Marissa hat
Probleme. Marissa hat so viele Sorgen und Nöte, dass sie sich an einem Sonntag
bei einer Tasse Kamillentee an den Küchentisch setzt und alles einmal
aufschreibt:
Wohnung (der
Streit mit der Nachbarin ist eskaliert)
Arbeit (der
neue Chef gibt mir keine anspruchsvolle Arbeit mehr)
Gesundheit
(hoher Blutdruck und Magenbeschwerden, psychosomatisch)
Beziehung zu
Jochen (irgendwie ist die Luft raus und wir gehen uns nur noch auf die Nerven)
Jetzt sieht
Marissa klarer und sie macht sich noch eine Tasse Kamillentee und ruft ihre
Freundin Helga an, Helga ist Coach und kann Dinge auf den Punkt bringen. Helga
hört sich die vier Punkte an und sagt dann klipp und klar: «Es ist völlig
eindeutig, du musst bei Punkt 4 beginnen, trenn’ dich von dem Kerl, dann geht’s
dir wieder gut und die Arbeit klappt und du wirst gesund, und das
Wohnungsproblem hast du auch gelöst…»
Zwei Monate
später wohnt Marissa wieder allein. Jochen und sie haben in Frieden ihre
Beziehung beendet und sie ist ein paar Wochen später ausgezogen. In der neuen
Wohnung hat sie keinerlei Probleme mit nervigen Nachbarn, sie hat keine
nervigen Nachbarn, oder besser gesagt: Sie hat überhaupt keine. Da das Haus
ausser ihrer winzigen Wohnung – natürlich hat Marissa sich verkleinert – nur
aus Büros besteht, ist ab 17.00 und am Wochenende keiner da, ja, und das
beunruhigt sie manchmal schon ein bisschen. Vor allem nachts heimkommen hat
immer etwas Alptraumhaftes.
Auf der
Arbeit läuft es auch nicht besser, sie bekommt immer noch das Drecksgeschäft
wie Postversand, Kaffeekochen, Ablage und Akten sortieren. Und zwar nicht, weil
der neue Chef ihr nur Postversand, Kaffeekochen, Ablage und Akten sortieren
zutraut, sondern er gibt ihr Postversand, Kaffeekochen, Ablage und Akten
sortieren, weil er sie einfach nicht mag. Er mochte sie nicht als Teil des
Paares Jochen/Marissa, aber er mag sie auch als Single nicht, und ob sie
morgens aus der (doch sehr schön gewesenen) Gründerzeitwohnung mit hohen Decken
oder aus ihrem Bürohochhauskabuff kommt, ist ihm auch egal.
Und die
Gesundheit? Marissa musste sich eingestehen, dass der hohe Blutdruck und die
Magenschmerzen vielleicht doch auch mit ihren 2 Päckchen Zigaretten und einer
sehr fetten und vitaminarmen Ernährung zusammenhängen und nicht nur
psychosomatisch sind.
Und dann…
Und dann…
Und dann,
wenn sie nach einem schrecklichen Arbeitstag in ihrer kleinen Wohnung sitzt und
der Blutdruck steigt und der Magen schmerzt, dann hätte sie doch jetzt wieder
gerne Jochen bei sich, den Jochen, der zwar kein Hengst im Bett war und kein
Adonis, der manchmal ein wenig langweilig und ein wenig spiessig sein konnte,
aber der immerhin eine Schulter hatte (hat?), an der frau sich herrlich
ausweinen kann.
Aber Jochen
hat nicht lange gefackelt und sich eine Neue gesucht, eine Neue, die bald auch
in die 4-Zimmer-Jugenstilwohnung einziehen wird. Jochen ist passé.
Vielleicht
war Helgas Rat doch nicht so gut gewesen….
Was lernen
wir aus der Geschichte?
Manchmal
wäre es doch gescheit, die Überlegungen über einen längeren Zeitraum zu machen
als die Länge von zwei Tassen Kamillentee, und sich dann genau diese Fragen zu
stellen:
Sind die
Probleme unabhängig voneinander?
Gibt es
Ursachen und Wirkungen?
Welches
Problem verschwände, wenn ein anderes gelöst würde?
Was bliebe
unverändert?
Gibt es EIN
Grundsatzproblem?
Das sollten
zum Beispiel nicht nur Männer und Frauen sondern auch alle Länder tun, die
irgendwo wegwollen. Man könnte auch hier eine schöne Liste machen und käme zum
Beispiel auf:
Arbeitslosigkeit
Wirtschaftsschwäche
Fehlende
Infrastruktur
usw.
Und dann
müsste man sich ehrlich fragen: Welche Dinge liegen wirklich daran, dass wir
noch in der EU / bei England / in Spanien sind? Welche Probleme würden sich
lösen, wenn wir nicht mehr in der EU / bei England / in Spanien sind? Welche
Probleme blieben, obwohl wir nicht mehr in der EU / bei England / in Spanien
sind? Wollen wir nach klarer Analyse
immer noch weg aus der EU / von England / von Spanien?
Separation
ist kein Allheilmittel. Man kann sie einfach wollen, aber es werden nicht
automatisch mehr Arbeitsplätze entstehen, es wird nicht sofort die Wirtschaft
wachsen und Autobahnen aus dem Boden spriessen.
Abgesehen
davon, dass zum Beispiel ein unabhängiges Schottland und ein unabhängiges Katalonien nicht
automatisch in der EU wären.
Marissa hat
übrigens beschlossen, zwei Tage Home-Office zu machen. Dies könnte ein paar
Probleme lösen: Sie sähe ihren Chef nur noch Montag bis Mittwoch und sie könnte
sich in den Büros rundum ein wenig umsehen. Dort hat es wunderbare
Kaffeeautomaten, angeblich auch ein paar Jobs, und auf jeden Fall in der
Agentur grad neben ihr einen Layouter mit einem Wahnsinnsbody und glühenden
schwarzen Augen…
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