Freitag, 2. Oktober 2015

Das Sommerende macht mich sentimental und damit vernünftig

Ich habe am Sonntag mein Kästchen im Gartenbad St. Jakob geräumt, das heisst, ich habe Badehose, Schwimmbrille und Handtuch eingepackt, habe die leeren Tuben mit Duschgel, Haargel, Lotion und Sonnencreme (sie waren genau bis zum Saisonende leer), ich habe den Schlüssel abgegeben und mein Depot wieder zurückerhalten. Bevor ich allerdings mein Kästlein verliess, stand ich noch eine Minute davor, ich streichelte noch ein bisschen die Tür, die Stange, die Haken und die Wände und seufzte. Ich seufzte ob des Sommers, der nun wirklich SEHR GROSS war, ich seufzte ob der Winde, die jetzt losgelassen werden, ich seufzte ob des Herbstes, der ja immer ein wenig wie Sterben ist, ich seufzte ob der schwindenden Sonne und der schwindenden Wärme.

Hätten Sie nicht gedacht, dass ich so sentimental sein kann?
So sensibel, sensitiv, so gefühlvoll?
Dass mich die Dinge so angehen, so berühren?
Ja, manchmal bin ich sentimental, bin ich sensibel. Meine Güte, ich bin zwar Berufszyniker, aber auch Berufszyniker dürfen doch mal sensibel sein. Ich glaube, dass selbst Thomas Bernhard an gewissen Abenden, wenn es niemand sah, nur dann(!!), zwei Tränchen verdrückte und leise ob des Sonnenunterganges seufzte.

Sensibel  und sentimental kommen ja eigentlich von sensus und sentire. Das heisst, dass ein sensibler Mensch, ein sentimentaler Mensch zunächst einfach einer ist, der intensiv wahrnimmt, der Schall und Licht, Berührung und Geruch an sich heranlässt, der also – noch so ein heikles Wort sinnlich ist.
Im Englischen bedeutet sensible ja interessanterweise vernünftig.
Und ich behaupte jetzt mal ganz frech, dass ein sensibler, ein sinnlicher Mensch auch vernünftig handelt.

Ich habe nichts gegen Blinde, mir ist aber doch wohler, wenn der Chauffeur der Linie 14 oder 8 oder 6 NICHT blind ist. Mir ist einfach wohler, wenn ich weiss, dass dieser, sollte ein Kind, ein Velo, ein Auto oder ein kleiner Elefant auf den Schienen sein, Kind, Elefant, Auto und Velo sinnlich erfassen kann und entsprechend bremsen; und damit auch Velo, Kind , Dickhäuter und Motorfahrzeug retten.

Ich habe nichts gegen Schwerhörige, mir ist aber doch wohler, wenn sich im Cockpit der Boeing 70 auf dem Flug KLM 7865 nicht folgender Dialog entspinnt:
-Boeing 70, hier Tower, sofort 500 Meter tiefer!
-Tschuldi, aber ich höre nicht mehr so gut, wie war das?
-500 Meter runter, SOFORT!
-Sorry, ich hör echt nicht mehr gut, war das rauf oder runter? Und 400 oder 500?

Ende des Dialogs, Ende des Piloten, des Fluges und auch mein Ende. Solche Befehle müssen nämlich sofort befolgt werden (ohne Nachfragen), weil es bedeutet, dass eine Maschine im Luftraum ist, die irgendwie spinnt und der man zunächst einfach den Weg freischaufelt.

Die Sinne und damit die Vernunft kommen uns immer mehr abhanden. ich habe einen Schüler, der in Aeschi (SO) wohnt und bei mir in Solothurn in die Schule geht. Als ich ihm sagte, dass wir am Nachmittag nach Subingen (SO) zum Fussballspielen gingen, war er erst einmal völlig verwirrt und ärgerlich: Wie er denn da fahren müsse und wohin er fahren solle und wie das alles ginge? Ich erklärte ihm, dass er im gleichen Bus fahren solle und einfach FRÜHER AUSSTEIGEN. Er wohnt seit einem halben Jahr in Aeschi und hatte noch nicht bemerkt, dass die Buslinie 5 von Aeschi  nach Solothurn DURCH SUBINGEN fährt! Die Ohren zugestöpselt, die Augen starr auf den Smartphone-Bildschirm geheftet, hatte er von Orten und Landschaft nichts mitbekommen.

Wir sehen nur noch die Bilder, die eigentlich nicht vor unseren Augen sind, wir nehmen die Geräusche um uns nicht mehr war.
Wir schmecken nichts mehr, weil wir unsere Knospen mit diesem blauen, grünen oder roten Matsch, der in Schwimmbädern und auf Jahrmärkten verkauft wird, verdorben haben. (Mir wird da immer schon beim Angucken schlecht.)
Wir riechen nichts mehr, weil nichts mehr riechen darf. Wohnungen dürfen nicht riechen, Kleidung darf nicht riechen, Menschen dürfen nicht riechen (ich meine nicht stinken). Letzteres kommt aus Amerika, in Arizona und Texas duschen die Leute bis zu 4mal am Tag, um ja nicht den leisesten Körpergeruch zu haben.
Wir fühlen nichts mehr, weil wir Buchseiten durch E-Book-Pages und Spielkarten durch Online-Symbole ersetzt haben.

Heute habe ich meinen Balkon geräumt, die Pflanzen kamen alle nach drinnen, auch das Regal, damit ich innen Platz für die Pflanzen habe. Mein Balkon ist jetzt leer und öde. Bevor ich allerdings meinen Balkon verliess, stand ich noch eine Minute darauf, ich streichelte noch ein bisschen die Tür, das Geländer, den Boden und die Wände und seufzte. Ich seufzte, ob des Sommers, der nun wirklich SEHR GROSS war, ich seufzte, ob der Winde, die jetzt losgelassen werden, ich seufzte ob des Herbstes, der ja immer ein wenig wie Sterben ist, ich seufzte ob der schwindenden Sonne und der schwindenden Wärme.

Hätten Sie nicht gedacht, dass ich so sentimental, so sensibel, so gefühlvoll und sinnlich bin?

Ich bin halt ein vernünftiger Mensch.











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