Zum Glück
habe ich meine Nachbarin gebeten, während meines einwöchigen
Triest-Aufenthaltes nicht nur meine Pflanzen zu giessen und meinen Kater zu
füttern, sondern auch meinen Briefkasten zu leeren. Und Tippa ist eine
zuverlässige Frau, als ich aus Venetia Giulia heimkehre, prangen Fici, Asparagi
und Schefflerae in üppigstem Grün, Cicero streicht satt und zufrieden um meine
Beine und auf meinem Esstisch stapelt sich ein Kubikmeter Post – man stelle
sich vor, der Pöstler hätte versucht, die Menge in meinen Kasten zu quetschen,
das arme Teil wäre schlicht und einfach gesprengt worden. Ich mache nun etwas,
was ich immer schon einmal machen wollte, ich schmeisse den Kubikmeter Papier
nicht einfach nach Durchsicht fort, sondern notiere, was sich da in der Woche
angesammelt hat:
1
Bettelbrief «Rettung der Grünwale im Ostpazifik»
1
Bettelbrief «Rettung der Bergregion Dschulp – Romgnin – Fucaccia»
1
Bettelbrief «Rettung der Rotwale im Südatlantik»
1
Bettelbrief «Rettung der Martin Bilser-Fresken in der Kirche von Wurglingen»
1
Bettelbrief «Rettung der Kleinstschule in Saint Urtance sur le Rhone (VD)»
1
Bettelbrief «Rettung der Zugstrecke Zutikon (ZG) – Hupfikon (ZH)»
1 Traktat
«Bist du glücklich?»
1 Traktat
«Warum werden wir krank?»
1 Traktat
«Die erstaunliche Geschichte des Jona – lerne vom Wal!»
1 Traktat
«Bist du zufrieden?»
1 Traktat
«Die 10 Gebote – heute noch gültig»
1 Abrechnung
von meinem 3. Säule-Fonds vom 17. 5. 2018 über den Kauf einer Aktie (Humer AG)
1 Abrechnung
von meinem 3. Säule-Fonds vom 18. 5. 2018 über den Kauf einer Aktie (Hirtz AG)
1 Abrechnung
von meinem 3. Säule-Fonds vom 19. 5. 2018 über den Kauf einer Aktie (Holb AG)
1 Abrechnung
von meinem 3. Säule-Fonds vom 20. 5. 2018 über den Kauf einer Aktie (WAL-Markt)
Eine
Wahlwerbung der Postsinnlich-Freiamtlichen Partei (FPF)
Eine
Wahlwerbung der Zivilstarken-Hypermotorischen Partei (ZHP)
Die
Quartalszeitschrift STARKSTROM meines Energieanbieters
Die
Quartalszeitschrift FREUDENQUELL meines Wasseranbieters
Die
Quartalszeitschrift VERBUNDEN meines Telekommunikationsanbieters
Die
Quartalszeitschrift FIT UND FRÖHLICH meiner Krankenkasse
Die
Quartalszeitschrift TÖLPEL meiner Haftpflichtversicherung
Die
Quartalszeitschrift WALLFAHRT der SBB (für GA-Inhaber)
Eine
unanständige Urlaubspostkarte mit nackten Männern von J. und K.
Ein lieber
Brief meiner Kusine
13
Rechnungen
Ich grüble
eine Weile über die merkwürdige Häufung von Wal/WAL/Wahl-/Wall- nach, lege dann
die Rechnungen auf den To-do-Stapel, den Brief auf den Erfreuliches-Stapel, ich
hänge die unanständige Postkarte an meine Pinnwand (die Kerle sind wirklich
knackig) und werfe den ganzen Rest weg,
Während des
Wegwerfens allerdings beginne ich nachzudenken, warum sich in einer Woche, in
sieben Tagen, in solch kurzer Zeit eine solche Menge an Papier ansammeln kann.
Ich habe
Verständnis für die Bettelbriefe, wer sich zum Ziel gesetzt hat, für die
Bergregion Dschulp – Romgnin – Fucaccia, für die Bilser-Malerei, für die Schule
in Saint Urtance sur le Rhone, wer sich vorgenommen hat für den ÖV zwischen
Zutikon und Hupfikon oder für die Rot-, Grün-, Gelb- und Blauwale zu sammeln,
muss irgendwie an Geld kommen. Entweder man schreibt solche Briefe, in denen
die Wichtigkeit von Fresken, Bergdörfern und vom Aussterben bedrohten Tierarten
aufs Schillerndste geschildert wird, oder man setzt diese
Haben-Sie-Einen-Moment-Zeit-Leute ein, die einem an Bahnhöfen und Markplätzen
in den Weg hüpfen, genauso nervig.
Ich habe
Verständnis für religiöse Traktate, wer absolut davon überzeugt ist, dass die
Menschheit zum Glauben gebracht werden muss, dass eine Person die Johannes 3,
16 nicht akzeptiert, muss solche Schriften verteilen. Dass Johannes 3, 16 und
andere Bibelstellen nicht komplett zitiert werden, man also in der Bibel
nachschlagen müsste, der Bibel, die ein Ungläubiger ja sicher nicht griffbereit
hat, gehört zu den grossen Merkwürdigkeiten solcher Traktätlein. (Johannes 3,
16 ist übrigens Also hat Gott die Welt
geliebt…).
Meine Bank
muss übrigens jeden Kauf schriftlich und einzeln anzeigen, das sagte mir eine
Dame am Telefon, das stehe auch in den AGB, womit Sie bewies, dass – im
Gegensatz zu mir – SIE ihre eigenen AGB gelesen hatte.
Wofür ich
kein Verständnis habe, wofür ich keine Empathie aufbringe, was mich zur
Weissglut und zum Wahnsinn treibt, sind die teilweise zentimeterdicken
Zeitschriften von Versicherungen und Verkehrsunternehmen. STARKSTROM,
FREUDENQUELL und VERBUNDEN, FIT&FRÖHLICH und TÖLPEL, und natürlich auch
WALLFAHRT bringen mir weder Spass noch Unterhaltung, bringen mir keine
Information und keinen Nutzen. Es gibt immer eine Titelgeschichte wie z.B. «Jetzt
kommt der Sommer» (würde man ohne den Text nicht merken) oder «Singen macht
Freude», auf den restlichen 2/3 der Seiten wird einem klargemacht, wie toll die
Firma ist. Aber das weiss ich doch schon! Sonst wäre ich ja nicht Kunde. Warum
muss man die eigene Klientel bewerben?
Mal ganz
ehrlich:
Wer
STARKSTROM, FREUDENQUELL und VERBUNDEN, FIT&FRÖHLICH, TÖLPEL, und WALLFAHRT
liest, hat ein Problem, ein Einsamkeitsproblem, er oder sie ist so hobbylos,
wie man nicht sein sollte.
Übrigens ist
auch die Suizidrate bei Redakteurinnen und Redakteuren von Kundenzeitschriften
relativ hoch – wer schreibt schon gerne permanent für den Müll?
Wenn mir
also eine Bank oder Versicherung, einen Wasser- oder Stromanbieter wissen, der
KEINE interne Zeitschrift herausgibt…
Ich wechsle
sofort.
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