noch einmal zum I-Phone. Gregor ist nicht mehr zu erreichen, aber ich erreiche Tumasch. Ich erkläre diesem die Situation und reiche ihn weiter.
«Hallo, ich bin Daniel, Frankfurter Fan von euch, kann es sein, dass ihr hier im Februar «Mond im Quadrat» gesungen habt?» … «Ganz sicher?» … «OK, und vielen Dank auch.» …
Er wendet sich mir zu und sagt: «Du hast recht, es ist Spagat.»
Ich atme auf.

Wie viele Bestätigungen braucht ein Mensch, um endlich etwas zu glauben, zu akzeptieren, anzuerkennen, um endlich etwas zu checken, zu kapieren, zu begreifen? Zumal nicht jeder die Möglichkeit hat direkt an die Quelle zu gehen?
Die meisten Menschen brauchen einfach zu oft die gleiche Info, bis diese bei ihnen ankommt. Wenn Radio und Fernsehen für morgen Regen, Hagel, Sturmböen und Orkane ansagen, dann rennen sie an den PC und sind, wenn 13 Wetter-Seiten ebenfalls nicht von 30° und praller Sonne Reden, eventuell bereit, über die Absage des Ausfluges an den Zürichsee abzusagen. Sie fragen im Supermarkt jeden Verkäufer, den sie erwischen können, und dazu noch alle Kassiererinnen, ob in dem Produkt Nüsse seien, glauben allen nicht und holen dann noch die Geschäftsführerin, bis sie endlich das für Allergiker gefährliche Ding wieder zurücklegen – dabei hätte ein Blick auf die Verpackung gereicht, es war ein Snickers.

Global gesehen hat so eine Haltung verheerende Auswirkungen. Vor vielen Jahren sagte ein kluger Mensch: «Wenn wir die wirtschaftliche Not in Afrika nicht bekämpfen, by the way: die Not, die wir selber durch unfairen Handel verursachen, dann werden sich immer mehr Leute aufmachen, um nach Europa zu gelangen.» Man glaubte ihm nicht. Dann kam das erste Boot über das Mittelmeer, man sagte Einzelfall. Dann kamen viele Boote, man sah das Problem noch nicht. Inzwischen hat eine Völkerwanderung eingesetzt und manche überlegen, ob jener kluge Mann nicht doch Recht hatte.
Genauso ist es mit dem Klimawandel. Sie könnten gewisse Amis an den Aletschgletscher schleppen und ihnen Fotos von 1923 davorhalten und sie würden immer noch behaupten, das sehe genau gleich aus.
Manchmal möchte man doch einfach schreien:
JETZT GLAUBT ENDLICH, MEHR BESTÄTIGUNG GIBT ES NICHT.

Es wurde dann doch noch ein ganz netter Nachmittag mit Daniel, mir sehr viel Sonne und etlichen Espressos. Beim Verabschieden sagte er dann: «Vielen Dank nochmal. Aber: Müsste es nicht wirklich besser Quadrat heissen und die GLUE haben den Text von vornherein falsch geschrieben?»


P.S. Wer den Song hören möchte:




Freitag, 2. September 2016

Zweyte Theile sind Unding

Neulich erschütterte ein unglaubliches Ereignis die germanistische Fachwelt: Auf einem Dachboden in Weimar wurde ein bisher unbekanntes Fragment von Friedrich Schiller gefunden, und zwar ein Fortsetzungs-Versuch der Maria Stuart. Das Abstract geht ungefähr so:

Die Handlung spielt in Calais, ein paar Tage nach Ende des ersten Teiles. Elisabeth ist dem zu Schiff nach Frankreich gereisten Graf Leicester nachgefahren, um ihn zur Rede zu stellen. Zu ihrer Verwunderung muss sie feststellen, dass Leicester nicht wegen des Fehlurteils, sondern wegen seiner Neigungen verschwand und sich in Calais mit Francois de la Couchette, einem französischen Adligen liiert hat. Als die drei gerade frühstücken, trifft die bombenmässige Nachricht ein, dass Maria die Hinrichtung überlebt hat, geflohen ist und sich in Paris befindet. Dort ist sie eine Liaison mit Paulette de la Couchette, der Schwester des französischen Grafen eingegangen. Das Trio beschliesst, sofort nach Paris zu reisen…

Hier bricht das Manuskript ab. Schiller erkannte wohl, dass er dieses Mal ein wenig zu oft die berühmte Schublade mit den faulen Äpfeln (seine persönliche Droge) aufgezogen hatte und dabei war, riesengrossen Mist zu verfassen. Und weil er sich nach dem Fiesco-Fiasco nicht noch einen Stuart-Stuss leisten wollte, endet das Manuskript nach zehn Seiten. Auch daran erkennt man das Genie, dass es merkt, wenn es auf dem Holzweg ist.

