Dienstag, 20. Oktober 2020

Ich möchte meinen Lieblingsbettlern weiterhin etwas geben dürfen

Es ist 8.30, als ich am Bahnhof SBB aus dem Bus steige. Sofort laufe ich Jimmy in die Arme, meinem Lieblingsbettler – und das meine ich nicht ironisch. Jimmy ist ein Nachkomme des Hauptmann von Köpenick, er hat keine Wohnung, weil er keine Arbeit hat, und er hat keine Arbeit, weil er keine Wohnung hat. Groteskerweise weigern sich Vermieter, ihm ein Appartement anzubieten, obwohl das Sozialamt dem Mietzins übernehmen würde, und das Amt ist der zuverlässigste Zahler, den man sich vorstellen kann. Natürlich bekommt Jimmy sein Geldstück von mir, das ist Ehrensache.

Über die Wirklichkeit, die die Literatur nachahmt, habe ich ja schon oft geschrieben, das ist ja ein Lieblingsthema von mir. Und wie Jimmy eine Imitation der Figur von Zuckmayer ist, scheint die Bettlerin, die mir 100 Meter später entgegenschlurft, eine Fleischwerdung der Gestalten aus der Dreigroschenoper. Dort schickt der alte Peachum Bettler auf die Tour, die dann das Geld bei ihm abliefern müssen. Und die Frau in den dreckigen Wickelröcken mit dem schmutzigen Kopftuch muss ihr Geld auch abgeben, genauso wie ihre 30 Kolleginnen, die den Bahnhofsvorplatz überschwemmen, genauso auch wie der alte Mann mit Krücke (die er übrigens abends nicht mehr braucht, ich habe es mit eigenen Augen gesehen…) Dass die Frau einen Fake produziert, zeigt auch ihr Schild:
HABÄ HUNGGER – BITE ESEN FÜR KINDERR – BITE GLEINNE SPÄNDE
Jeder andere Bettler würde sich ein Schild von jemand schreiben lassen, der die deutsche Sprache beherrscht.
Natürlich bekommen die Berufsbettler von mir keinen Rappen.

Vor dem Bahnhofseingang steht dann auch wieder die Drogensüchtige, die einfach in die Menge ruft: „Bitte geben Sie mir etwas Geld! Bitte! Bitte! Ich brauche Geld!“ Auch Sie erinnert mich an Literatur, ich weiss nur nicht mehr, an was. Eine Gestalt aus der Griechischen Tragödie? Bei Brecht? Ich weiss nur, dass ich ihr wieder nichts geben werde, aber das mit einem leichten schlechten Gewissen. Aber was tue ich mit meiner Spende? Ich werde ihr Problem nur verlängern, nur perpetuieren, ich werde eine Lösung nur hinauszögern.

Was mir so wichtig ist: Ich möchte selbst entscheiden können, wem ich etwas gebe und wem nicht. Ich möchte nicht, dass der Staat eingreift, ich möchte kein Verbot, ich bin selbst mündig und habe ein wenig Verstand. Ich möchte, dass Jimmy – und die vielen anderen, die höflich und nett sind – sein Geld bekommt und nehme deshalb die Berufsbettler in Kauf. Wenn niemand diesen Horden Knete gibt, dann werden sie sicher irgendwann verschwinden.

Guck, da kommt ein Neuer! Den kenne ich ja noch nicht. Er sei Künstler, sagt er, und er werde mal sehr berühmt, und wenn ich ihm etwas gebe, sagt er, dann könne ich in sein Atelier, also in das Kellerloch, in dem er hause und Objekte mache, da könne ich hinkommen und er werde mir ein kleines Objekt gebe, das werde einmal sehr, sehr, sehr wertvoll…
Totaler Quatsch?
In den 50er Jahren bettelten auf den Strassen von Paris manchmal ein Mann und eine Frau, er auf der rechten und sie auf der linken Strassenseite, und hätte man für eine Spende damals eine Arbeit verlangt, hätte man sehr viel Geld damit machen können, es waren nämlich Eva Aeppli und Daniel Spoerri, die in fast allen internationalen Sammlungen zu finden sind. Der dritte im Bunde – das ist jetzt auch wirklich wahr – bettelte nicht. Er klaute. Er fragte in Tante-Emma-Läden nach leeren Pappkartons, und wenn die Besitzerin dann nach hinten ging, stopfte er sich die Taschen voll. Es war der damalige Partner Evas: Jean Tinguely.

Und hier sind wir bei den schrecklichen Dingen, die die Bettlerinnen und Bettler tun werden, wenn man das Betteln verbietet: Sie werden klauen.
Und mir wäre lieber, wenn ich das nächste Mal im Zug geweckt und gefragt werde, ob ich nicht die 20 Franken und 10 Euro einfach hergeben kann. Das erspart mir 15 Stunden in den Hotlines von Mastercard®, UBS®, Bahncard®, SBB®, etc., etc. Und mein Portemonnaie bleibt bei mir, es ist ein Unikat, Fairtrade aus Lederresten, ich habe darüber geschrieben.

Die Bettlerinnen und Bettler könnten aber noch etwas viel, viel, viel Schrecklicheres tun als Stehlen, grausamer und gemeiner, fieser und tödlicher.
Nein, nicht morden.
Nein, nicht erpressen.
Nein, nicht betrügen.

Sie könnten Musik machen.
Und wenn ich mir vorstelle, dass die osteuropäische Frau im Schmuddelkleid und mit Schmuddelkopftuch sich eine Klampfe schnappt, und auf der ungestimmten Laute – diese Leute wissen gar nicht, wozu die kleinen Drehknöpfe dienen – herumpatscht und dazu grölt:
Häutä Naaaaaaacht – oyoyoyoyoyoy
Häutä Naaaaaaacht – oyoyo – oyoyoy – oyoyo
Kommmmmmmmmmmmmmmmst du zu mirrrrrrrr.
Oyoyoyoyoyoyo.
Ja, dann jagen mir solch kalte Schauer über den Rücken, dass ich mir ernsthaft überlege, ob ich nicht doch auch den Berufsbettler etwas geben sollte.

Und wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, doch auch endlich etwas zahlen wollen für diesen Blog:
Ich stehe heute von 13.00 – 15.30 vor der Hauptpost. 

P.S.: Den ersten Teil habe ich ein wenig hingebogen. Denn natürlich ist der Hauptmann keine Erfindung von Zuckmayer, es gab ihn wirklich... 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen