Freitag, 25. November 2016

Das Nicht-Aufhören-Können-Syndrom oder: Angie will noch mal



Als ich neulich das neue Buch von Martin Suter las, Cheers, eine erneute Sammlung seiner Kolumnen über Manager (Business-Class), war ich ein wenig enttäuscht. Abgesehen davon, dass 40% der Texte schon in anderen Bänden vorgekommen waren, hatte man bei vielen Glossen das Gefühl, sie schon zu kennen, sie schon einmal gelesen zu haben, ihnen schon begegnet zu sein. Vielleicht, so dachte ich, sollte Suter einfach mal aufhören mit der ganzen Serie, vielleicht läuft sich das Ganze tot.

«Wenn’s am schönsten ist, soll man aufhören», pflegte meine Mutter – wahrscheinlich wie viele Mütter – zu sagen, und als Kind fand man den Satz schrecklich, er kam nämlich immer im blödesten Moment: Wenn man ins Bett gehen sollte, obwohl man noch 2 Stunden spielen wollte, wenn man von der Rodelbahn nach Hause sollte, weil die Eltern froren, wenn man aus den Ferien heim musste. Aber der Satz ist natürlich völlig korrekt.

Viele Menschen haben Schwierigkeiten mit dem Aufhören. Der 95jährige Schauspieler will unbedingt noch den Lear spielen und denkt nicht an den armen Menschen in der Souffliermuschel, der an einem solchen Abend Schwerstarbeiterzulage verlangen könnte ob der 1437 Hänger. Der 45jährige Sprinter will unbedingt noch einmal zur Olympiade, nicht bedenkend, dass die Zeit, die er vor 20 Jahren lief, heutzutage von jedem Sportstudenten erreicht wird. Der berühmte Schriftsteller will unbedingt noch die runde Zahl vollmachen und sein 50. Buch über den Bodensee schreiben, obwohl schon das 49. kaum lesbar war.

Meine Mutter – ja genau die, die den obigen Satz sagte – erzählte von drei Tenören, die nach Vorstellungen am Staatstheater Stuttgart ausgebuht wurden: Wolfgang Windgassen, Josef Traxel und Helge Rosvaenge. Alle drei waren Heldentenöre, alle drei grossartige Sänger, ständige Gäste auf allen grossen Bühnen, alle drei hatten den Moment verpasst, an dem ihr c’’, das sogenannte Hohe C von «noch ertragbar» auf «nicht mehr auszuhalten» gekippt war.
Aufhören können.
Auch Federer hätte wahrscheinlich vor zwei Jahren mit einer grandiosen Siegserie seinen Ausstieg nehmen und sich entweder seinen Zwillingen oder caritativen Projekten widmen sollen. Geld kann es ja nicht sein, das ihn zum Weitermachen treibt, Geld hat er genug, es ist dieses Ich-kann-nicht-Aufhören-Syndrom.

Und nun will es auch Angie noch einmal wissen. Mit Erstaunen vernahmen wir dieser Tage, dass die Chefin der Nation, dass Mutti, dass die Herrin der Raute für eine weitere Amtszeit kandidiert. Auch sie kann es nicht lassen, kann nicht beenden, kann nicht aufhören, nicht gehen. Gut, Merkel ist – um hier mal eine Wortschöpfung zu benutzen, die auf sie zurückgeht – alternativlos. Es hat in der CDU zurzeit niemand, dem man die Bundesgeschäfte in die Hand legen wollte. Warum das so ist, müsste an anderer Stelle diskutiert werden. Aber das ist ja nicht Angies Problem. Wenn Sie jetzt entschieden hätte, sich auf ihr Altenteil zurückzuziehen, auszuschlafen, auf dem Sofa zu liegen und Wagner zu hören, ein gutes Buch zu lesen oder all die Kochrezepte auszuprobieren, die sie auf ihren Reisen kennengelernt hat, wenn sie beschlossen hätte, dass ein Tag am Badestrand schöner ist als ein Tag im Kanzleramt, dann könnte niemand sie zwingen.
Allein der Wechsel im White House wäre doch schon ein Grund. Will sie wirklich regelmässig mit dem Trumpeltier telefonieren, konferieren, zusammensitzen? Will sie wirklich ein Vertrauensverhältnis zu jemand aufbauen, der kein Vertrauen verdient? Will sie, die in ihrem eigenen Land – und das ist eine ihrer grössten Leistungen – eine Kultur der Offenheit und Willkommenheit durchgesetzt hat, wirklich mit jemandem zusammenarbeiten, der Mauern und Zäune bauen will? Sie könnte stattdessen mit ihrem guten Freund Barak am Kudamm einen Kaffee trinken und die beiden könnten über ihre Nachfolger kichern, sie könnten das auch in New York oder Miami, in Rom oder Paris tun, und jetzt nur noch mit leichtem Personenschutz und keinem 10fachen. Oder sie könnte Obama auf den Grünen Hügel mitnehmen und nach dem Rheingold mit ihm bei Bier und Bratwurst über den Castorf-Ring lästern.
Aber sie tut das alles nicht. Sie leidet, wie so viele Menschen am Nicht-Aufhören-Können-Syndrom.  

«Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören.» Und da dies niemand beherzigt, werden wir irgendwann von Leuten umgeben sein, die ihren Aufgaben eigentlich nicht mehr gewachsen sein werden. Wir werden dann von 90jährigen Chirurgen operiert, die ein Leben ausserhalb des OP einfach nicht akzeptieren können, denen aber die Hand so zittert, dass ein Wiedererwachen Glücksache ist, wir werden dann von 100jährigen Chauffeuren kutschiert, die einfach die Strasse und das Steuer brauchen auch wenn sie zwar Steuerrad, aber nicht mehr die Strasse sehen können, der 95jährige Kellner wird dann unsere Bestellung schon auf halbem Weg zur Theke vergessen haben, und wenn er doch schliesslich bestellt hat, wird uns eine klumpige Sauce serviert, weil der 107jährige Koch keine Kraft mehr zum Rühren hat.

Aufhören können.

Es gibt aber doch auch leuchtende Beispiele. Beat Raaflaub hat neulich mit einem fulminanten, musikalisch eindrücklichen, beeindruckenden, exzellenten Verdi-Requiem sein Abschiedskonzert gegeben und seine Chöre in jüngere Hände gelegt, und das zu einer Zeit, in der er sicher noch zehn Jahre hätte weitermachen können.
Chapeau.















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