Freitag, 25. Oktober 2019

Eine Trennung löst nicht alle Probleme


Marissa hat Probleme. Marissa hat so viele Sorgen und Nöte, dass sie sich an einem Sonntag bei einer Tasse Kamillentee an den Küchentisch setzt und alles einmal aufschreibt:

Wohnung (der Streit mit der Nachbarin ist eskaliert)
Arbeit (der neue Chef gibt mir keine anspruchsvolle Arbeit mehr)
Gesundheit (hoher Blutdruck und Magenbeschwerden, psychosomatisch)
Beziehung zu Jochen (irgendwie ist die Luft raus und wir gehen uns nur noch auf die Nerven)

Jetzt sieht Marissa klarer und sie macht sich noch eine Tasse Kamillentee und ruft ihre Freundin Helga an, Helga ist Coach und kann Dinge auf den Punkt bringen. Helga hört sich die vier Punkte an und sagt dann klipp und klar: «Es ist völlig eindeutig, du musst bei Punkt 4 beginnen, trenn’ dich von dem Kerl, dann geht’s dir wieder gut und die Arbeit klappt und du wirst gesund, und das Wohnungsproblem hast du auch gelöst…»

Zwei Monate später wohnt Marissa wieder allein. Jochen und sie haben in Frieden ihre Beziehung beendet und sie ist ein paar Wochen später ausgezogen. In der neuen Wohnung hat sie keinerlei Probleme mit nervigen Nachbarn, sie hat keine nervigen Nachbarn, oder besser gesagt: Sie hat überhaupt keine. Da das Haus ausser ihrer winzigen Wohnung – natürlich hat Marissa sich verkleinert – nur aus Büros besteht, ist ab 17.00 und am Wochenende keiner da, ja, und das beunruhigt sie manchmal schon ein bisschen. Vor allem nachts heimkommen hat immer etwas Alptraumhaftes.

Auf der Arbeit läuft es auch nicht besser, sie bekommt immer noch das Drecksgeschäft wie Postversand, Kaffeekochen, Ablage und Akten sortieren. Und zwar nicht, weil der neue Chef ihr nur Postversand, Kaffeekochen, Ablage und Akten sortieren zutraut, sondern er gibt ihr Postversand, Kaffeekochen, Ablage und Akten sortieren, weil er sie einfach nicht mag. Er mochte sie nicht als Teil des Paares Jochen/Marissa, aber er mag sie auch als Single nicht, und ob sie morgens aus der (doch sehr schön gewesenen) Gründerzeitwohnung mit hohen Decken oder aus ihrem Bürohochhauskabuff kommt, ist ihm auch egal.

Und die Gesundheit? Marissa musste sich eingestehen, dass der hohe Blutdruck und die Magenschmerzen vielleicht doch auch mit ihren 2 Päckchen Zigaretten und einer sehr fetten und vitaminarmen Ernährung zusammenhängen und nicht nur psychosomatisch sind.
Und dann…
Und dann…
Und dann, wenn sie nach einem schrecklichen Arbeitstag in ihrer kleinen Wohnung sitzt und der Blutdruck steigt und der Magen schmerzt, dann hätte sie doch jetzt wieder gerne Jochen bei sich, den Jochen, der zwar kein Hengst im Bett war und kein Adonis, der manchmal ein wenig langweilig und ein wenig spiessig sein konnte, aber der immerhin eine Schulter hatte (hat?), an der frau sich herrlich ausweinen kann.

Aber Jochen hat nicht lange gefackelt und sich eine Neue gesucht, eine Neue, die bald auch in die 4-Zimmer-Jugenstilwohnung einziehen wird. Jochen ist passé.
Vielleicht war Helgas Rat doch nicht so gut gewesen….

Was lernen wir aus der Geschichte?
Manchmal wäre es doch gescheit, die Überlegungen über einen längeren Zeitraum zu machen als die Länge von zwei Tassen Kamillentee, und sich dann genau diese Fragen zu stellen:
Sind die Probleme unabhängig voneinander?
Gibt es Ursachen und Wirkungen?
Welches Problem verschwände, wenn ein anderes gelöst würde?
Was bliebe unverändert?
Gibt es EIN Grundsatzproblem?

Das sollten zum Beispiel nicht nur Männer und Frauen sondern auch alle Länder tun, die irgendwo wegwollen. Man könnte auch hier eine schöne Liste machen und käme zum Beispiel auf:
Arbeitslosigkeit
Wirtschaftsschwäche
Fehlende Infrastruktur
usw.
Und dann müsste man sich ehrlich fragen: Welche Dinge liegen wirklich daran, dass wir noch in der EU / bei England / in Spanien sind? Welche Probleme würden sich lösen, wenn wir nicht mehr in der EU / bei England / in Spanien sind? Welche Probleme blieben, obwohl wir nicht mehr in der EU / bei England / in Spanien sind?  Wollen wir nach klarer Analyse immer noch weg aus der EU / von England / von Spanien?
Separation ist kein Allheilmittel. Man kann sie einfach wollen, aber es werden nicht automatisch mehr Arbeitsplätze entstehen, es wird nicht sofort die Wirtschaft wachsen und Autobahnen aus dem Boden spriessen.
Abgesehen davon, dass zum Beispiel ein unabhängiges Schottland und ein unabhängiges Katalonien nicht automatisch in der EU wären.

Marissa hat übrigens beschlossen, zwei Tage Home-Office zu machen. Dies könnte ein paar Probleme lösen: Sie sähe ihren Chef nur noch Montag bis Mittwoch und sie könnte sich in den Büros rundum ein wenig umsehen. Dort hat es wunderbare Kaffeeautomaten, angeblich auch ein paar Jobs, und auf jeden Fall in der Agentur grad neben ihr einen Layouter mit einem Wahnsinnsbody und glühenden schwarzen Augen…


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