Dienstag, 30. Januar 2018

Challenges



1998 wurde Thomas G. (damals 17 Jahre) von Verbrechern entführt. Er wurde drei Wochen in einem Keller gefangen gehalten und auf vielfältige Art und Weise gequält, ja diese Quälerei war das einzige Ziel der ganzen Geschichte, die Kidnapper forderten kein Lösegeld und liessen ihr Opfer nach 21 Tagen wieder frei, nachdem sie es erniedrigt, malträtiert und quasigefoltert hatten: Thomas musste stundenlang stocksteif stehen, er muss auf Befehl auf Tische hüpfen, die Verbrecher zwangen ihn, sich mit Kot zu bestreichen, oder auch mit Essen, das dann von Haustieren abgeschleckt wurde, Thomas musste sich Eiswasser auf den Kopf giessen und bei Minusgraden in den Boxershorts draussen herumlaufen, er musste Spinnen schlucken und Waschpulver essen. Bei aller Qual hatte der Teenager aber doch einen wachen Kopf behalten, er konnte wichtige Hinweise geben, die zur Ergreifung der Täter führten. Paul H. und Robert K. wurden zwei Monate nach der Entführung verhaftet und wegen Kidnapping, Freiheitsberaubung, sowie Körperverletzung in 15 Fällen angeklagt. Beide bekamen zehn Jahre Gefängnis ohne Bewährung (für meine eidgenössischen Leserinnen und Leser: unbedingt)

Zwanzig Jahre später blicken wir auf Marco M. (19 Jahre), dem Ähnliches widerfahren ist. Auch er stand stocksteif, auch er hüpfte auf Tische, Tiere leckten Pesto und Tomatensauce von ihm ab, er lief bei -12° im Slip durch den Wald und goss sich Eiswasser über den Kopf. Er schluckte Spinnen, Asseln und Raupen und vesperte sich durch seinen Putzschrank, Waschmittel, Spülmittel und Scheuermilch. Der grosse Unterschied liegt in der Ursache: Marco wurde nicht entführt, er wurde nicht gezwungen, Marco war nicht in der Hand von Kidnappern und nicht in einem Keller gefangen. Keiner wurde verhaftet, keiner angeklagt und niemand unbedingt (ohne Bewährung) verurteilt, denn…
Marco hat sich alle diese Folterungen selber zugefügt.
Er hat an dem teilgenommen, was als XY-Challenge durch die Lande geistert, er hat also mit sich selber den grössten Unsinn angestellt, sich dabei gefilmt oder filmen lassen und das ganze ins Internet gestellt.

Die Challenges also.
Manchmal nur blöd. Manchmal saublöd.
Manchmal nur gesundheitsgefährdend.
Manchmal richtig gefährlich.
Gut, auf den Tisch zu hüpfen hat noch niemand geschadet, man kann sich, wenn man sich dumm anstellt, eine Sehne reissen oder ein Band dehnen.
Und kaltes Wasser halten ja viele für extrem gesund, vor allem, wenn sie Jünger des Herrn Kneipp sind, die ja auf kaltes Wasser schwören. Hier bestünden Kontraindikationen nur bei schwer Herzkranken, aber das sind ja nicht alle.
Waschpulver zu essen – und das ist eine aktuelle Challenge – ist dagegen richtig dämlich. Warum steht denn Augenkontakt vermeiden / darf nicht in die Hände von Kindern gelangen auf den Packungen? Eben, weil das Zeug giftig ist. Und weil man es eben nicht essen sollte.

Challenge.
Eigentlich eine Herausforderung, eine Aufgabe, etwas Mutiges, Sportliches, etwas, auf das man hinterher stolz sein kann. Erstbesteigungen waren Challenges, lange Flüge und Erdumrundungen, aber auch eine neue Stelle, ein Job, eine Position oder ein Projekt.
Aber sicher nicht eine dämliche Aktion, die bestenfalls eben nur dämlich ist und im worst case einen kaputtmacht.   
Warum gibt es keine Intelligenz-Challenge?
Nach dem Motto «Ich sage etwas Kluges und stelle das ins Netz»? Nach der Devise «Ich habe einen sinnvollen Gedanken und stelle ihn online»? Warum rezitiert niemand ein Gedicht oder spricht einen Text?
Klar, warum.
Weil das für die meisten eine Challenge wäre, die über ihre Möglichkeiten hinausginge, weil sie diese Aufgabe, diese Herausforderung, diese Hürde eben nicht meistern würden.

Paul H. und Robert K. mussten ihre Strafe komplett absitzen und benahmen sich den Rest ihres Lebens anständig.
Marco M. wird natürlich nicht bestraft, denn Dummheit ist nicht strafbar, Blödheit ist nicht strafbar und Selbstverstümmelung ist es auch nicht – es sei denn im Krieg.
Dennoch sollte die Ausdenkung (sic) von solchen Challenges unter Strafe gestellt werden. Wenn ich mir vorstelle, dass ein Schüler morgens in den Unterricht kommt und anfängt zu kotzen, weil er Putz- oder Waschmittel gegessen hat, bekomme ich die kalte Wut.  

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