Dienstag, 22. Mai 2018

Postflut nach den Ferien: Wer braucht Kundenzeitschriften?


Zum Glück habe ich meine Nachbarin gebeten, während meines einwöchigen Triest-Aufenthaltes nicht nur meine Pflanzen zu giessen und meinen Kater zu füttern, sondern auch meinen Briefkasten zu leeren. Und Tippa ist eine zuverlässige Frau, als ich aus Venetia Giulia heimkehre, prangen Fici, Asparagi und Schefflerae in üppigstem Grün, Cicero streicht satt und zufrieden um meine Beine und auf meinem Esstisch stapelt sich ein Kubikmeter Post – man stelle sich vor, der Pöstler hätte versucht, die Menge in meinen Kasten zu quetschen, das arme Teil wäre schlicht und einfach gesprengt worden. Ich mache nun etwas, was ich immer schon einmal machen wollte, ich schmeisse den Kubikmeter Papier nicht einfach nach Durchsicht fort, sondern notiere, was sich da in der Woche angesammelt hat:
1 Bettelbrief «Rettung der Grünwale im Ostpazifik»
1 Bettelbrief «Rettung der Bergregion Dschulp – Romgnin – Fucaccia»
1 Bettelbrief «Rettung der Rotwale im Südatlantik»
1 Bettelbrief «Rettung der Martin Bilser-Fresken in der Kirche von Wurglingen»
1 Bettelbrief «Rettung der Kleinstschule in Saint Urtance sur le Rhone (VD)»
1 Bettelbrief «Rettung der Zugstrecke Zutikon (ZG) – Hupfikon (ZH)»
1 Traktat «Bist du glücklich?»
1 Traktat «Warum werden wir krank?»
1 Traktat «Die erstaunliche Geschichte des Jona – lerne vom Wal!»
1 Traktat «Bist du zufrieden?»
1 Traktat «Die 10 Gebote – heute noch gültig»
1 Abrechnung von meinem 3. Säule-Fonds vom 17. 5. 2018 über den Kauf einer Aktie (Humer AG)
1 Abrechnung von meinem 3. Säule-Fonds vom 18. 5. 2018 über den Kauf einer Aktie (Hirtz AG)
1 Abrechnung von meinem 3. Säule-Fonds vom 19. 5. 2018 über den Kauf einer Aktie (Holb AG)
1 Abrechnung von meinem 3. Säule-Fonds vom 20. 5. 2018 über den Kauf einer Aktie (WAL-Markt)
Eine Wahlwerbung der Postsinnlich-Freiamtlichen Partei (FPF)
Eine Wahlwerbung der Zivilstarken-Hypermotorischen Partei (ZHP)
Die Quartalszeitschrift STARKSTROM meines Energieanbieters
Die Quartalszeitschrift FREUDENQUELL meines Wasseranbieters
Die Quartalszeitschrift VERBUNDEN meines Telekommunikationsanbieters
Die Quartalszeitschrift FIT UND FRÖHLICH meiner Krankenkasse
Die Quartalszeitschrift TÖLPEL meiner Haftpflichtversicherung
Die Quartalszeitschrift WALLFAHRT der SBB (für GA-Inhaber)
Eine unanständige Urlaubspostkarte mit nackten Männern von J. und K.
Ein lieber Brief meiner Kusine
13 Rechnungen

Ich grüble eine Weile über die merkwürdige Häufung von Wal/WAL/Wahl-/Wall- nach, lege dann die Rechnungen auf den To-do-Stapel, den Brief auf den Erfreuliches-Stapel, ich hänge die unanständige Postkarte an meine Pinnwand (die Kerle sind wirklich knackig) und werfe den ganzen Rest weg,
Während des Wegwerfens allerdings beginne ich nachzudenken, warum sich in einer Woche, in sieben Tagen, in solch kurzer Zeit eine solche Menge an Papier ansammeln kann.
Ich habe Verständnis für die Bettelbriefe, wer sich zum Ziel gesetzt hat, für die Bergregion Dschulp – Romgnin – Fucaccia, für die Bilser-Malerei, für die Schule in Saint Urtance sur le Rhone, wer sich vorgenommen hat für den ÖV zwischen Zutikon und Hupfikon oder für die Rot-, Grün-, Gelb- und Blauwale zu sammeln, muss irgendwie an Geld kommen. Entweder man schreibt solche Briefe, in denen die Wichtigkeit von Fresken, Bergdörfern und vom Aussterben bedrohten Tierarten aufs Schillerndste geschildert wird, oder man setzt diese Haben-Sie-Einen-Moment-Zeit-Leute ein, die einem an Bahnhöfen und Markplätzen in den Weg hüpfen, genauso nervig.
Ich habe Verständnis für religiöse Traktate, wer absolut davon überzeugt ist, dass die Menschheit zum Glauben gebracht werden muss, dass eine Person die Johannes 3, 16 nicht akzeptiert, muss solche Schriften verteilen. Dass Johannes 3, 16 und andere Bibelstellen nicht komplett zitiert werden, man also in der Bibel nachschlagen müsste, der Bibel, die ein Ungläubiger ja sicher nicht griffbereit hat, gehört zu den grossen Merkwürdigkeiten solcher Traktätlein. (Johannes 3, 16 ist übrigens Also hat Gott die Welt geliebt…).
Meine Bank muss übrigens jeden Kauf schriftlich und einzeln anzeigen, das sagte mir eine Dame am Telefon, das stehe auch in den AGB, womit Sie bewies, dass – im Gegensatz zu mir – SIE ihre eigenen AGB gelesen hatte.

Wofür ich kein Verständnis habe, wofür ich keine Empathie aufbringe, was mich zur Weissglut und zum Wahnsinn treibt, sind die teilweise zentimeterdicken Zeitschriften von Versicherungen und Verkehrsunternehmen. STARKSTROM, FREUDENQUELL und VERBUNDEN, FIT&FRÖHLICH und TÖLPEL, und natürlich auch WALLFAHRT bringen mir weder Spass noch Unterhaltung, bringen mir keine Information und keinen Nutzen. Es gibt immer eine Titelgeschichte wie z.B. «Jetzt kommt der Sommer» (würde man ohne den Text nicht merken) oder «Singen macht Freude», auf den restlichen 2/3 der Seiten wird einem klargemacht, wie toll die Firma ist. Aber das weiss ich doch schon! Sonst wäre ich ja nicht Kunde. Warum muss man die eigene Klientel bewerben?
Mal ganz ehrlich:
Wer STARKSTROM, FREUDENQUELL und VERBUNDEN, FIT&FRÖHLICH, TÖLPEL, und WALLFAHRT liest, hat ein Problem, ein Einsamkeitsproblem, er oder sie ist so hobbylos, wie man nicht sein sollte.
Übrigens ist auch die Suizidrate bei Redakteurinnen und Redakteuren von Kundenzeitschriften relativ hoch – wer schreibt schon gerne permanent für den Müll?

Wenn mir also eine Bank oder Versicherung, einen Wasser- oder Stromanbieter wissen, der KEINE interne Zeitschrift herausgibt…
Ich wechsle sofort.

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