Ich habe in den Herbstferien eine kleine Rundreise durch
Deutschland gemacht, bei der ich alte Freunde besuchte, eine Fahrt, die in
Leipzig begann und die in Berlin endete. Und ich lasse mich von den Eindrücken
zu kleinen Texten anregen.
In Leipzig lese ich den folgenden an einer Platane hängenden
Zettel:
Wer hat gestern, am 5.10.2015 ein rot-blaues Wolltuch
gefunden?
Es handelt sich um das Schmusetuch meines Sohnes xxxx, ohne
das er eigentlich keinen Schritt macht.
Bitte meldet euch unter schmusetuch-xxxx@gmx.de
Vielen Dank
Ich habe den Namen von xxxx vergessen, aber wir geben dem
Bürschlein jetzt einfach mal den Namen Malte-Torben.
Malte-Torben hat schon tolle Eltern, sie nehmen seine Sorgen
und Nöte nicht nur ernst, nein, sie handeln auch sofort, sie drucken Zettel und
hängen sie auf und richten sogar für die Lösung der Schmusetuch-Katastrophe
eine eigene E-Mail-Adresse ein. Denn es kann ja nicht sein, dass der arme
kleine Fratz nun mehrere Tage in seinem Bettchen liegt und nicht mal aufs Klo
kann, weil er ja – wie weiland Linus – ohne Tuch KEINEN SCHRITT macht.
Aber dann stossen uns doch kleine Fragen auf, sie blubbern
die Kehle hoch und strampeln durch den Hals und wollen formuliert werden, gut,
formulieren wir sie, die kleinen Biester:
Wie konnte das Tuch denn verloren gehen, wenn Malte-Torben
KEINEN SCHRITT ohne das Ding unternimmt? Schlief er in seinem Bettchen und Papa
hat das Schmusteil zum Joggen mitgenommen und dann verloren? Unwahrscheinlich.
Ebenso unwahrscheinlich, dass Mama es verschludert hat. Wahrscheinlich ist,
dass es Malte-Torben aus der Hand gerutscht ist, als er etwas entdeckt hat, das
im Moment wichtiger als das Tuch war, einen Vogel, eine Blume, ein Bio-Eis oder
einen Müslikeks (Natürlich nimmt Malte-Torben nur Müslikekse und Bio-Eiscreme
zu sich) und dass er dann das Tuch irgendwo vergessen hat, aber dazu muss er ja
EIN PAAR SCHRITTE gelaufen sein, oder?
Eine andere Frage ist allerdings – und ich wage sie zu
stellen, obwohl ich keine Kinder und damit in den Augen der meisten
Malte-Torben-Mütter und Malte-Torben-Väter auch keinen blassen Schimmer von
Erziehung habe – ob man die jungen Menschen nicht irgendwann auf das Thema
„Verlust“ einstimmen sollte. Ganz nach dem Motto, das ich stets hörte: „Hättest
du besser aufgepasst.“ Ich bekam zum Beispiel, wenn mir ein Softeis oder ein
Stück Kuchen, eine Portion Pommes oder etwas ähnlich Ungesundes (meine Mutter
gab mir so schreckliche Sachen, im Gegensatz zu Malte-Torben, der ja seine
Müslikekse und seine Bio-Eiscreme hat und so Furchtbares nicht essen muss),
also wenn mir das aus der Hand rutschte nicht einfach eine neue Ladung, obwohl
wir es uns hätten leisten können. Genauso hätte ich sicher ein NEUES
Schmusetuch bekommen, aber man hätte für das alte nicht die Welt auf den Kopf
gestellt. Und wenn ich gesagt hätte, ich mache KEINEN SCHRITT ohne mein Tuch,
dann wäre die lapidare Äusserung gekommen, dass ich dann halt bis ans Ende
meiner Tage dort stehenbleiben könne, wo ich sei. Nein, ich finde, auch ein
ganz Kleiner sollte mitbekommen, dass Dinge verloren gehen können und dass das
Leben immer auch Verlust mit sich bringt.
Eine dritte Frage stösst, blubbert und strampelt nun bei
Leipzig-Kennern und sie lautet:
Wo hing dieses Tuch?
Nun, Leipzig-Kenner, raten Sie!
Sie meinen: Schleussig oder Plagwitz?
Bingo, Schleussig Holbeinstrasse.
War ja klar.
Kurze Erklärung für die Nicht-Leipzig-Kenner:
Gründerzeitviertel, ehemals alternativ, dann „in“, jetzt hochpreisig, eben ein
Viertel für Bio-Kekse und Malte-Torbens.
Na, Freiburger? Wo hinge bei Euch der Zettel? Ganz eindeutig
in der Wiehre.
Berliner?
Prenzlauer Berg, wo denn sonst?
(Eines der Highlights meiner Reise war ja dann auch der
(inzwischen dritte) Besuch des Prime-Time-Theater
im Wedding mit seiner Bühnensoap Gutes
Wedding – Schlechtes Wedding, bei der der Prenzlauer Berg, die
„Prenzelwixer“ sehr aufs Korn genommen werden.)
Und ihr, Basler?
In Basel ist das – zum grossen Glück – nicht so eindeutig.
Vielleicht im Schützenmattquartier oder im Neubad, aber man kann das nicht so
klar sagen. Und das ist gut so.
Vielleicht kann man es in einem kleinen Gedicht so auf den
Punkt bringen:
Wohl dem Quartiere, wohl der Stadt
Die keine Malte-Torbens hat
O wohl der Stadt, wohl dem Quartiere
Das nicht wie Schleussig oder Wiehre
Wo man auch mal Pommes schätzt
Und Schmusetücher halt ERSETZT.
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