Freitag, 23. Oktober 2015

Herbstreise I: Malte-Torben sucht sein Schmusetuch



Ich habe in den Herbstferien eine kleine Rundreise durch Deutschland gemacht, bei der ich alte Freunde besuchte, eine Fahrt, die in Leipzig begann und die in Berlin endete. Und ich lasse mich von den Eindrücken zu kleinen Texten anregen.

In Leipzig lese ich den folgenden an einer Platane hängenden Zettel:

Wer hat gestern, am 5.10.2015 ein rot-blaues Wolltuch gefunden?
Es handelt sich um das Schmusetuch meines Sohnes xxxx, ohne das er eigentlich keinen Schritt macht.
Bitte meldet euch unter schmusetuch-xxxx@gmx.de
Vielen Dank

Ich habe den Namen von xxxx vergessen, aber wir geben dem Bürschlein jetzt einfach mal den Namen Malte-Torben.
Malte-Torben hat schon tolle Eltern, sie nehmen seine Sorgen und Nöte nicht nur ernst, nein, sie handeln auch sofort, sie drucken Zettel und hängen sie auf und richten sogar für die Lösung der Schmusetuch-Katastrophe eine eigene E-Mail-Adresse ein. Denn es kann ja nicht sein, dass der arme kleine Fratz nun mehrere Tage in seinem Bettchen liegt und nicht mal aufs Klo kann, weil er ja – wie weiland Linus – ohne Tuch KEINEN SCHRITT macht.

Aber dann stossen uns doch kleine Fragen auf, sie blubbern die Kehle hoch und strampeln durch den Hals und wollen formuliert werden, gut, formulieren wir sie, die kleinen Biester:
Wie konnte das Tuch denn verloren gehen, wenn Malte-Torben KEINEN SCHRITT ohne das Ding unternimmt? Schlief er in seinem Bettchen und Papa hat das Schmusteil zum Joggen mitgenommen und dann verloren? Unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich, dass Mama es verschludert hat. Wahrscheinlich ist, dass es Malte-Torben aus der Hand gerutscht ist, als er etwas entdeckt hat, das im Moment wichtiger als das Tuch war, einen Vogel, eine Blume, ein Bio-Eis oder einen Müslikeks (Natürlich nimmt Malte-Torben nur Müslikekse und Bio-Eiscreme zu sich) und dass er dann das Tuch irgendwo vergessen hat, aber dazu muss er ja EIN PAAR SCHRITTE gelaufen sein, oder?

Eine andere Frage ist allerdings – und ich wage sie zu stellen, obwohl ich keine Kinder und damit in den Augen der meisten Malte-Torben-Mütter und Malte-Torben-Väter auch keinen blassen Schimmer von Erziehung habe – ob man die jungen Menschen nicht irgendwann auf das Thema „Verlust“ einstimmen sollte. Ganz nach dem Motto, das ich stets hörte: „Hättest du besser aufgepasst.“ Ich bekam zum Beispiel, wenn mir ein Softeis oder ein Stück Kuchen, eine Portion Pommes oder etwas ähnlich Ungesundes (meine Mutter gab mir so schreckliche Sachen, im Gegensatz zu Malte-Torben, der ja seine Müslikekse und seine Bio-Eiscreme hat und so Furchtbares nicht essen muss), also wenn mir das aus der Hand rutschte nicht einfach eine neue Ladung, obwohl wir es uns hätten leisten können. Genauso hätte ich sicher ein NEUES Schmusetuch bekommen, aber man hätte für das alte nicht die Welt auf den Kopf gestellt. Und wenn ich gesagt hätte, ich mache KEINEN SCHRITT ohne mein Tuch, dann wäre die lapidare Äusserung gekommen, dass ich dann halt bis ans Ende meiner Tage dort stehenbleiben könne, wo ich sei. Nein, ich finde, auch ein ganz Kleiner sollte mitbekommen, dass Dinge verloren gehen können und dass das Leben immer auch Verlust mit sich bringt.

Eine dritte Frage stösst, blubbert und strampelt nun bei Leipzig-Kennern und sie lautet:
Wo hing dieses Tuch?
Nun, Leipzig-Kenner, raten Sie!
Sie meinen: Schleussig oder Plagwitz?
Bingo, Schleussig Holbeinstrasse.
War ja klar.
Kurze Erklärung für die Nicht-Leipzig-Kenner: Gründerzeitviertel, ehemals alternativ, dann „in“, jetzt hochpreisig, eben ein Viertel für Bio-Kekse und Malte-Torbens.
Na, Freiburger? Wo hinge bei Euch der Zettel? Ganz eindeutig in der Wiehre.
Berliner?
Prenzlauer Berg, wo denn sonst?
(Eines der Highlights meiner Reise war ja dann auch der (inzwischen dritte) Besuch des Prime-Time-Theater im Wedding mit seiner Bühnensoap Gutes Wedding – Schlechtes Wedding, bei der der Prenzlauer Berg, die „Prenzelwixer“ sehr aufs Korn genommen werden.)

Und ihr, Basler?
In Basel ist das – zum grossen Glück – nicht so eindeutig. Vielleicht im Schützenmattquartier oder im Neubad, aber man kann das nicht so klar sagen. Und das ist gut so.

Vielleicht kann man es in einem kleinen Gedicht so auf den Punkt bringen:

Wohl dem Quartiere, wohl der Stadt
Die keine Malte-Torbens hat
O wohl der Stadt, wohl dem Quartiere
Das nicht wie Schleussig oder Wiehre
Wo man auch mal Pommes schätzt
Und Schmusetücher halt ERSETZT.

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