Donnerstag, 3. März 2016

Ennio M. die Zweite oder: Kunst ist ein Jungbrunnen


Wir haben eine Sache am Dienstag noch vergessen. Wichtig ist doch nicht nur, dass Ennio jetzt noch mit 87 den Reguläroscar bekommen hat, sondern auch, dass er ihn MIT 87 kriegte. Dass er also in einem Alter, in dem andere nur noch Fernsehgucken, Karten spielen, in dem sie Enten füttern, in dem sie spazieren gehen und aus dem Fenster schauen, in einem solchen Alter noch komponiert und auch dirigiert. Was uns zum Thema bringt:

Kunst hält jung.

Der Künstler mit 90 schaut nicht TV, er macht es, sei es als Drehbuchautor, als Regisseur oder als Schauspieler. Der Künstler mit 85 spielt keine Karten, er entwirft gleich ein ganzes Karten- oder Würfelspiel und bekommt dann noch zum 15. Mal den Preis für das SPIEL DES JAHRES. Die Künstlerin mit 100 füttert keine Enten, sie malt sie, sie geht nicht einfach spazieren, sondern schreibt die 17,5 Spaziergänge für Altstimme, Sousaphon, Schlagzeug und Live-Elektronik nach Texten von Lasker-Schüler, Laotse und Loriot, die von der Fachwelt begeistert aufgenommen werden. Sie blickt nicht einfach auf die Strasse und notiert vielleicht Falschparker, nein, sie fotografiert die Leute, die ihr Auto falsch abstellen, aber nicht etwa, um diese Aufnahmen der Polizei zu zeigen, sondern weil das MOMA schon sehnsüchtig auf die Ausstellung Wrong Parking in My Road wartet.

Warum hält es einen so jung und fit, sich künstlerisch zu betätigen?
Nun, klar könnte man hier physiologische und psychologische Komponenten ins Spiel bringen, könnte von Aktivierung, von Mnemotechnik, von Gehirn- und Körpertraining reden, könnte den Aspekt ins Spiel bringen, dass es so wichtig ist, überhaupt etwas zu MACHEN, zu wissen, warum man morgens aufsteht, aber das ist nicht alles.
Sie können als Künstlerin oder Künstler sich mit 90 einfach alles erlauben, sie können sich benehmen und arbeiten wie ein Teenager, es gibt keine Tabus, es gibt keine Grenzen, Sie müssen niemand etwas beweisen und Sie können niemand mehr wirklich schockieren.
Helen Vita sang zu ihrem 80. Geburtstag-Konzert die deftigsten Sachen, Im Bett bei der Marquise und das Lied vom Besuch beim Cousin, bei dem die junge Lady ihre Unschuld verliert, Liedchen, die man einer 17jährigen zurück ins Maul gestopft hätte.
Der Holländische Cartoonist Peter van Straaten startete mit 70 nun völlig durch, beginnend mit Lust, einer Ausstellung erotischer Bilder und weitergehend mit dem Band Roken, Drinken, Neuken. Welcher junge Zeichner würde es wagen solch heikle Themen – Rauchen, Trinken, Ficken – aufs Papier zu bringen? Nein, nein, nein, damit meine ich nicht den Sex, sondern das erste, denn Peter van Straaten blickt sehr liebevoll auf die Glimmstängler.

Genauso, wie Sie als Greisin oder Greis die heikelsten Sachen machen können, können sie auch die simpelsten wieder abliefern. Einem Pianisten, der mit 95 sein 1000. Konzert bestreitet, glaubt man, dass er eine Chopinetüde hinbringt, er hat es 975x gezeigt. Nun kann er ganz abgeklärt und altersweise sich wieder den schlichteren Sachen zuwenden, den Sonaten Mozarts, den Zweistimmigen Inventionen oder den Kinderszenen. Und teilweise entstehen hier ganz unglaubliche Aufnahmen. «Mozart spielt man mit 8 oder 80», soll Horowitz gesagt haben, «dazwischen nicht.»

Ein besonderer Jungbrunnen ist natürlich das Dirigieren.
Das sage ich nicht, weil ich selber Dirigent bin. Doch, natürlich, deshalb auch, denn wenn Dirigieren das Leben um zwei Jahre verlängert, hätte ich eine positive Bilanz (Rauchen -3, täglich Sport +3, Ensembleleitung +2), wobei man sich fragt, auf was sich das «länger» eigentlich bezieht…
Nein, das Dirigieren ist der Jungbrunnen schlechthin, denn man hat mit Kunst zu tun, mit Leuten zu tun, man betätigt sich musisch UND geistig und es ist nicht so anstrengend wie Balletttanzen. Karl Böhm passte im hohen Alter seine Gesten immer mehr an, war mit 30 bei ihm ein Forte 2 Meter und ein Pianissimo 20 Zentimeter gross, verschob sich das Ganze mit 80 bei ihm zu 20 und 2 Zentimeter, funktionieren tat es dennoch. Trotz viel sparsamerer Bewegungen fiel er manchmal nach dem Schlussakkord seinen Geigern in die Arme, machte nix. Sie stellten ihn wieder auf die Beine und er konnte den Applaus entgegennehmen.
Das Dirigieren ist auch deshalb so ideal für über 80jährige, denn Sie können sich auch eine kleine Absenz erlauben, denn die Musik läuft weiter – das gilt natürlich nicht, wenn Sie das Mädchen mit den Schwefelhölzern oder Nonos Prometeo leiten. Von Sergiu Celibidache erzählt man sich, dass er einmal bei einem Konzert einschlief, kein Wunder bei seinen langsamen Interpretationen. Der Konzertmeister übernahm und Celi machte weiter, als er nach 90 Sekunden wieder erwachte. Immerhin wusste er auf den Ton genau, wo man war, das ist auch schon eine Leistung.

Sie wissen also, was Sie die nächsten Jahre zu tun haben: Malen, Schreiben, Komponieren, Dichten,
Plastizieren, Schauspielern. Ihrer Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Enten füttern können Sie dann noch mit 105.
Und aus dem Fenster schauen mit 110.

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