Dienstag, 15. Mai 2018

Der Mensch ist ein Herdentier


Neulich hatte ich mit meinem Kumpel Brod ausgemacht, dass ich ihm eine Kiste mit Büchern vor meine Haustüre stelle; wir hatten einfach keinen Termin gefunden, an dem er sie hätte abholen können, auch eine Schlüsselübergabe oder eine Schlüsselhinterlegung hatte nicht funktioniert, und so stellte ich einen Karton mit diversen Werken vor mein Haus, alles Titel, die ich doppelt hatte, darunter einiges von Bloch, Adorno und Habermas, von Grass, Muschg und Genazino. Natürlich hätte jedermann und jedefrau die Bücher mitnehmen können, aber ich wohne in Kleinbasel und die Wahrscheinlichkeit, dass meine Nachbarn Achmed, Mehmet, Sergej und Pjotr Werke von Bloch, Adorno und Habermas, von Grass, Muschg und Genazino lesen, war doch relativ gering. (Das ist jetzt nicht ausländerfeindlich, ich bin auch nicht in der Lage, arabische Soziologen, russische Philosophen oder polnische Romanciers im Original zu lesen.)

Jedenfalls, die Kiste wurde deponiert und ich ging meiner Arbeit nach – oder war ich im Schwimmbad oder bei meinem Schatz?, na egal – als ich heimkam, stapelten sich in der ganzen Strasse Berge von Kartons, Pappe, Papier, Türme aus alten Zeitungen und gebrauchten Zeitschriften, überall quoll das papierne Material die Bürgersteige entlang und duckten sich die Dokumentenbündel in die Hauseingänge. War wirklich heute Papiersammlung? Das konnte nicht sein. Die Stadtreinigung hatte schliesslich erst vor einer Woche Papier, Pappe, Kartons, hatte Zeitungen und Zeitschriften, hatte Dokumente und Ordner in ihre grossen Fahrzeuge geworfen. Nein, es musste das Folgende passiert sein:
Ich hatte den Philosophie-Belletristik-Karton vor meine Haustüre gestellt.
Ein Nachbar hatte ihn gesehen.
Er hatte NICHT nachgedacht, er hatte NICHT in den von der Stadt in jeden Haushalt geschickten Basler Abfallkalender 2018 geblickt, er hatte einfach angenommen, dass Abfuhr ist und sein Nachbar das wahrscheinlich besser wüsste als er selber, und dann hatte er zwei Zeitschriftenbündel vor seine Türe gelegt.
Der nächste Nachbar hatte nun den Philosophie-Belletristik-Karton und die beiden Bündel angeblickt und NICHT nachgedacht und NICHT in dem von der Stadt in jeden Haushalt geschickten Basler Abfallkalender 2018 nachgesehen…
und so weiter
und so weiter
und so weiter
Ich war nun eigentlich Schuld an der ganzen Misere, allerdings war ich ohne Schuld schuldig, und man würde mir auch nichts nachweisen können, denn meine Haustüre war ja die einzige, vor der sich kein papiernes Material stapelte, vor dem keine Zeitschriften quollen, vor der sich keinen Kartons und Pappen in Hauseingänge duckten.

Warum ist der Mensch eigentlich so ein verdammtes Herdentier?
Warum fällt es uns leichter, uns in eine Mailingliste einzutragen, wenn dort schon zwei Zeilen ausgefüllt sind, selbst wenn wir wissen, dass diese wahrscheinlich Fake sind?
Warum fällt es uns nicht so schwer, einem Strassenmusiker ein Geldstück in den Hut zu werfen, wenn da schon Münzen liegen, selbst wenn uns klar ist, dass der Bustler die dort selber platziert hat?
Warum schauen wir zu einem Fenster an einem Haus hinauf, wenn Leute auf der Strasse stehen und nach dort hochblicken?

Jetzt kommen Sie mir bitte nicht mit der Urmensch-Theorie!
Natürlich, für den Neandertaler war es äusserst hilfreich, sich als Herdenwesen zu fühlen, in der Gruppe war er sicher, behütet, aufgehoben, er war bewahrt und geschützt.
Aber:
Wir sind keine Urmenschen mehr.
Im Gegensatz zu den Fastnochaffen, die am Ende der letzten Eiszeit unsere Breiten bevölkerten, können Sie sich Ihre Nahrung alleine besorgen. Wirklich, wahrlich, glauben Sie mir: Das Hirschsteak im ALDI wird Sie nicht wie ein Mammut angreifen, Sie können ganz einfach hin und es nehmen.
Im Gegensatz zu den Wäldern der Urzeit sind unsere Strassen nicht wirklich gefährlich. Der letzte Säbelzahntiger in Berlin-Mitte wurde 1969 von dem 20jährigen Soziologiestudenten Jürgen Drusser gesichtet, aber der hatte vorher extrem viel geraucht.
Nein.
Die Urmensch-Theorie erklärt den Herdentrieb des Menschen nicht vollständig.

Tun wir also etwas gegen das Herdenverhalten.
Machen wir irgendetwas, obwohl es niemand macht, oder tun wir etwas NICHT, obwohl es alle tun.

Als ich neulich an einem Mittwoch nachts heimkam, stand der Bürgersteig voll mit blauen Kehrrichtsäcken. Mist, dachte ich, Müll musst du auch noch runterbringen. Ich schnappte mir also die beiden vollen Säcke und warf sie auf das Trottoir.
Oben wieder angekommen, stellte ich fest, dass es Mittwoch war und die Abholung am Freitagmorgen stattfindet.

Wer im Glashaus sitzt…
    
   

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