Freitag, 23. Oktober 2020

Der Papierberg vor meinem Haus

Liebe Leserin, lieber Leser
Sie dürfen mit der Dienstag-Freitag-Glosse machen, was Sie mit ihr machen wollen. Sie dürfen Sie lesen, sich an ihr freuen, sie weiterempfehlen, sie kopieren, in eigene Texte einfügen, sie dürfen sie aber auch haten, sie beschimpfen, sie blöd finden, sie dürfen sie kommentieren oder eben nicht kommentieren, sie dürfen sie in den Himmel loben oder zur Hölle wünschen, sie dürfen sie an Ihre Omas und Ihre Neffen weitergeben oder Ihre Tante oder Ihre Enkel vor ihr warnen.
Sie dürfen alles.
Ausser…
Drucken Sie bitte keine Posts aus.

Heute Morgen war wieder einmal (wie immer einmal im Monat) Papier- und Kartonabholung. Und wie immer einmal im Monat starrte ich auf den Haufen, der ungefähr die Grösse, Breite und Länge eines ausgiebigen Kleiderschrankes hatte. Und das war nur vor der Kleberstrasse 81, wo ich wohne, vor Kleberstrasse 83 stand noch einmal ein Kleiderschrank, und vor 85 waren es noch einmal 10 Kubikmeter und vor dem überüberübernächsten Haus auch noch einmal 12.

Hier muss ich nun zunächst die Bewohnerinnen und Bewohner von Kleberstrasse 81, Kleberstrasse 83, Kleberstrasse 85 und natürlich selbstverständlich auch die Leute, die in der Kleberstrasse 87 wohnen, in Schutz nehmen: Ganz viel Papier, das vor den vier Häusern steht, haben diese Menschen unfreiwillig bekommen.
So befanden sich zum Beispiel in dem Grosshaufen, der vor meinem Fenster auf die Papier-in-den-LKW-Werfer harrte, 10 Exemplare von UNSere Zeitung, dem Kundenmagazin der UNS-Bank, der unser Haus gehört. Ein Machwerk mit 30 Seiten, das die aktuellen Entwicklungen der UNS-Bank beschreibt und von niemand im Gebäude gelesen wird. Ich bitte Sie, ich habe zweimal einen Blick auf die Schlagzeilen geworfen, diese Bank scheint eine NGO zu sein, eine karitative Einrichtung und ihr CEO steht kurz vor seiner Heiligsprechung, genauso sieht es natürlich bei UBS und Credit Suisse aus, ebenso natürlich bei der Deutschen Bank oder der Dresdner Bank.
Zu diesen UNS-Bank-Zeitungen kommen diverse Periodika der Krankenversicherungen, Haftpflichtversicherungen, der Gaswerke, E-Werke, Zeitungen der Post und der Telefongesellschaften, alles Journale, auf die w-l-ww-Regel zutrifft:
Niemand will sie.
Niemand liest sie.
Jeder wirft sie weg.

In Basel herrscht gerade Wahlkampf und diese Kampagne beschert uns ebenfalls eine Flut von Papier, die epidemische Ausnahme angenommen hat. Wenn man bedenkt, dass gar nicht hinter (oder neben) jedem Briefkasten ein Mensch wohnt, der wählen darf (in Basel sind es zig Tausende ohne Stimmrecht), wenn man bedenkt, dass es 15 Listen gibt und wenn man jetzt auch noch bedenkt, dass ganz, ganz viele wissen, ob sie links, mittig oder rechts wählen (weil sie das seit Jahrzehnten tun), dann kann man sich vorstellen, welcher Berg an Papier hier angehäuft wird.

Auch haben einige Restaurants noch nicht begriffen, dass der Corona-Lockdown vorbei ist, sie bombardieren die Briefkästen mit Menü-Vorschlägen. Dass es Menschen gibt, die nicht ins Wirtshaus gehen, weil sie selber kochen, dass es Haushalte gibt, in denen jeden Abend jemand am Kochtopf steht, dass es Menschen gibt, die man mit vergilbten Fotos von Nudelgerichten nicht anlocken kann, das scheint nicht in deren Köpfe zu gehen.

Nun muss aber doch mit dem Finger auf Leute gezeigt werden, mit dem Finger, dem nackten Zeigefinger, auf die Bewohner der Kleberstrasse 81, 83, 85 und 87, mit dem Zeigefinger natürlich auch auf mich, den Finger in die Wunde, aufs Herz, aber da sagt man ja eher Hand aufs Herz, es wird also nun gedeutet und gezeigt und gesagt:
So ganz unschuldig sind wir an dem Papierberg nicht.

Word® bietet beim Drucken drei Möglichkeiten: Aktuelle Seite, Ganzes Dokument und Seitenbereich. Das sind schöne Möglichkeiten, man muss also nicht immer seitenweise Papier verschwenden, sondern kann gezielt das printen, was man braucht. Wenn Sie also z. B. etwas in der Hand haben wollen, wenn Sie im bei buchen.com gebuchten Hotel an der Rezeption stehen, genügt die erste Seite. Auf den nachfolgenden sind unter anderem die Angebote des Hotels gezeigt, aber wollen Sie wirklich der Rezeptionistin ein Foto des hoteleigenen Schwimmbades zeigen? Sie WEISS, dass das Hotel einen Pool hat – hoffentlich.
Und wenn Sie den Wikipedia-Artikel über die Publizistin Holla Holderbusch (1967–2005) papierig in den Händen halten wollen, dann überlegen Sie sich bitte, ob Sie die ganze Liste der Veröffentlichungen der – leider viel zu früh verstorbenen – Dame brauchen. Da Sie vor allem in ZEIT, Süddeutscher, FAZ und taz schrieb, ist die Liste sehr, sehr, sehr lang. Und eine Reduzierung auf den Text über ihr Leben würde das ausgedruckte Doc um die Hälfte verringern.

Natürlich können Sie jetzt sagen, das ist ein Tropfen auf den…
Aber überlegen Sie mal: Wenn jede Baslerin und jeder Basler jeden Tag eine Seite weniger ausdruckt (und dann wegwirft), dann sind das 200000 DIN A4-Seiten pro Tag in dieser Stadt und 73 Millionen Seiten pro Jahr.

Liebe Leserin, lieber Leser
Sie dürfen mit der Dienstag-Freitag-Glosse machen, was Sie wollen. Sie dürfen Sie vertonen, ein Musical oder eine Oper aus ihr machen, Sie dürfen Sie öffentlich rezitieren, in der Strasse oder im Park, Sie dürfen Sie an Hauswände schmieren oder in Bäume ritzen.
Nur eines nicht:
AUSDRUCKEN





 

 

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