Freitag, 26. März 2021

Digital Natives können nicht mit dem PC umgehen

Ich schaue meinem Grossneffen Jason über die Schulter, der an einer Arbeit für die Schule sitzt. «Ich würde da noch eine Fussnote einfügen», sage ich. Er guckt mich an: «Aber dann muss ich ja alle Fussnoten danach neu machen», mault er. Ich starre ihn an: «Ja, hast du denn nicht…?» Von Erstaunen und Entsetzen gepackt schnappe ich mir den Laptop und mache eine kurze Bestandsaufnahme:
Jason hat als Fussnoten einfach (zahl) hinter ein Wort geschrieben und NICHT die automatischen Fussnoten von Word benutzt – so wie ich es in grauer Vorzeit gemacht habe.
Jason hat ein Inhaltsverzeichnis geschrieben, bei dem er die Seitenzahlen alle ändern müsste, wenn er noch was schreibt und NICHT das automatische von Word benutzt – so wie ich es in grauer Vorzeit gemacht habe.
Jason hat alle Bilder links im Text, und bei keinem Bild hat er die Grösse geändert, sodass jetzt winzige bunte Fleckchen und üppigste Riesenaufnahmen sich abwechseln.
Aber es kommt noch besser:
Jason hat bei einer Aufzählung mit zwei Spalten offensichtlich Leerschläge abgezählt und NICHT den Tabulator benutzt, sodass beim Ausdrucken das Zeug niemals übereinanderstehen wird.
«Jason», sage ich und lege ihm die Hand auf die Schulter, «du kommst am Wochenende zu mir, dann koch ich was Schönes, und dann zeige ich dir, wie man mit dem Computer umgeht: Automatische Fussnoten, Inhaltsverzeichnis, Bilder anpassen und einfügen und positionieren und mit dem Tab umgehen…»

Sie glauben mir die Geschichte nicht?
Gut, sie ist auch erfunden, erstens heisst mein Grossneffe nicht Jason und zweitens gibt es ihn gar nicht.
Aber die Geschichte könnte stimmen. Glauben Sie auch nicht? Sie denken, dass Jason als «Digital Native», als mit dem PC Aufgewachsener, als Kind des 21. Jahrhunderts, als Computergeborener alle diese Dinge doch wissen müsste und ich als «Digital Non-Native», als nicht mit dem PC Aufgewachsener, als Kind des 20. Jahrhunderts, als Computerungeborener eben diese Dinge nicht wissen kann. Stimmt aber so nicht. Gerade die Digital Native können vieles nicht, sie können zwar
chatten – gamen – chatten – YouTube gucken – noch mehr gamen – SMS senden – Foto machen – noch mehr gamen…
aber all das ist mehr Konsum als die Herstellung einer richtigen Sache.

Wenn ich aber nun ganz ehrlich mit mir bin, ist das gar nicht so ungewöhnlich, gar nicht so seltsam. Auch für mich gibt es Dinge, die es zu meiner Zeit schon gab, die ich aber auch nicht wirklich verstehe.
Nehmen wir nur das Auto:
Das Automobil wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfunden und in meiner Jugendzeit gab es in Stuttgart schon eine Menge Autos, das heisst ich bin – im Gegensatz zu früheren Generationen – ein «Car Native». Aber was weiss ich vom PKW und was kann ich? Nicht viel. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ein Auto funktioniert, ich kenne zwar Begriffe wie Vergaser, Kurbelwelle, Getriebe und Scheibenbremse, aber ich habe keine Ahnung, was Vergaser, Kurbelwelle, Getriebe und Scheibenbremse machen und ich könnte niemals Vergaser, Kurbelwelle, Getriebe und Scheibenbremse reparieren. Ich kann auch nicht einparken, weder vorwärts noch rückwärts, und wenn Sie sich jetzt fragen, wie ich meine Fahrprüfung geschafft habe, dann muss ich erzählen, wie das war: Ich konnte an einem einzigen Tag einparken, vorwärts und rückwärts, und dieser Tag war der 25. März 1991, und dieses Datum steht auf meinem Führerschein, es war der Tag meiner Prüfung. (vor fast genau 30 Jahren)
Ich weiss und kann also wenig rundum das Auto, obwohl ich ein «Car Native» bin.

Aber gehen wir mal zu Ihnen: Wissen Sie, wie eine Batterie funktioniert? Und wie eine Klospülung? Und wissen Sie, wie ein Reissverschluss arbeitet? Gut, dann versuchen Sie mal das zu erklären. Schriftlich. Sie werden scheitern, garantiert. Darauf weist Rolf Dobelli in seiner Kunst des guten Lebens hin.
Sie könnten nicht wirklich erklären, wie diese Sachen aufgebaut sind, und das obwohl Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit Battery-Natives, Skip-Natives und WC-Natives sind. (Sehr alte Menschen könnten noch aus Zeiten und vor allem Gegenden mit Schnürung, Abtritt und stromlos kommen, aber das werden die wenigsten sein.)

Ich schaue meinem Grossneffen Jason über die Schulter, der an einer Arbeit für die Schule sitzt. «Ich würde da noch eine Fussnote einfügen», sage ich. Er guckt mich an: «Aber dann muss ich ja alle Fussnoten danach neu machen», mault er. Ich starre ihn an: «Ja, hast du denn nicht…?»
Seien wir ein wenig milde mit ihm, auch wir haben viele Dinge, die wir seit 50 Jahren kennen, aber wir wissen nicht, wie sie funktionieren.

Und wenn wir sie benutzen, dann nie mit allen Möglichkeiten, die sie uns bieten.





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