Dienstag, 17. Juli 2018

Jim aus USA sitzt im falschen Zug und fährt einen Umweg


Der Ami mit dem Texas-Hut sitzt offensichtlich im falschen Zug. Der ICE hat sich gerade von Freiburg Richtung Offenburg (also Norden) in Bewegung gesetzt, als Jim (ich nenne ihn nun einfach mal Jim, einfach so, weil es die Sache leichter macht) einen Reiseführer ZÜRICH – LUZERN – THE THREE ORIGINAL CANTONS / What you have to know, what you have to see, what you have to eat zückt. Gut, denke ich, gut, das ist jetzt eindeutig die wrong direction for you, Mr. Jim, das geht gar nicht, aber der Schaffner wird dir schon sagen, wo es lang geht (im wahrsten Sinn des Wortes).

Der Kondukteur erscheint und tatsächlich stellt Jim die Frage nach der «connection to Zurich» - natürlich spricht er kein Deutsch. Der DBler erklärt nun dem Ami mit dem Texas-Hut in für DB-Verhältnisse hervorragendem Englisch, dass er ca. eine Stunde später als jetzt in Karlsruhe den IRE nach Stuttgart, dort in Stuttgart dann den ICE via Rottweil, Singen und Schaffhausen nach Zürich HBF bekäme. Jim nickt zufrieden und wendet sich wieder den ultimativen Tipps für die innere Eidgenossenschaft zu.

Als ich ins Restaurant gehe, treffe ich den Schaffner. «Sind Sie eigentlich noch ganz bei Trost?», wäffele ich ihn an, «der Ami sitzt doch eindeutigst im falschen Zug, er hätte in Offenburg raushüpfen und den ICE nach Basel nehmen müssen. Sie schicken den durch ganz Baden-Württemberg! Der ist doch Stunden länger unterwegs!» Horst (ich nenne ihn nun einfach mal Horst, einfach so, weil es die Sache leichter macht) guckt mich mitleidig an:
«Sie verstehen, glaube ich, zu wenig vom Reisen, zu wenig von der menschlichen Seele und zu wenig von Amis, guter Mann.
Also, erstens hat der Typ keine Ahnung von Europa und von den Dimensionen hier. Dem fällt doch überhaupt nicht auf, in welche Richtung er zockelt und wie lange es braucht. Für einen USAler ist ALLES, und ich meine ALLES bei uns «vor der Haustüre». Glauben Sie, der merkt nur im Geringsten, was für einen Riesenumweg er reist? Und ein Umweg ist es, da haben Sie recht. 
Zweitens ist die Strecke Stuttgart – Herrenberg – Horb – Rottweil – Tuttlingen – Singen – Schaffhausen – Bülach eine der schönsten! Ein Bijou! Eine Perle! Ein Schmuckstück und ein Juwel! Der kommt doch aus einem Land, wo alles nur scheusslich ist – Kakteen, Sand, Felsen, Steine und dann noch einmal Kakteen und noch einmal Kakteen und noch einmal Kakteen, und erst die Städte! Ein Highway mit WAL-Markt und McDonald’s und drumherum nischt. Nein, der bekommt doch einen Freudentaumel, wenn der durchs Neckartal und die Baar fährt, der kriegt Orgasmen, wenn sich die Silhouetten von Horb oder Engen vor ihm auftun!»

«Aber das Wichtigste, und das habe ich in meiner langjährigen Arbeit nun wirklich gelernt», fährt Horst fort, «ist, dass man Reisenden eher einen Umweg zumuten sollte, als sie zurückzuschicken. Ihr Hinweis für ihn würde ihn demütigen: Du blöder Ami hast dich in den falschen Zug gesetzt, also kehr um, dreh um, steig aus, gehe zurück an den Ausgangspunkt, gehe nicht über Los, ziehe nicht 4000.- ein. Mein Rat hilft ihm, sein Gesicht zu wahren: Er sitzt nicht im falschen Zug, er wird einfach einen etwas komplizierten Reiseweg gewählt haben.»
"ABER ER SITZT IM FALSCHEN ZUG!", schreie ich.
"Er sitzt nur solange im falschen Zug, solange wir diesen Zug als falsch titulieren."

Lange sitze ich im Restaurant und denke über die weisen Worte des klugen (klugen?) Kondukteurs nach.
Und komme immer mehr drauf, dass er unrecht hat.

Ich stelle mir vor, ich frage im Museum nach einem Bild von Caravaggio und werde vor einem Canaletto stehend angetroffen. Ich hätte dann doch gerne, dass man mir reinen Wein einschenkt. Reinen Wein einschenkt, und sich nicht sagt, dass der Herr a) den Unterschied zwischen beiden Künstlern eh nicht bemerkt, b) der Canaletto eh viel schöner ist (diese fotografischste Genauigkeit der Gondoliere!!!) und c) der Herr zum Caravaggio zurücklaufen müsste.
Ich stelle mir vor, ich habe im Restaurant ein «Wolfsbarschfilet an Limettennudeln auf Zucchettischaum» bestellt und in der Küche wird ein «Doradenfilet an Zitronennudeln auf Gurkenschaum» zubereitet. Ich hätte gerne, dass man mich über den Irrtum informiert und mich fragt, ob ich auch die Dorade nehmen könnte, und mir nicht einfach das Falsche bringt, meinend dass ich a) den Unterschied eh nicht merke b) Dorade eh viel besser als Wolfsbarsch schmeckt und c) 20 Minuten erneutes Ausharren für mich zu viel ist.

Nein.
Horst hätte Jim informieren müssen: «You are in the wrong train. You should get out and go back. But: If you like nice landscape and nice old cities, and if you have a little time, I have a beautiful alternative for you.”

Oder wie es Ingeborg Bachmann am 17.3.1959 bei der Entgegennahme des Hörspielpreises der Kriegsblinden ausdrückte:
DIE WAHRHEIT IST DEM MENSCHEN ZUMUTBAR.
Besser kann man es nicht sagen.



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