Durch diesen Fund erklärt sich auch endlich die kryptische Bemerkung Goethes zu Eckermann, die man bislang auf den Faust bezogen hatte. Eckermann notierte nämlich:

«Zweyte Theyle sind Unding.»

Warum wird dieser intelligente Ausspruch des Grossmeisters so wenig beherzigt?
Nehmen Sie doch nur einmal das Folgende: 

Da hat ein Geheimagent das Gedächtnis verloren und weiss nicht mehr, wer er ist und warum er im Mittelmeer mit einer Kugel im Körper im Wasser trieb. Und er weiss auch nicht, weshalb die halbe Welt hinter ihm her ist. Am Ende des Films hat er die Erinnerung an das missglückte Attentat wieder, eine nette Freundin, ein neues Domizil in Griechenland und die besagte halbe Welt ist tot. Der Cliffhanger war sein Name, den findet er nämlich erst im zweiten Teil heraus und mit den Worten «Your real name is…» ist der Kreis geschlossen.
Der natürlich eine Fortsetzung bekam, die man in den zweiten einschob, man muss nun Film II bis Minute 85 gucken und dann auf Film III springen. Immerhin ein genialer Trick. Es wurde aber noch schlimmer, denn in Film IV trat ein anderer Agent nun auf einmal das Vermächtnis jenes Vliesbeschaffers an, er trat in seine Fussstapfen, er folgte ihm nach.
Leider folgte das Publikum den Machern nicht, denn der Film floppte, was natürlich daran lag, dass es eben nicht DER Jason war, nicht der so unglaublich smarte Matt Damon, man wollte keinen anderen. Und nun ist der echte Bourne und the in my opinion sexiest man alive zurück und wir haben Teil V. Und obwohl ich ein unglaublicher Matt-Fan bin – haben Sie schon gemerkt, woran? – werde ich mir Teil V nicht anschauen. Irgendwann ist gut.

Was haben die Bourne-Macher vor?
Wollen sie die bisherigen Rekorde der Filmindustrie überbieten? Müssen sie noch ein bisschen drehen, bis sie «Strongman» (93 Filme), «Bauernmädchenreport» (80 Filme) und «Star Peace» (77 Teile) überboten haben werden. (Beachten Sie das schöne Futur II)

Es ist bezeichnend, dass es ab 5 Teilen kein geläufiges Wort mehr gibt, drei ist Trilogie, bis vor einigen Jahren sprach man auch von der «Jason Bourne-Trilogie», vier ist Tetralogie, aber was ist 5,6,7? Pentalogie, Hexalogie und Heptalogie? Klingt so bescheuert, wie es ist. Oder müsste man bei vielen Hollywood-Dauerproduktionen sogar von den noch bescheuerter klingenden Polylogien sprechen?

Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. Stellen Sie sich vor, sie machen etwas solange, bis sie wirklich, wirklich, wirklich genug haben. Dann ist das letzte Mal nicht mehr schön gewesen. Wenn Sie am Urlaubsort bleiben, bis ihnen alle die Piazzas und Portos auf die Nerven gehen, haben Sie sich den Urlaub versaut, wenn Sie solange weiteressen, bis Sie kotzen müssen, haben Sie vom ganzen Essen nix gehabt. Wenn Sie immer was «dranhängen», wenn Sie immer Supplement wollen, bekommt alles einen schalen Beigeschmack. 

Zweyte Theyle sind Unding.
Dummerweise hat der Weimarer Grossdenker sich selber nicht daran gehalten, er hat uns nicht nur den Faust II beschert, den niemand versteht, den niemand aufführen kann, der nur da ist, damit Schüler darüber Abitur Aufsätze schreiben können,
(Diskutieren Sie das Verhältnis Fausts und Helenas auf dem Hintergrund der Gretchentragödie. Nehmen Sie dabei Bezug auf die aristotelische Idee von Beziehung…)
nein, er hat auch zur Zauberflöte einen zweiten Teil probiert, ich habe den mal angefangen zu lesen, aber, nee, da gucke ich mir lieber noch Bourne V an, oder die 78. Folge von Strongman oder die 65. Folge der Bauernmädchen.
Zu seiner Ehrenrettung: Auch dies blieb Fragment wie bei Bruder Friedrich...

Zweyte Theyle sind Unding.
Und dritte auch, und vierte erst recht, und von fünften wollen wir gar nicht reden.