Donnerstag, 24. März 2016

Ein geheimes Konzert am Karfreitag


Ich habe Ihnen noch gar nicht erzählt, was mir am Karfreitag des letzten Jahres, also 2015, passiert ist.
Ich war in einer grösseren deutschen Stadt, aus Sicherheitsgründen, immerhin geht es um Menschen, die in Gefahr geraten könnten, Sie werden später merken, warum, codiere ich ihren Namen mit Mannfurtbaden. Ich sass also am Morgen jenes hohen Feiertages in Mannfurtbaden in der U-Bahn, als ich zwei Männer vor mir tuscheln hörte. Obwohl sie extrem leise redeten, schnappte ich doch einen Brocken auf: «…20.00 Uhr, Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit, Passwort VIBRATO…»

Den ganzen Tag liess mir dieser Brocken keine Ruhe. Was hatten die Geheimtuer am Abend in der Kirche vor? Und das am Heiligen Tag? Sie hatten einen sehr seriösen Einduck gemacht, so dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie dort eine Schwarze Messe feiern, Hühnerblut verspritzen, dass sie dort eine Nazi-Kundgebung oder eine Revolution machen würden. Und VIBRATO ist ja ein Wort aus der Musik…  Oder hatten sie doch VIBRATOR gesagt? Planten sie eine Sex-Orgie? Einen (s.v.v.) Rudelbums? Nein, ein R war nicht dabei gewesen.

Ich war so neugierig, so von den zu Unrecht empfangenen Infos vereinnahmt, dass ich mich abends zur St. Trinitatis begab.
Es standen viele Leute vor dem Portal, alle seriös und dunkel angezogen, alle machten sie einen eher gebildeten und kulturellen Eindruck, so dass meine Neugier nur noch grösser wurde. Einzeln wurden wir eingelassen und mussten dem Sicherheitsmenschen unsere Parole sagen. «Vibrato» «Bitte schön, einen genussvollen Abend.»
Als ich in das Kirchenschiff kam, war ich bass erstaunt: Da standen Notenständer! Da stand ein Orgelpositiv und lag ein Kontrabass! Es war für ein Orchester und einen Chor bestuhlt, vorne ein Podest und ein Dirigentenpult.
Meine Spannung wuchs in unerträgliche Ausmasse.
Um 20.10 war es endlich so weit, alle hatten die Passwortkontrolle passiert, die Kirche war zu 2/3 voll und vorne betrat ein Mann die Bühne. Er schnappte sich ein Mikrofon und begann zu reden:
«Liebe Mitglieder und Freunde des VNHA, des Vereins für Nichthistorische Aufführungen. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind und darf Ihnen heute einen Leckerbissen präsentieren: Die Lukas-Passion von A. B. Schmutzbauer. Wir haben ein ausländisches Ensemble, selbstverständlich bleiben sie auch dieses Jahr aus Sicherheitsgründen anonym, sie sind unter schärfster Geheimhaltung und schärfsten Sicherheitsvorkehrungen hierher gebracht worden. Und nun wünsche ich Ihnen allen interessante und geniesserische anderthalb Stunden.»

Die Musiker und der Chor betraten die Bühne, die Orchesterleute stimmten (auf 443 (!) Hertz), dann kamen Sopranistin, Altistin (was sonst?), Tenor, Bass und der Dirigent. Applaus. Verbeugung. Und dann ging es los. Der Eingangschor: «Wehe! Wehe! Schmerzen! Schmerzen!» bot allen Beteiligten die Möglichkeit, ihre unhistorische Einstellung sofort auszuleben. Die Geigen spielten saftig und schmusig, sparten nicht mit Vibrato, viel Lagespiel, der Chor sang breit und strömend, jede Artikulation vermeidend.
Schon jetzt litt ich Höllenqualen, aber an eine Flucht war nicht zu denken. Wenn ich nun aufgestanden und gegangen wäre, hätte ich mich sofort als Spion enttarnt. Und als Spion in einer Art Loge, in einem Geheimbund enttarnt zu werden, ist ein wenig ungeschickt. Also blieb ich sitzen und liess die Schmutzbauer-Passion über mich ergehen, ich liess die Schmalzgeigen über mich ergehen, die viel zu lauten Bläser, den brahmsenden Chor, ich ertrug den Sopran der wie eine Traviata, den Tenor, der wie Siegfried und den Bass, der wie Wotan sang.

Nach 90 Minuten war der Spuk vorbei und das Publikum applaudierte heftigst. Beim Hinausgehen sprach mich noch einer an, ob ich noch zum Umtrunk mitkäme, ich lehnte aber mit dem Hinweis auf die Verarbeitungsnotwendigkeit meiner Ergriffenheit ab, so konnte ich endlich in mein Hotel.
Dort angekommen, startete ich sofort meinen PC – und siehe da: Es gab die Passion auf YouTube, in einer Aufnahme mit Les art florissants unter William Christie, und ich zog mir die ganze Sache noch einmal rein, diesmal schwelgte ich. Das war so, wie wenn Obelix sagt: «Ich brauche noch viele Wildschweine, um den Piratenapfel zu vergessen.»
Dann, beruhigt und durch ein Omelett und eine Flasche Montepulciano vom Roomservice gestärkt, kam ich doch ins Grübeln:
Sicher macht MAN heutzutage Barockmusik so nicht mehr, aber weil MAN es nicht mehr macht, müssen Freunde von Schmuseinterpretationen sich in Geheimlogen treffen? Müssen Passwörter vereinbaren? Müssen die Interpreten geheim halten und sie mit Personenschutz an den Konzertort bringen? Aber ich war nicht ganz unschuldig; hatte ich auch nicht schon gedacht: Nach Harnoncourt DARF man einfach nicht mehr so musizieren?
Denn mal ganz ehrlich: Das BGB verbietet nicht
·         Schmalzig-langsam gespielte Barockmusik
·         Verdi auf Deutsch gesungen
·         Inszenierungen in Originalkostümen
Ebenso wenig wie:
·         Naturgetreue Bilder
·         Gedichte, die man versteht

Alles das ist erlaubt, und man müsste vielleicht ein wenig toleranter sein. Gerade Nikolaus H. war das, er liess die Solistinnen und Solisten oft erst nach einer Klavierprobe den Vertrag unterschreiben, nach dem Motto: Ich mach das so, wenn ihr nicht mitmachen wollt, ist das auch OK.
Lassen wir also diejenigen, die den Boris Godunow auf Russisch nicht mögen, diejenigen, die bei einem Bild sofort wissen möchten, ob es richtig herum hängt, die Leute, die einfach eine Matthäuspassion MIT Vibrato lieber haben, in Frieden, lassen wir das Man-darf-das-nicht. Denn – wir erinnern uns: Ich war ja zum VNHA nicht gezwungen worden, ich hatte mich eingeschlichen.


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