Als ich
neulich das neue Buch von Martin Suter las, Cheers,
eine erneute Sammlung seiner Kolumnen über Manager (Business-Class), war ich ein wenig enttäuscht. Abgesehen davon,
dass 40% der Texte schon in anderen Bänden vorgekommen waren, hatte man bei
vielen Glossen das Gefühl, sie schon zu kennen, sie schon einmal gelesen zu
haben, ihnen schon begegnet zu sein. Vielleicht, so dachte ich, sollte Suter
einfach mal aufhören mit der ganzen Serie, vielleicht läuft sich das Ganze tot.
«Wenn’s am
schönsten ist, soll man aufhören», pflegte meine Mutter – wahrscheinlich wie
viele Mütter – zu sagen, und als Kind fand man den Satz schrecklich, er kam
nämlich immer im blödesten Moment: Wenn man ins Bett gehen sollte, obwohl man
noch 2 Stunden spielen wollte, wenn man von der Rodelbahn nach Hause sollte,
weil die Eltern froren, wenn man aus den Ferien heim musste. Aber der Satz ist
natürlich völlig korrekt.
Viele
Menschen haben Schwierigkeiten mit dem Aufhören. Der 95jährige Schauspieler
will unbedingt noch den Lear spielen und denkt nicht an den armen Menschen in
der Souffliermuschel, der an einem solchen Abend Schwerstarbeiterzulage verlangen
könnte ob der 1437 Hänger. Der 45jährige Sprinter will unbedingt noch einmal
zur Olympiade, nicht bedenkend, dass die Zeit, die er vor 20 Jahren lief,
heutzutage von jedem Sportstudenten erreicht wird. Der berühmte Schriftsteller
will unbedingt noch die runde Zahl vollmachen und sein 50. Buch über den
Bodensee schreiben, obwohl schon das 49. kaum lesbar war.
Meine Mutter
– ja genau die, die den obigen Satz sagte – erzählte von drei Tenören, die nach
Vorstellungen am Staatstheater Stuttgart ausgebuht wurden: Wolfgang Windgassen,
Josef Traxel und Helge Rosvaenge. Alle drei waren Heldentenöre, alle drei
grossartige Sänger, ständige Gäste auf allen grossen Bühnen, alle drei hatten den Moment verpasst, an dem ihr c’’, das sogenannte Hohe C von «noch ertragbar» auf «nicht
mehr auszuhalten» gekippt war.
Aufhören
können.
Auch Federer
hätte wahrscheinlich vor zwei Jahren mit einer grandiosen Siegserie seinen
Ausstieg nehmen und sich entweder seinen Zwillingen oder caritativen Projekten
widmen sollen. Geld kann es ja nicht sein, das ihn zum Weitermachen treibt,
Geld hat er genug, es ist dieses Ich-kann-nicht-Aufhören-Syndrom.
Und nun will
es auch Angie noch einmal wissen. Mit Erstaunen vernahmen wir dieser Tage, dass
die Chefin der Nation, dass Mutti, dass die Herrin der Raute für eine weitere
Amtszeit kandidiert. Auch sie kann es nicht lassen, kann nicht beenden, kann
nicht aufhören, nicht gehen. Gut, Merkel ist – um hier mal eine Wortschöpfung
zu benutzen, die auf sie zurückgeht – alternativlos. Es hat in der CDU zurzeit
niemand, dem man die Bundesgeschäfte in die Hand legen wollte. Warum das so
ist, müsste an anderer Stelle diskutiert werden. Aber das ist ja nicht Angies
Problem. Wenn Sie jetzt entschieden hätte, sich auf ihr Altenteil zurückzuziehen,
auszuschlafen, auf dem Sofa zu liegen und Wagner zu hören, ein gutes Buch zu
lesen oder all die Kochrezepte auszuprobieren, die sie auf ihren Reisen
kennengelernt hat, wenn sie beschlossen hätte, dass ein Tag am Badestrand
schöner ist als ein Tag im Kanzleramt, dann könnte niemand sie zwingen.
Allein der
Wechsel im White House wäre doch schon ein Grund. Will sie wirklich regelmässig
mit dem Trumpeltier telefonieren, konferieren, zusammensitzen? Will sie
wirklich ein Vertrauensverhältnis zu jemand aufbauen, der kein Vertrauen
verdient? Will sie, die in ihrem eigenen Land – und das ist eine ihrer grössten
Leistungen – eine Kultur der Offenheit und Willkommenheit durchgesetzt hat, wirklich
mit jemandem zusammenarbeiten, der Mauern und Zäune bauen will? Sie könnte
stattdessen mit ihrem guten Freund Barak am Kudamm einen Kaffee trinken und die
beiden könnten über ihre Nachfolger kichern, sie könnten das auch in New York
oder Miami, in Rom oder Paris tun, und jetzt nur noch mit leichtem Personenschutz
und keinem 10fachen. Oder sie könnte Obama auf den Grünen Hügel mitnehmen und
nach dem Rheingold mit ihm bei Bier
und Bratwurst über den Castorf-Ring lästern.
Aber sie tut
das alles nicht. Sie leidet, wie so viele Menschen am
Nicht-Aufhören-Können-Syndrom.
«Wenn es am
schönsten ist, soll man aufhören.» Und da dies niemand beherzigt, werden wir irgendwann
von Leuten umgeben sein, die ihren Aufgaben eigentlich nicht mehr gewachsen sein
werden. Wir werden dann von 90jährigen Chirurgen operiert, die ein Leben
ausserhalb des OP einfach nicht akzeptieren können, denen aber die Hand so
zittert, dass ein Wiedererwachen Glücksache ist, wir werden dann von
100jährigen Chauffeuren kutschiert, die einfach die Strasse und das Steuer
brauchen auch wenn sie zwar Steuerrad, aber nicht mehr die Strasse sehen
können, der 95jährige Kellner wird dann unsere Bestellung schon auf halbem Weg
zur Theke vergessen haben, und wenn er doch schliesslich bestellt hat, wird uns
eine klumpige Sauce serviert, weil der 107jährige Koch keine Kraft mehr zum
Rühren hat.
Aufhören
können.
Es gibt aber
doch auch leuchtende Beispiele. Beat Raaflaub hat neulich mit einem
fulminanten, musikalisch eindrücklichen, beeindruckenden, exzellenten
Verdi-Requiem sein Abschiedskonzert gegeben und seine Chöre in jüngere Hände
gelegt, und das zu einer Zeit, in der er sicher noch zehn Jahre hätte
weitermachen können.
Chapeau.
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