Der Ami mit
dem Texas-Hut sitzt offensichtlich im falschen Zug. Der ICE hat sich gerade von
Freiburg Richtung Offenburg (also Norden) in Bewegung gesetzt, als Jim (ich
nenne ihn nun einfach mal Jim, einfach so, weil es die Sache leichter macht)
einen Reiseführer ZÜRICH – LUZERN – THE
THREE ORIGINAL CANTONS / What you have to know, what you have to see, what you
have to eat zückt. Gut, denke ich, gut, das ist jetzt eindeutig die wrong
direction for you, Mr. Jim, das geht gar nicht, aber der Schaffner wird dir
schon sagen, wo es lang geht (im wahrsten Sinn des Wortes).
Der
Kondukteur erscheint und tatsächlich stellt Jim die Frage nach der «connection
to Zurich» - natürlich spricht er kein Deutsch. Der DBler erklärt nun dem Ami
mit dem Texas-Hut in für DB-Verhältnisse hervorragendem Englisch, dass er ca.
eine Stunde später als jetzt in Karlsruhe den IRE nach Stuttgart, dort in
Stuttgart dann den ICE via Rottweil, Singen und Schaffhausen nach Zürich HBF
bekäme. Jim nickt zufrieden und wendet sich wieder den ultimativen Tipps für
die innere Eidgenossenschaft zu.
Als ich ins
Restaurant gehe, treffe ich den Schaffner. «Sind Sie eigentlich noch ganz bei
Trost?», wäffele ich ihn an, «der Ami sitzt doch eindeutigst im falschen Zug,
er hätte in Offenburg raushüpfen und den ICE nach Basel nehmen müssen. Sie
schicken den durch ganz Baden-Württemberg! Der ist doch Stunden länger
unterwegs!» Horst (ich nenne ihn nun einfach mal Horst, einfach so, weil es die
Sache leichter macht) guckt mich mitleidig an:
«Sie
verstehen, glaube ich, zu wenig vom Reisen, zu wenig von der menschlichen Seele
und zu wenig von Amis, guter Mann.
Also,
erstens hat der Typ keine Ahnung von Europa und von den Dimensionen hier. Dem
fällt doch überhaupt nicht auf, in welche Richtung er zockelt und wie lange es
braucht. Für einen USAler ist ALLES, und ich meine ALLES bei uns «vor der
Haustüre». Glauben Sie, der merkt nur im Geringsten, was für einen Riesenumweg
er reist? Und ein Umweg ist es, da haben Sie recht.
Zweitens ist
die Strecke Stuttgart – Herrenberg – Horb – Rottweil – Tuttlingen – Singen –
Schaffhausen – Bülach eine der schönsten! Ein Bijou! Eine Perle! Ein
Schmuckstück und ein Juwel! Der kommt doch aus einem Land, wo alles nur
scheusslich ist – Kakteen, Sand, Felsen, Steine und dann noch einmal Kakteen
und noch einmal Kakteen und noch einmal Kakteen, und erst die Städte! Ein
Highway mit WAL-Markt und McDonald’s und drumherum nischt. Nein, der bekommt
doch einen Freudentaumel, wenn der durchs Neckartal und die Baar fährt, der
kriegt Orgasmen, wenn sich die Silhouetten von Horb oder Engen vor ihm auftun!»
«Aber das
Wichtigste, und das habe ich in meiner langjährigen Arbeit nun wirklich
gelernt», fährt Horst fort, «ist, dass man Reisenden eher einen Umweg zumuten
sollte, als sie zurückzuschicken. Ihr Hinweis für ihn würde ihn demütigen: Du
blöder Ami hast dich in den falschen Zug gesetzt, also kehr um, dreh um, steig
aus, gehe zurück an den Ausgangspunkt, gehe nicht über Los, ziehe nicht 4000.-
ein. Mein Rat hilft ihm, sein Gesicht zu wahren: Er sitzt nicht im falschen
Zug, er wird einfach einen etwas komplizierten Reiseweg gewählt haben.»
"ABER ER SITZT IM FALSCHEN ZUG!", schreie ich.
"Er sitzt nur solange im falschen Zug, solange wir diesen Zug als falsch titulieren."
Lange sitze
ich im Restaurant und denke über die weisen Worte des klugen (klugen?) Kondukteurs
nach.
Und komme
immer mehr drauf, dass er unrecht hat.
Ich stelle
mir vor, ich frage im Museum nach einem Bild von Caravaggio und werde vor einem
Canaletto stehend angetroffen. Ich hätte dann doch gerne, dass man mir reinen
Wein einschenkt. Reinen Wein einschenkt, und sich nicht sagt, dass der Herr a)
den Unterschied zwischen beiden Künstlern eh nicht bemerkt, b) der Canaletto eh
viel schöner ist (diese fotografischste Genauigkeit der Gondoliere!!!) und c)
der Herr zum Caravaggio zurücklaufen müsste.
Ich stelle
mir vor, ich habe im Restaurant ein «Wolfsbarschfilet an Limettennudeln auf
Zucchettischaum» bestellt und in der Küche wird ein «Doradenfilet an
Zitronennudeln auf Gurkenschaum» zubereitet. Ich hätte gerne, dass man mich
über den Irrtum informiert und mich fragt, ob ich auch die Dorade nehmen
könnte, und mir nicht einfach das Falsche bringt, meinend dass ich a) den
Unterschied eh nicht merke b) Dorade eh viel besser als Wolfsbarsch schmeckt
und c) 20 Minuten erneutes Ausharren für mich zu viel ist.
Nein.
Horst hätte Jim informieren müssen:
«You are in the wrong train. You should get out and go back. But: If you like
nice landscape and nice old cities, and if you have a little time, I have a
beautiful alternative for you.”
Oder wie es
Ingeborg Bachmann am 17.3.1959 bei der Entgegennahme des Hörspielpreises der
Kriegsblinden ausdrückte:
DIE WAHRHEIT
IST DEM MENSCHEN ZUMUTBAR.
Besser kann
man es nicht sagen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen